Wald
Der Wald rauschte wie der Ozean. Die Bäume bewegten ihre Blätter in der warmen Brise, vor dem Hintergrund des strahlenden Himmels und der vorbeiziehenden Wolken. Es war ein Tag wilder Romantik, ein Gewitter kündigte sich vielleicht an. Die Flora war so grün und versprach die frische und reine Umarmung der Schönheit. Die Sonne schien warm und hell, aber brannte nicht. Romantische Landschaftsmaler wären vor Verzückung gestorben, Rimbaud sehr wahrscheinlich explodiert.
Zwischen duftenden Wildblumen und sich langsam schwärzenden Brombeeren stapfte ein junger Wandersmann dahin. Er war Germanistik-Student und unterschied sich von den meisten seiner Kommilitonen dadurch, dass er nicht Lehrer werden wollte. Er hatte sein Herz an Sagen und Mythen verloren und brachte gleichzeitig eine Begeisterung für die freie Natur mit. Sein Zimmer im Studentenwohnheim war so voller Pflanzen, dass man erwartete, darin das Gezirpe und Geschnatter von bunten Vögeln und Papageien zu hören. Der Student liebte das Zimmer. Er liebte auch die Parks der Stadt, die alten Bäume und die Weiher, auch wenn sie dort von Menschenhand einmal angepflanzt worden waren. Aber sie waren angepflanzt worden zu dem hehren Zweck, die Natur zurück zu denen zu bringen, die in der urbanen Tristesse leben mussten, das wusste der Student. Er war kein Mitglied irgendeiner Umweltschutzorganisation. Er war Mitglied von nichts. Er war ein Einsiedler, ein Mann, der im Einklang mit dem lebt, was nicht durch den Menschen geschaffen ist.
Der Student hatte Semesterferien und wollte diesen Wald erforschen. Nicht katalogisieren, nicht untersuchen. Er wollte zu dem Wald, er wollte den Wald spüren und erleben, umgeben von Bäumen, Blättern, von Tieren, von Schmetterlingen. Er wollte zurück zur Natur. Und zwar wirklich zurück zur Natur, ohne Birkenstock und Räucherstäbchen. Zurück zur Natur: Ihre raue Seite kennen lernen. Zurück zur Natur: Ihre Früchte essen. Zurück zur Natur: Ihre Stimme hören.
Unser Student war weder ein dogmatischer Greenpeace-Aktivist noch naiver New-Age-Jünger. Er hatte sich gründlich mit dem auseinandergesetzt, was allgemein als Heidentum bezeichnet wird. Es hatte ihm gefallen. Die Natur, weder das Maß aller Dinge noch unsere Vorratskammer. Unser Freund. Wir – ein Teil von ihr. Wir müssen es nur wieder herausfinden, wir haben es nur vergessen, in all der Vernunft, all der Aufklärung, die uns sagt, nur durch unsere Errungenschaften werden wir zu einem echten Menschen. Die Vernunft? Ein Werkzeug. Aber nicht das Maß aller Dinge!
Vielleicht begegnete er Ihnen. Das war natürlich quatsch, aber Sie waren die Essenz der Natur: Wild, frei, sich keiner Regel beugend, aber mit dem Empfinden für Schönheit und Freude an den einfachen Dingen, an den natürlichen Vorgängen. So viel konnte man von Ihnen lernen!
Der Student atmete tief durch. Die frische Luft. Die Bienen. Die Waldblumen. Die Stämme, alt und gewaltig, eine gutmütige Macht ewiger Geduld und Schönheit. Mit einem freudigen Glitzern in den Augen trat er in den Wald, den Blick erhoben, um die Schönheit und Wildheit der Bäume zu sehen, um ihre Botschaften zu lesen und zu erkennen. Der Wald nahm ihn auf, erkannte ihn als einen, der nicht nur das Holz wollte, als einen, der sich am Anblick einer verschlungenen Wurzel erfreute. Die Natur.
Der Wald lag still und schweigend. Die Bäume zeichneten sich schwarz vor der Schwärze der Nacht ab. Das Wetter war bedeckt, weshalb keine Sterne schienen. An einem Ort wie diesem hätten sie so hell gestrahlt, dass alles Schatten geworfen hätte.
Durch den Wald ging die Flucht. Unterholz und Dornenbüsche schlugen, Farnkraut stellte Stolperfallen, aber die Flucht ging weiter durch die Dunkelheit. Die Füße spürten nicht mehr die Unebenheiten des Bodens, über die man sonst nur vorsichtig hinweggetrippelt wäre. Ein Dorn? Der Instinkt! Es gab wichtigeres, zum Beispiel das eigene Leben. Kein Licht... das Wetter spielte Ihnen in die Hände. Sie konnten auch im Dunkeln gut sehen.
Sie waren hinter ihm, das wusste er. Er hatte Sie nicht gesehen oder gehört, aber er wusste, dass Sie hinter ihm waren. Bis zur Schlucht, lauf bis zur Schlucht... wer den Sprung schafft, ist frei. Das war der einzige Bonus, wenn Sie hinter ihm waren. Der einzige Unterschied zur Flucht vor wilden Tieren. Der Mensch, nackt und ohne irgend ein Hilfsmittel all seiner Errungenschaften, hatte doch noch etwas, an das er sich klammern konnte. Eine Vereinbarung, ein Zeichen von Intelligenz und Vernunft, ein Licht in der Dunkelheit der Instinkte. An diesem Ort, jenseits aller Rationalität, wo nur das Friss-oder-Stirb zählte, leuchtete diese Gewissheit wie ein Feuer, wie eine Sonne. Es verhieß Leben ohne Kampf.
Die Schlucht. Keine Zeit zum Anlauf nehmen. Ein weiter Sprung, die bangen tausend Jahre in der Luft, dann der Aufprall, allerdings nicht unten, sondern vorne, fieberhaftes Packen des nächstbesten Objektes, keine Zeit für das Brechen der Fingernägel. Schließlich hatte er es geschafft und lag keuchend auf dem Bauch.
Auf der anderen Seite der Schlucht rührte sich nichts. Stille lag über dem Wald und stauchte die wachsende Erleichterung wieder zusammen.
Wieso? Er war Ihnen entronnen. Er war zurück in der Welt der Menschen, hatte den Vorteil der Rationalität genutzt, den Sie, die Natürlichen, ihm gegeben hatten... Zurück in der Welt von Vernunft, Denken, Intelligenz, Schläue, Durchtriebenheit...
Die Erkenntnis kroch durch seine Glieder. Sie wurde begleitet von... nicht Angst. Er sah nach oben. Im Geäst bewegten sich Schatten. Große Augen funkelten. Für Angst war es zu spät.
Die Natur-