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Wand an Wand
Schon einige Jahre wohnte ich in der kleinen Seitenstraße, inmitten einer Reihenhäuserzeile. Inzwischen kannte ich meine diversen Nachbarn. Mehr oder weniger flüchtig.
Naht an Naht, nur durch eine nicht übermäßig schalldichte Wand getrennt, mit mir verbunden, lebte Frau Frowein - ohne “H” betonte sie gerne. Sie machte ihrem Namen, auch ohne “H” alle Ehre. Gutgelaunt und für ihr Alter - ging sie doch auf das achtzigste Lebensjahr zu - zart, klein, agil, immer in Bewegung, immer sichtbar leidenschaftlich im Garten beschäftigt, oder munter auf dem Fahrrad unterwegs.
Unsere gemeinsame Wand vermittelte mir den Eindruck, als beinhalte Frau Froweins Leben einiges an Erfahrung. Darunter auch die der Freuden und Erfüllungen in der Liebe, der Erotik, dem Sex. Sie schien auf keinen Fall eine Kostverächterin gewesen zu sein und auch das machte sie so offen und sympathisch.
Mit Frau Frowein kam ich häufig ins Gespräch und erfuhr, dass sie seit dem Tode ihres Mannes vor zehn Jahren, alleine lebt. Gerne allein, denn so sei sie Herr ihrer Entscheidungen. Allein … und doch nicht allein … wie immer man es ansah. Das schien ihr ein erhabener Grund.
„Denken Sie nicht, dass ich meinen Mann nicht geliebt hätte, oder, nach unseren gemeinsamen dreißig Jahren nicht mehr an ihm gehangen hätte. Oh, nein, er war ein guter Mann - aber wie Männer so sind, in manchen Dingen versuchte er mich zu bestimmen und das mochte ich nicht, verstehen Sie? Ich habe ihn drei Jahre gepflegt… und es war dann eine Gnade, als er starb - für ihn und … auch für mich.“
Ich konnte das nachfühlen. Musste schon eine heftige Aufgabe gewesen sein, solch eine Pflege und ich bewunderte die kleine, zarte und so hübsch gewachsene, so lebendige Frau Frowein. Ihr schneeweißes Haar steckte in einem lockeren Knoten hoch auf dem Hinterkopf und viele freche Löckchen kringelten sich über Stirn, Ohren und im Nacken. Von hinten sah sie aus wie ein weißhaariger Teenager.
Ich mochte sie von unserer ersten Begegnung an und war froh, sehr froh, dass Frau Frowein neben mir wohnte und nicht Frau Graumann.
Frau Graumann wohnte ein Haus weiter, also auch Naht an Naht, links neben Frau Frowein. Seltsam, dieses Mysterium mit Namen - Frau Graumann machte ihrem Namen ebenfalls alle Ehre. Sie war das Kontrastprogramm zu Frau Frowein in einem seltsamen, nachbarlichen Schauspiel, welches ich im Laufe der Jahre beobachten konnte.
Frau Froweins Gesichtsausdruck, wenn der Name Graumann fiel, sprach ganze Bände, ganze Buchreihen, ganze Regale. Sie äußerte sich nicht direkt, dazu war sie zu wohlerzogen, eine echte Dame, aber keinesfalls konservativ oder altersbedingt tugendhaft. Das alles war sie, weiß Gott, nicht. Sie ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass sie Frau Graumann nicht ausstehen konnte. Fertig.
Im Laufe der Jahre begann ich zu ahnen, warum. Frau Graumann, auch eine Dame um die siebzig, sah seltsam aus und benahm sich auch so. Sie war groß, mindestens 1.85 und schwer. Wobei schwer nur ihr überdimensionaler Busen wog. Der Rest kontrastierte zu diesem Busen durch extreme Dürre. Das ergab ein beinahe skurriles Bild. Die dürre Frau schleppte, leicht vornübergebeugt, eine schwere Last durch ihr Leben. Doch gewiss nicht nur diese Äußere. Da gab es zweifellos noch ganz andere, innere Lasten.
Das wäre Grund gewesen, sie ein wenig zu bedauern. Doch das kam einem bei Frau Graumann kaum in den Sinn. Dazu war sie zu … ja, was war das bei ihr? Ich fragte mich immer wieder, warum ich sie nicht leiden konnte. Es ging mir nicht anders, als Frau Frowein. Frau Graumann hatte etwas an sich, wodurch ich mich abgestoßen fühlte.
Mit großen, dunklen Augen, langen Wimpern, kleiner, gerader Nase und einem für ihr Alter immer noch vollen Mund, in einem etwas zu langgezogenen Gesicht, sah sie eigentlich recht gut aus. Aber - und das war es wohl - um diesen Mund lag, wann immer ich sie sah, ein beinahe lustvoll, zynisches, ja selbstherrliches Lächeln. Ein Lächeln, welches zu sagen schien „was seid Ihr alle für unwissende, armselige Geschöpfe.“ Weder ihre schönen Augen noch ihr voller Mund zeigten sich also wirklich schön und voll.
Frau Graumann wirkte, im Unterschied zu Frau Frowein, wie ein Mensch, dem jedwede Form der erotischen, ja sexuellen Lust als Delikt erscheint. Ein Mensch, der den Genuss gesunder, beglückender Sexualität weder kennt, noch akzeptiert und war insofern irgendwie nur … ein halber Mensch. Eine Frau, die man früher als alte Jungfer bezeichnet hätte, die jedoch restlos von der Richtigkeit ihrer Lebensmoral überzeugt war.
Ich mochte Frau Graumann nicht, - fertig. Weder sie noch ich suchten Kontakt zueinander. Und das war gut so.
Ich lebte übrigens auch alleine. Allerdings einige Jahre jünger als Frau Frowein und Frau Graumann, mit meinen acht Jahre alten Zwillingen Max und Anna. Allein, weil geschieden. Abgesehen von der Entscheidung zur Trennung, verhielt sich mein Mann…???… er war nicht mehr mein Mann, war auch nie mein Mann gewesen … mein … diese besitzergreifende Form lehnte und lehne ich ab … also mein Weggefährte zeigte sich eine lange Weile als fabelhafter Partner, ein wirklich unersetzbarer Weggefährte nach besten Wissen und Gewissen, der Vater unserer Kinder. Und ebenso lange ein hinreißender Liebhaber, bis die großen Gefühle abflauten und er doch mal bei anderen Damen anklopfte. Das jedoch war nicht allein der Grund für unsere Trennung, nein - unsere Interessen und Gedanken divergierten irgendwann leider unüberbrückbar. Wir erkannten es noch früh genug und gestanden es uns ehrlich ein. Dafür klopfe ich uns beiden immer wieder auf die Schulter. Er verhielt sich großzügig. Schon der Kinder wegen. Das Reihenhäuschen sollte eines Tages mir und besonders den Kindern gehören und die finanzielle Last der Abzahlung trug er. Nicht ohne zu klagen - aber er trug sie.
Ich verdiente unseren bescheidenen Lebensunterhalt durch Übersetzungen diverser Sachbücher aus dem Englischen. Das hatte den Vorteil, dass ich zuhause arbeiten und bei den Kindern sein konnte.
Anna und Max waren zwei Wildfänge und sehr von mir geliebt. Zu unserem und den umliegenden Häuschen gehörte je ein kleiner Hintergarten. Diese kleinen Gärten hinter jedem Haus, lagen zwar nicht Wand an Wand, aber Zaun an Zaun, durch Büsche und Bäume ein wenig vor den Augen jeweiliger Nachbarn geschützt.
Für Anna und Max bedeutete der Garten Abenteuerspielplatz. Immerhin standen da zwei riesige Tannen, mehrere breitausladende Büsche und ein kleines Holzhäuschen. Wahrscheinlich als Geräteschuppen gedacht, nun jedoch leer und Annas und Maxens ganzes Glück. In kürzester Zeit hatten Max und Anna es annektiert und daraus ein Wohnobjekt gestaltet. Mit Möbeln und allem an Spielzeug, welches sie darin benötigten. Etwa einen Tisch mit vier Stühlchen und Geschirr, so dass sie dort auch etwas essen konnten. Nichts machte ihnen mehr Spaß, als spielend im eigenen kleinen Haus zu sein.
Beide Kinder fanden spontan Sympathie zu Frau Frowein. Und Frau Frowein schien Max und Anna schon sehr bald ins Herz geschlossen zu haben. Von Frau Frowein lernten sie auch den Zauber der Pflanzen im Garten kennen. Mit dem Erfolg, dass Anna ein kleines Beet mit verschiedenen Blümchen unter dem Fenster des Holzhäuschens anlegte, es fürsorglich betreute und irgendwann höchst beglückt die ersten Blümchen wachsen sah.
Mit Frau Graumann war das völlig anders. Denn auch die Kinder verhielten sich eher reserviert ihr gegenüber. Dabei benahm sich diese eigenartige Frau den Kindern gegenüber weniger süffisant und überheblich. Das bedeutete jedoch nicht, dass es je zu mehr als einigen, flüchtigen Worten zwischen ihnen kam.
Es lief da etwas ganz Eigenartiges ab, kaum merkbar, aber nach einiger Zeit meinte ich doch es zu erkennen: Frau Frowein und Frau Graumann duellierten sich in einem - wenn auch stillen, unauffälligen - Kampf um Anna und Max. Den Frau Frowein eindeutig haushoch gewann.
Eines Tages hörte ich, während ich unter dem üblichen Termindruck an meinen PC an einer Übersetzung arbeitete, ungewohntes Hundegebell. Meinem Empfinden nach, handelte es sich eher um einen kleinen Hund. Nur - ich konnte nicht eruieren, woher das Bellen kam. Aus nächster Nachbarschaft jedenfalls.
Ein paar Tage später erfuhr ich, wem der Hund gehörte: Frau Graumann. Die Kinder berichteten es mir. Frau Graumann hatte sich einen kleinen Köter angeschafft. Als ich ihr dann mit dem Hund begegnete, sah ich ein sehr kleines, wurstförmiges, dackelähnliches Tier. Frau Graumann schien von seiner Unscheinbarkeit unbeeindruckt zum ersten Mal glücklich. Eine gar nicht mehr graue, sondern fröhlich bunte und gänzlich entspannte Frau Graumann stand mit ihm in ihrem Garten, obwohl der Winzling bellte, nein, kläffte, was das Zeug hielt. Das Tier war total in Fahrt. Frau Graumann hob es hoch und da klebte es, wie ein Kleinkind gehalten, ein wenig hilflos an ihrem riesigen Busen und ... kläffte weiter. Nun, vielleicht war der Kläffer Frau Graumanns nie erfüllter Wunsch nach einem Kind? Den Kleinen in ihren riesigen Busen einhüllend, verschwand sie im Haus.
Als ich die Kinder nach dem Hund befragte, meinte Max, „also, das ist ja eigentlich gar kein Hund … der ist doch viel zu klein, obwohl der gar kein Baby mehr ist.“ Anna reagierte etwas milder und meinte, der Hund sei ja eigentlich ganz süß, aber irgendwie komisch. Also kein Hund, der meine Kinder zum Spielen oder Spazierengehen animierte - so sah das aus. Auch wenn Frau Graumann - möglicherweise - an so etwas gedacht hatte. Wer kennt schon die Motivationen von Menschen.
Und dann - begann eine echt ungute Phase, denn dieser kleine Köter war ein Dauer-Kläffer. Er kläffte am Morgen, am Mittag und am Abend. Hell und alles durchdringend. Er kläffte im Garten und im Haus. Er verkläffte jede Person, jeden Hund, jede Katze, jeden Vogel. Er kläffte - andauernd ... ausdauernd. Und obwohl er ja recht klein war, hörte ich ihn. Auch durch die Wände. Nicht sehr laut, aber immerhin. Ich fragte mich, woher dieses kleine Tier so viel Atem nahm.
Wie musste es Frau Frowein gehen? Die ja direkt neben Frau Graumann wohnte?
Und so machte ich mich in einer geraubten, freien Stunde auf zu Frau Frowein. Mir öffnete die Tür ein völlig neuer, anderer Mensch: Frau Frowein sah überhaupt nicht mehr froh aus. Verbittert meinte sie „was soll ich tun? Kann man überhaupt etwas gegen bellende Hunde von Nachbarn tun? Es ist eine Katastrophe, wirklich. Ich fühle mich in meinen eigenen vier Wänden nicht mehr wohl. Können Sie das verstehen?“
Frau Frowein erklärte, sie würde in diesem Fall einen Schritt ganz gegen ihre Natur vornehmen und bei der Polizei nachfragen. Erst einmal anonym, nur um zu hören, ob überhaupt etwas dagegen zu tun sei.
Und nun zum ersten Mal, redete sie sich ihren Groll gegen Frau Graumann von der Seele.
Ich erfuhr, dass Frau Graumann einmal verheiratet war. Ihr Mann sie hatte sie jedoch verlassen. Es ging um Frauen. Um viele Frauen. Irgendwann kam es zu heftigen Reminiszenzen, weil Frau Graumann den Verdacht hegte, ihr Mann würde, unter anderen Damen, auch … mit ihr, also Frau Frowein anbandeln.
„Das hätte er wohl gerne – aber, Du meine Güte – der war nun absolut nicht mein Typ. Ein geschniegelter, von sich eingenommener Spießer mit Ambitionen. Genau die Sorte Mann, für den das Schwarze unter meinem Fingernagel zu schade gewesen wäre – verstehen Sie?“ Sie lächelte verschmitzt „Aber wie Sie vielleicht wissen, wenn einmal ein Verdacht wach geworden ist, dann hüpft er immer munterer herum. Erst als der Mann dann abgehauen ist – vielleicht nicht ganz ohne Grund – und ich immer noch hier blieb… nun, da musste sie wohl oder übel zurückstecken. Aber … sie kann mich nicht leiden und ich finde sie unmöglich – so ist das.“
So, jetzt wusste ich es. Aber … was den Hund betraf, kamen wir nicht weiter. Denn eins war klar, man konnte einem Nachbarn seinen Hund, auch einen dauernd bellenden, nicht verbieten. Man konnte verlangen, dass er nicht den ganzen Tag im Garten bellt. Aber im Haus … da hörten die Verbote auf. Und Frau Graumanns Hund bellte im Garten und im Haus. Manchmal eine Stunde ununterbrochen. Danach war die Stille eher beunruhigend, weil man immer auf das nächste Bellen wartete. Wie hielt Frau Graumann das nur aus? Beglückte dieser Hund an ihrer Seite sie in ihrer Einsamkeit so sehr, dass sein unentwegtes Bellen sie nicht störte?
Frau Frowein wurde ein Schatten ihrer selbst. Oft stand sie mit verdrossenem Gesicht an ihren Rosenbüschen. Ob der Hund nun bellte oder nicht.
Und dann kam der Tag, an dem der Hund nicht bellte und Frau Graumann suchend und laut rufend durch Haus und Garten lief.
„Pintschi …“ hörte man ihre verzweifelten Rufe: „Pintschilein … wo bist du?? Komm, bitte komm zu Frauchen…“ Sie kam sogar zu mir und fragte mich, mit Tränen in den großen Augen, ob ich ihr Pintschilein gesehen hätte. Ich konnte ihr nicht helfen, hatte den kleinen Beller nicht gesehen. Fast konnte sie einem leidtun.
Es folgten ein Tag und ein Abend ohne Hundegebell. Wie sehr Frau Frowein die Ruhe wohl genoss?
Am Nachmittag des nächsten Tages rief Frau Frowein mich an, klang endlich einmal wieder gut gelaunt und schlug vor, im Gartenhaus der Kinder doch ein gemeinsames Essen zu veranstalten. Das wäre doch sicher ein großer Spaß für die Kinder und auch für uns. Sie würde das Hauptgericht bereiten, denn zufällig hätte sie von alten Freunden Wild-Hasen-Keulen, also Hasenklein, geschenkt bekommen. „Absolut Bio und handgeschossen, aber für mich alleine viel zu viel“ sagte sie lachend.
Ja, und es wurde ein Festessen. Der kleine wackelige Tisch im Gartenhaus war liebevoll gedeckt. Und Frau Frowein brachte eine herrlich duftende Schüssel mit. Als ich fragte, ob sie etwas zu feiern hätte, meinte sie mit leuchtenden Augen, es gäbe immer etwas zu feiern und wenn es sich nur um einen unerwartet geschenkten Hasen handle.
Und dieser Hase, zart gebraten und wunderbar gewürzt, schmeckte vorzüglich, wenn auch für Wild recht milde. Wir genossen das Essen sehr.
Draußen vor dem Gartenhaus rief Frau Graumann nicht mehr, hatte dafür aber an ungezählte Bäume und Zäune vervielfältigte Zettelchen mit einem Foto und entsprechendem Text geheftet: Wer hat meinen Pintschi gesehen? Bitte melden Sie sich bei … Finderlohn wird gezahlt.
Fast schämt es mich zuzugeben, dass Frau Graumanns Leid uns gänzlich kalt ließ. In Angesicht des warmen geschenkten Hasenbratens genossen wir die Abwesenheit von Hundegebell. Zu sehr.
Soweit ich es mitbekam, blieb Pintschi verschwunden.