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Warum läuft Herr X Amok?

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24.04.2003
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Warum läuft Herr X Amok?

Von einem Meeting zum nächsten. Für Frühstück bleibt kaum Zeit.
Hastig verschlinge ich ein belegtes Brötchen aus der Kantine. In fünf Minuten kommen die Koreaner. Mögliche Neukunden.
In meinem Magen rumort es schon, seit ich heute Morgen aufgestanden bin. Stress und Nervosität vermischen sich zu einem übelriechenden Gas, das entschlossen ist, aus meinem Körper auszubrechen. Notfalls auch mit Gewalt.
Vorbeiziehende Schemen von Kollegen. Wie Schattenbilder, die nicht wirklich existieren. Es sind nur Geister, die der nächsthöheren Gehaltsstufe hinterherspuken; genau wie ich. Mein Herz schlägt schnell. Habe ich alle Vorbereitungen getroffen? Ist die Präsentation vollständig?
Verdammt viel los hier drin, und das schon zu so früher Stunde.
Ich muss auf die Toilette. Keine Zeit. Wie ein dämonisches Feuerwerk explodiert das unverdaute Brötchen in meinem Inneren.
Draußen halten ein paar BMWs. Ich sehe sie durch die Glastüren hindurch. Die Koreaner. Mein Magen.
Hochgewachsene, hagere Managertypen, die sich dem schnellen Vorlauf des uns abspielenden Videorekorders anpassen. Zurückspulen ist nicht drin, das Band rast mit irrwitziger Geschwindigkeit voran und an seinem Ende steht der Tod durch Herzversagen. Vielleicht steigt Gott bald auf DVD um und die Menschen brauchen nicht länger herumzueilen. Sie springen einfach von einem Kapitel zum anderen. Solange, bis der Abspann die Namen der drittklassigen Darsteller zeigt.
"Good morning. I hope you had a nice trip. My name is Sebastian Lührer."
Kurze Verbeugung. Händeschütteln. Freundlichstes Lächeln aufgesetzt.
Ich schwitze selbst am Rücken. Das sind die schlimmsten Blähungen, die ich jemals hatte. Es geht nicht länger. No way!
"Would you be so kind and excuse me for a moment? Please take a seat, I´ll be back in a second."
Meine Gedanken schicken ein ganzes Heer Stoßgebete gen Himmel. Hoffentlich ist niemand sonst auf der Toilette. Ich kann einfach nicht, wenn außer mir noch jemand im Raum ist.
Er ist leer. Wenigstens diesesmal scheine ich Glück zu haben. Ich lasse die Kabinentür zuschlagen und schaffe es mit Mühe und Not so gerade eben noch, die Hose runter-, sowie den Deckel hochzubekommen.
Plötzlich spielt Zeit keine Rolle mehr. Es mag dämlich klingen, aber die Brille einer Kloschüssel ist der letzte Ort, an (auf?) dem man noch für sich sein kann. Kaum zu glauben, wieviel da runterfällt. Begleitet von abstoßenden Fanfaren seile ich keinen einzelnen Neger, sondern halb Afrika ab. Direkt in die Kanalisation der dritten Welt zurück.
Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Ein Grinsen, das abrupt wieder verschwindet, als die Tür quietscht und Schritte erklingen.
Noch einer, der eine Auszeit benötigt, denke ich, während ich entnervt feststelle, dass der Verursacher der Schritte die Kabine neben mir in Anspruch nimmt. Mein Hoffen, er würde vor einem der Pinkelbecken innehalten, ist enttäuscht worden. Wie ich so oft enttäuscht werde.
Ich warte ab. An Abwischen ist nicht zu denken. Er verrichtet sein Geschäft höchst kultiviert. Nichtmals ein Furz entweicht ihm. Bei mir ist währenddessen alles verschmiert und eklig. Wenn ich jetzt aufstehe, ist er möglicherweise fast gleichzeitig mit mir fertig und wirft mir beim Hände waschen einen verstohlenen Blick zu. Dann weiss er, wer für den üblen Geruch hier drinnen zuständig ist. Die Firma ist mittelständig. Da wird eine Menge geklatscht. So etwas kann ich mir nicht leisten. Keine Lacher, kein hinter dem Rücken verborgenes Tuscheln.
Also vergehen die Sekunden, solange, bis sie zu Minuten werden. Dann höre ich es plötzlich. Ganz deutlich. Erst leise, schließlich lauter. Immer wieder der selbe Satz.
"Töten. Du wirst sie alle umbringen. Alle...alle! Da kommt keiner mehr lebend raus." - Ein Kichern unterbricht die düstere Wiederholungsschleife.
Mir wird ganz komisch. Heiss und kalt zugleich. Erneut läuft Schweiss meinen Rücken herab; viel intensiver noch als vorhin. Weiss der Kerl denn nicht, dass ich hier bin? Erst jetzt bemerke ich, dass ich im Eifer des Gefechtes vergessen habe, die Kabinentür zu verriegeln.
Großer Gott, der Kerl denkt, dass er allein ist!
Diese Stimme...sie kommt mir so bekannt vor, aber ich kann sie nicht einordnen.
Bloß leise sein, keine Geräusche machen.
Er fängt wieder von vorne an.
"Töten. Du wirst sie alle umbringen. Alle...alle! Da kommt keiner mehr lebend raus."
Soll ich etwas sagen, oder nicht? Nein, dass ist Unsinn. Möglicherweise gar die Unterschrift auf dem eigenen Todesurteil. Was sollte ich auch intelligentes von mir geben?
Hey Mann, wen willst du killen, mich vielleicht als erstes?
Bleib ganz cool und überstehe diesen Albtraum, sage ich mir.
Ehe ich weitere Überlegungen anstellen kann, betätigt mein Nachbar die Spülung und verlässt den Raum. Ohne sich die Hände zu waschen.

Die Gruppe der Koreaner hat sich in zwei Lager gespalten. Die eine Hälfte döst auf den Sesseln, die inmitten des Eingangsbreiches stehen und die andere Hälfte begutachtet die ausgestellten Messetafeln des Unternehmens.
Es ist zwischenzeitlich wieder leerer geworden. Keine Geister mehr, bis auf den, der sich gerade eben in meiner Seele festgebrannt hat. Ob ich jemanden darauf ansprechen soll? Die Toilette liegt in einer Ecke neben dem Treppenhaus. Von hier aus lässt sich nicht beobachten, wer ein- und ausgeht, also werden die beiden Frauen am Empfang auch nichts gesehen haben. Das ist irgendwie zu bizarr, um wahr zu sein und doch weiss ich, was ich gehört habe. Die Stimme kam mir so vertraut vor. Wenn ich bloß wüsste...

Den Rest des Tages erlebe ich wie im Traum. Die Koreaner schweben mal hier, mal dort hin. Nie sind sie mehr als Gespenster. Ich glaube, wir bekommen den Auftrag. Die Präsentation verlief tadellos.
Tadellos, obwohl meine Gedanken ununterbrochen bei der mysteriösen Stimme sind. Draußen geht die Sonne unter. Sie verschwindet inmitten des abschließenden Gesprächs und hinterlässt einen rot gefärbten, weiten Horizont.
Ich müsste nocheinmal pinkeln gehen. Selbstverständlich drücke ich das meinen Besuchern gegenüber höflicher aus.
Die Toilette ist wieder leer.
Während sich meine Blase entleert, versuche ich den Kerl von vorhin zu verstehen. Die ganze Woche war ein regelrechtes Fiasko. Er hat mit Sicherheit kurz durchgedreht. Nichts besonders tragisches. Ich würde am liebsten auch manchmal Amok laufen; das geht jedem so, der eine Position innehält, die solche Verantwortung mit sich bringt.
Weshalb sollte ich ihn deshalb anschwärzen, selbst, wenn ich seine Stimme im Nachhinein wiedererkenne?
Ich lasse seinen Satz Revue passieren.
Töten. Du wirst sie alle umbringen. Alle...alle! Da kommt keiner mehr lebend raus

Rauchig, arrogant und nervös...wie meine eigene Stimme, jetzt, wo ich sie wieder höre.

Habe ich gerade laut gedacht?

 

Hallo Cerberus81

Gleich vorweg, ich fand es nicht einfach, eine Kritik zu einer Geschichte zu schreiben, die sich anfangs fast nur um die Verdauung des Protagonisten dreht ... ich wills trotzdem mal versuchen:

Spannend wird die Geschichte an dem Punkt, wo der Klo-Nachbar des Erzählers auftaucht, und die Pointe am Ende finde ich gelungen. Dieser Teil wird jedoch von dem ganzen Gequatsche über Blähungen überschattet – witzig zu Lesen vielleicht, nimmt aber dem Gesamtwerk meiner Meinung nach die Spannung.

Handwerklich fand ich die Geschichte solide – noch ein paar Anmerkungen:

Stress und Nervosität vermischen sich zu einem übelriechenden Gas, das entschlossen ist, aus meinem Körper auszubrechen.
rofl

Es mag dämlich klingen, aber die Brille einer Kloschüssel ist der letzte Ort, an (auf?) dem man noch für sich sein kann.
Ist das „(auf?)“ gewollt, oder bei der Überarbeitung übersehen worden?

Begleitet von abstoßenden Fanfaren seile ich keinen einzelnen Neger, sondern halb Afrika ab. Direkt in die Kanalisation der dritten Welt zurück.
Klarer Fall von Kill Your Darlings – ok, der Protagonist muss nicht politisch korrekt sein, aber „einen Neger abseilen“ ist glaub' ich im deutschen Sprachraum nicht wirklich verbreitet.

Die Firma ist mittelständig.
mittelständisch?

(Achja, und „Schweiß“, „heiß“, „weiß“ immer mit scharfem „ß“)

mfg

Bernhard

 

Nun zu dir, mein Freund! :D

Hi Cerberus!

Ich habs vorher geahnt, was auf mich zukommt, deshalb fand ich die Ausführungen zu Beginn nicht ermüdend, sondern im Gegenteil erheiternd und interessant. Ob sie zur Geschichte gehören, sei dahingestellt, manche sagen auch, Harald Schmidts Ausführungen am Beginn einer jeden Sendung hatten so gut wie nichts zu tun mit einem Late night talk.

Tatsächlich, richtig spannend wurde es, als der Nachbar zu quatschen begann. Der beste Zeitpunkt, die eigentliche Geschichte beginnen zu lassen. Habe mich auch drauf eingestellt, dass es jetzt losgeht, doch bums - da war die Story aus.
Der Schluss - das alte, leidige Thema. :D Mir gefällt er wieder gar nicht, wirkt aufgesetzt, gesucht. Ich hatte gehofft, dass der Prot die Reihen durchgeht und den Schuldigen sucht, hätte jede Menge Potenzial gehabt.

Solange, bis der Abspann die Namen der drittklassigen Darsteller zeigt

Bis zu dem Satz eine blendende Metapher, das mit dem Videorecorder. Doch dieser Satz hier ist überflüssig, klischeehaft und macht den Eindruck kaputt.

schaffe es mit Mühe und Not so gerade eben noch

Guck an, mit Mühe und Not - und dann noch gerade eben. :dozey:


Die Firma ist mittelständig

Bis dahin hast du es tunlichst vermieden, offenkundige Erklärungen abzugeben. Dies ist die erste und sie fällt auf und stört!

der eine Position innehält,

Du meinst sicher innehat.

Fazit: Wieder ein Pflasterstein auf der Straße zum Ruhm des Cerberus. Und ich kann sagen, ich bin dabei gewesen.

Viele Grüße von hier!

 

Schönen guten Tag, die Herren.

@slingshot

Ich weiss, die Verdauungszene ist etwas lang geraten. Ihr Sinn ist es, die Hektik zu widerspiegeln, die sowohl in der Firma, als auch im Prot. herrscht. Da dies für die Pointe wichtig ist (schließlich ist er selbst ja der potentielle Amokläufer), würde ich diesen Teil ungern kürzen.

Ist das „(auf?)“ gewollt, oder bei der Überarbeitung übersehen worden?

Es ist halbwegs gewollt, da ich mir in diesem Fall selbst nicht sicher bin. Schließlich ist eine Klobrille ja kein Ort, AN dem man ist. Andererseits ist eine Klobrille aber auch überhauot kein Ort. Im nachhinein betrachtet macht mir diese Satzkonstruktion ein wenig Sorgen.

Klarer Fall von Kill Your Darlings – ok, der Protagonist muss nicht politisch korrekt sein, aber „einen Neger abseilen“ ist glaub' ich im deutschen Sprachraum nicht wirklich verbreitet.

Mal ganz abgesehen davon, dass ich mit dieser Stelle schon gestern nicht wirklich zufrieden war, ist dieses "Sprichwort" eigentlich schon geläufig. Aber vielleicht treibe ich mich auch nur in den falschen Kreisen rum :D


@Hanniball

So so. Ein banaler Pflasterstein also? Meine Pfade sind aber aus Gold gemacht :D

Musst du mich des weiteren an Harald Schmidt erinnern? Dann wird mir immer bewusst, wie sehr ich seine Show vermisse.

Doch dieser Satz hier ist überflüssig, klischeehaft und macht den Eindruck kaputt.

Da stimme ich dir zu. Wird entfernt.

Guck an, mit Mühe und Not - und dann noch gerade eben.

lol - Okay, wird auch geändert.

Bis dahin hast du es tunlichst vermieden, offenkundige Erklärungen abzugeben. Dies ist die erste und sie fällt auf und stört!

Hmmm...diese Erklärung sollte das Getratsche und Geklatsche verständlich machen, denn in einer Firma, in der sich die Angestellten alle untereinander kennen, wird eben auch mehr gelästert.

Was den Schluss angeht, so hatte ich die Pointe diesesmal schon vorher eingeplant, sie ist mir also nicht erst eingefallen, als ich keine Lust mehr zum schreiben hatte *g* Allerdings hätte ich sie mit Sicherheit hinauszögern können, in dem der Prot. tatsächlich nach Verdächtigen sucht.
Okay, was meinen Stil angeht, so habe ich mir viele Ratschläge zu Herzen genommen und ich denke, mich in dieser Beziehung verbessert zu haben. Nur bei der Ausdauer haperts noch, aber das bekomme ich sicher auch noch in den Griff.


Vielen Dank fürs lesen und kommentieren.

Beste Grüße

Cerberus

 

Hallo Cerberus!

Ich weiss, die Verdauungszene ist etwas lang geraten. Ihr Sinn ist es, die Hektik zu widerspiegeln, die sowohl in der Firma, als auch im Prot. herrscht. Da dies für die Pointe wichtig ist (schließlich ist er selbst ja der potentielle Amokläufer), würde ich diesen Teil ungern kürzen.

Da war ich wohl etwas unklar: Ich fand den Teil nicht langatmig, einfach nur anders – so, als würde aus einer Satire mittendrin eine Horrorstory. Der spannende Teil ist spannend – nur hing da halt noch eine Satire vorne dran ... (zumindest empfand ich das beim Lesen so)

mfg

Bernhard

 

Ich finde übrigens nicht, dass sich die Wendungen "mit Mühe und Not" und "gerade eben" ausschließen - im Gegenteil, die bedeuten eigentlich das selbe.

Genau. Deshalb ist es unsinnig, sie in derselben Aussage zu verwenden.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo cerberus!

Ich bin neu hier. Dich kenne ich hingegen schon länger. Ich hab ein paar deiner Geschichten gelesen, jedoch unsichtbar sozusagen.

Da ich jetzt endlich registriert bin, nutze ich natürlich die Gelegenheit, mir deine neueste Story vorzunehmen.

Ich muss sagen: der Anfang hat mich voll überzeugt. Sehr schön geschrieben, einfach gut.
Negativ - sehr negativ - aufgefallen ist mir dann aber der Satz:
"Begleitet von abstoßenden Fanfaren seile ich keinen einzelnen Neger, sondern halb Afrika ab. Direkt in die Kanalisation der dritten Welt zurück."

Ich finde diese Formulierung einfach schrecklich, tut mir leid. Nicht weil sie p.i. ist, das wäre nicht weiter tragisch, sondern weil sie einfach nicht gut ist - in meinen Augen, wohlgemerkt, ein anderer mag sie prima finden.
Und dann ist die ganze Klo-Szene auch eher zu lang und zu ausführlich. Da hätte man gut den roten Stift ansetzten können.
Aber dann - ganz urplötzlich - wird es wieder interessant: als wir nämlich diesen Mörder in spe in der Nachbarkabine reden hören. Leider verschenkst du das Potential dann doch mit dieser sog. Schlusspointe, die meines Erachtens nach keine ist, sondern nur ein schneller und leichter Ausweg aus der ganzen Geschichte.

Du kannst schreiben, das ist unbestritten, du schaffst es immer wieder, eigene Prots zu erfinden, ich möchte sogar sagen, dass ich eine Geschichte von dir erkennen kann, wenn ich sie lese. Aber das mag auch daran liegen, dass viele deiner Geschichten gegen Ende den Weg des geringsten Widerstandes gehen. So wie diese hier.
Aber nichtsdestotrotz (das klingt jetzt Negativer als es sein soll): du hast einen guten Schreibstil. Wenn du noch an deinen Plots arbeitest, wirst du sehr gute Storys schreiben.

In diesem Sinne
c

 

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