Warum?
Warum?
© 2004 by shade
Geduckte Gestalten huschten durch die Nacht, zwischen Autowracks und Mülltonnen hindurch rückten sie immer weiter vor, hinein in die Seitengassen, dorthin wo es besonders dunkel war. Mit den Kevlarhelmen mit integrierten Kameras, Splitterschutzwesen und Knie und Ellenbogenschonern wirkten die Männer wie Außerirdische. Hightech-Ausrüstung war überall an ihre Körper geschnallt. Aber einer von ihnen hielt sich zurück, er war älter als alle anderen, bereits über fünfzig. Er war vorsichtig, frage sich, warum sie hier waren.
Was nützten die Ausrüstung schon? Die anderen hatten längst gelernt, daß in Teflon getauchte Patronen durch die Westen gingen. Und wer das nicht hatte, schoß auf Arme und Beine. Das konnte einen auch außer Gefecht setzen, aber man konnte noch um Hilfe schreien. Und wenn man rief und jemand kam, um einen zu retten, dann fing der sich auch eine Kugel. Scharfschützen wurden auf so etwas trainiert. Aber offiziell hieß das heutzutage alles Terrorist. Es war einfacher zu verkaufen – politisch gesehen. Aber die Kugeln konnten immer noch töten - wie in Vietnam.
Sergeant Major Mellock blieb wieder an einer Hausecke stehen und sondierte ruhig das Gelände. Er hatte immer noch sein M16, ein neueres Modell, aber es war eigentlich dieselbe Waffe. Vietnam war nicht anders gewesen, als dieses Gassengewirr mitten in der Wüste. Dort waren es Bäume, hier waren es Lehmziegelhäuser. Charly sprach eine andere Sprache, aber das war egal. Sergeant Major Mellock sollte nicht mit ihnen plauschen, er sollte sie eliminieren. Aber das war schwerer, als es sich anhörte. Er konnte einen Typen mit Handtuch auf dem Kopf von einem andern Typen mit Handtuch auf dem Kopf genauso wenig unterscheiden wie einen Vietnamesen von einen anderen. Zehn Mann hatte er dabei, den langen Raggoon am Maschinengewehr, Privat Henderson und acht Grünschnäbel, die ihn hinter vorgehaltener Hand nur ‚Big Daddy‘ nannten. Er wäre lieber mit seiner anderen Truppe aus erfahrenen Leuten losgezogen, aber die waren alle verletzt. Brankowitsch hatte es übel erwischt. Er war vor ein paar Tagen mit dem Jeep auf eine Panzermine gefahren.
Fuck, es erinnerte ihn alles an Vietnam, als er selbst einer dieser Grünschnäbel gewesen war. Häuser, Bäume, beides bot gute Deckung, er war wieder in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht konnte uns sollte im amerikanischen Sinne „gute“ Einwohner von „bösen“ Einwohnern unterscheiden. Damals hatte diese Verantwortung Sergeant Green übernommen, bis der von einem „guten“ Vietnamesen von hinten erschossen wurde. Hier und jetzt hatte Mellock das Kommando. Zwei Jahre noch, dann würde seine Dienstzeit auslaufen. Hätte der kleine Texaner mit den schlechten Manieren in Washington nicht diese zwei beschissenen Jahre mit seinem Krieg warten können? Nein, das hat er nicht gekonnt. Warum?
Mellock hatte keine Meinung dazu, zumindest keine offizielle. Er hatte Vietnam, Panama und diverse andere Einsätze auf der ganzen Welt überlebt und gelernt, daß man als Soldat keine Meinung haben durfte über das, was Politiker sich so ausdachten. Er führte Befehle aus.
Jetzt suchte er in einem Viertel mit seinen Leuten nach einem beleibten Iraker, der vor zwei Stunden ein Auto voller westlicher Reporter mit einer Bazooka hochgejagt hatte. Die irakischen Polizisten hatten ihn bis hier verfolgt, trauten sich aber nicht in die engen Gassen. Natürlich nicht, die waren ja auch nicht bescheuert.
Resigniert winkte Mellock seine Leute vorwärts. Zwei von den Neuen rückten links, zwei weitere rechts vor. Alle trugen Infrarotbrillen. Die Brillen waren für einen Beobachter gut, aber wenn man sie dauernd trug, dann bekam man so einen Tunnelblick. Nur Mellock trug keine. Er verließ sich mehr auf sein Gehör. Das hatte ihn schon so manches Mal gerettet.
„Pssst, Raggoon! Behalt die Dächer im Auge, das gefällt mir hier nicht!“ Raggoon nickte und übernahm die Dachkanten. Am Ende der Gasse kamen sie an einen kleinen Platz mit einem Brunnen in der Mitte. Man konnte kaum etwas sehen, weil über all Wäschleinen mit Sachen hingen. „He, Sergeant, was zum Teufel machen wir hier eigentlich?“, wollte Raggoon wissen. Mellock kannte die Frage, Raggoon stellte sie häufiger. Ab
Miles, einer der Grünschnäbel meldete sich zu Wort: „Wir befreien das Irakische Volk von der Diktatur!“
Der ältere GI lies sein MG ein wenig sinken und starrte den jungen Mann vor ihm an. „Was? Miles, wo hast Du denn den Müll her?“
„Das hat uns unser Lieutenant erzählt, als wir hierher geflogen sind!“
Raggoon schaubte leise, „Und wenn er Dir erzählt, daß hinter der nächsten Ecke rosa Schweinchen Tango tanzen, dann glaubst Du es wohl auch, Schisser? Wir sind hier, um uns die Ölvorräte zu sichern und jeder der was dagegen hat, wird aus dem Weg geräumt!“
„Dann paß bloß, daß wir nicht gleich bei Dir anfangen, Raggoon. Fresse halten und Vorrücken!“ Mellock mochte das Gerede während der Einsätze nicht, dann ist man nicht so aufmerksam.
Die jungen hatten überhaupt keinen Respekt mehr. Zuviel Erfolge durch den technischen Vorsprung machten sie glauben, sie seien unbesiegbar. Man konnte schnell den Eindruck gewinnen, daß sie wirklich unbesigbar waren. Tausend Tote, hatte die US Army zu verzeichnen. Scheiße, was sind schon tausend Tote, wenn man ein ganzes Land erobert. Nichts. Die Iraker haben 100 mal mehr Gräber schaufeln müssen und steckten nicht auf. Wie die Vietkong, die haben auch nicht aufgesteckt. Immer wieder war er früher mit seiner Truppe durch ein angeblich befriedeten Sektor gekommen, nur um von irgendwo unter Feuer genommen zu werden, oder in irgendeine dieser Fallen zu tappen. Gerade als Mellock die Erinnerung an Bambusspieße unter Blättern verdrängen wollte, kam von vorne ein Aufschrei „Halt! Stehenbleiben!“
Jemand lief weg. Schwere Stiefel folgten. „Barns, Gronik. Meldung!“ brüllte Mellock, aber die beiden waren schon an die Ecke vorgestürmt, an der der Flüchtende verschwunden war. Noch bevor sie um die Ecke biegen konnten, wußte Mellock, daß es eine Falle war, aber sein Rufen ging bereit in der Explosion einer Handgranate unter. „Raggoon, Miles, Ecke sichern! Coburn, funken sie nach Hilfe. Henderson, Linke Flanke sichern.“ Mellock riß sein Gewehr hoch, suchte die Dächer ab. Die Männer schwärmten aus. Von der Ecke war Gejammer zu hören. „Er hat mich erwischt, Scheiße! Mein Bauch, mein Bauch!“ Das war Barns, ein Junge aus Virginia, der erst vor drei Wochen direkt aus der Grundausbildung hierher versetzt worden war. Er hatte sich freiwillig gemeldet. Im Camp haben sie seinen neunzehnten Geburtstag gefeiert. So alt war auch Mellock gewesen, als er in Saigon das erste Mal an Land ging. Die Erinnerung brachte Bewegung in den alten Mann.
Er erreichte den Verwundeten, sicherte nach allen Seiten. Aber wie er erwartet hatte, war nirgends jemand zu sehen. Gronik lag einfach da, das Gesicht zu einem blutigen Haufen zerfetzt, für ihn würde jede Hilfe zu spät kommen.
Barns stöhnte. Er hielt sich die Hand an die Seite. Unter der Weste quoll Blut hervor. Einer der Splitter war durch den seitlichen Klettverschluß gedrungen und hatte ihm ein Loch in die Eingeweide gerissen. Übel, aber ihn werden sie im Feldlazarett wieder zusammenflicken können.
„Searg, helfen sie mir!“ „Unten bleiben, Junge, Rettungsteam kommt! SANI!“. Mit einem väterlichen Blick druckte er dem anderen die Hand fest auf die Wunde, damit er nicht soviel Blut verlor. Wieviele Verwundete hatte er bereits gesehen? Er wußte es nicht mehr - viele. Man stumpft mit der Zeit ab, hört auf zu zählen. Aber die Bilder sind alle da, überlagern sich. Er selbst wurde in Vietnam sechs mal verwundet. Zwei Tapferkeitsmedallien hingen bei ihm zu Hause über dem Kamin zusammen mit einem Haufen anderem Altmetall. Was war das alles in diesem Moment wert? Der Sanitäter des Trupps war endlich da und kniete sich neben den Verwundeten. Mellock wand sein Gesicht ab. Der Platz war so gut wie möglich gesichert. Henderson hatte eine Reihe der Wäschleinen heruntergerissen, um besseres Blickfeld zu bekommen. Plötzlich bemerkte er einen Schatten über sich. Es war nur ein Gefühl, ein Kribbeln in der Nackengegend, daß einem ganz langsam den Rücken herunter läuft. Ohne zu Zögern riß er seine Waffe hoch. Er blickte in die erschrockenen Augen eines Jungen, der von Neugier getrieben über das Dach geblickt hatte. „Shit!“ entfuhr es ihm. Doch sein Ruf hatte die anderen aufblicken lassen. Der Junge duckte sich weg, aber es war zu spät.
Nur Bruchteile einer Sekunde später hämmerte Raggoons MG los, weitere M16 fielen ein. Dicke Brocken wurden von den Lehmziegel abgesprengt, als das Dach von drei Seiten unter Beschuß genommen wurde. Ohrenbetäubend hallten die Schüsse in den Gassen wider. Henderson warf gleich zwei Handgranaten. Die Exlosionen brachten das von Kugeln durchsiebte Haus zum Einsturz. Eine Wolke aus Staub und Schmutz breitete sich aus. Der Sanitär fluchte und versuchte die Wunde, die er gerade freigelegt hatte so gut wie möglich abzudecken. „Feuer einstellen!“ Mellock rannte auf seine Leute zu, die ohne jemanden sehen zu können einfach weiterschossen. Er riß Raggoon das MG weg und schrie die anderen aus Leibeskräften an. Endlich hörten sie auf als die Magazine leer waren. „He, Searg, was soll ...“, rief Miles verwundert. Mellock schlug zu, noch bevor er den Satz beendet hatte. Der andere gin zu Boden. „Das war nur ein Junge, ein gottverdammter Junge.“
Hilfeschreie in arabisch von Frauen und Kindern waren zu hören. Aus dem Gewirr von Ziegeln, Balken, wo bis eben noch ein Haus gestanden hatte, kämpften sich ein paar Frauen und kreischende Kinder heraus und versuchten in die Gassen zu entkommen. Ein tiefes Wummern kündigte bereits die Ankunft der Helikopter des Rettungsteams an. Mellock ließ sie gehen. Mit Frauen und Kindern wußte er nichts anzufangen. Die Verwünschungen, er und seine Leute zugerufen bekamen, verstand er nicht.
Nur eine Minute später wurden die Leinen vom Wind der Rotorblätter weggeweht, erneut wirbelte Staub auf, als der Rettungshubschrauber auf dem kleinen Platz landete. Zwei Kampfhubschrauber kreisten währenddessen über dem Platz. Das Team ging mit an Bord und verschwand aus den Vororten von Bagdad, mit ihnen ein Sergeant Major Mellock, der sich immer noch fragte: Warum?