Wassermann
Ich hätte ihm dieses Lied gerne vorgesungen, aber er ist tot.
Und da oben, am Sternenhimmel sehe ich nichts, nichts, nichts außer leuchtenden Punkten, die gar nichts bedeuten.
Er hat mir natürlich alles erklärt, was es zu sehen gibt; den Großen Wagen und die Venus und den Rest der Bagage.
Den ganzen Tag den Kopf in den Büchern und des Nachts in den Sternen, das hat mich manchmal wahnsinnig gemacht.
„Was ist denn auch so besonders am Nachthimmel? Am Tag gibt es doch auch schöne Sachen, erst gestern, habe ich einen Regenbogen gesehen, der spannte sich vom einen Ende der Stadt, ganz bis zum anderen, du hast ihn verpasst!“
Aber wie oft bin nicht auch ich nachts auf den Balkon gegangen, selbst im Winter, als es kalt war und habe versucht mich zu erinnern?
„Das ist der Wassermann!“, habe ich dann gedacht „Er gießt Wasser aus einem Krug.“ Aber was heißt das? Warum war das letzte, das er in seinem Leben sah ausgerechnet dieses Sternbild?
Zum Weinen ziehe ich mir die Kapuze ins Gesicht, damit mir nicht einmal die Himmelskörper dabei zusehen können.
„Warum er und nicht du?!“ will ich dem Wassermann entgegenschreien, aber ich kann ihn gar nicht sehen, verliere mich in diesen Punkten, die sich mir mit seinem Tod entfremdet haben.
„Das ist ja alles Scheißdreck!“ brülle ich plötzlich „Scheißdreck, Scheißdreck!“
Und doch bin ich am nächsten Tag schon in der Uni, fleißig dabei alle möglichen Konstellationen auswendig zu lernen.
Ist er da oben?
Natürlich nicht, aber ich suche nach etwas, fange an zu fragen, zu zweifeln: „Ist das wirklich Wasser im Krug?“
Was könnte es auch sonst sein?
Nichts, Leere, Stille, Wein, Blut, Tod, was weiß ich, es ist bedeutungslos.
„Du musst die Punkte verbinden!“ Ein gutgemeinter Ratschlag?
Mit Stroh- und Origamisternen wäre er doch nie zufrieden gewesen und langsam werde ich zu ihm.
Seine Bücher schleppe ich umständlich mit mir herum, umständlich!
Ich kann diesen verdammten Wassermann nicht aus dem Kopf bekommen, bin noch immer wütend.
Ich habe mich verirrt, ich bin alleine, wo sind alle?
Ich kritzle die Konturen von Fremden auf ein Blatt Papier, ich besteige einen Berg um besser sehen zu können, ich schlafe nur erbärmliche 3 Stunden und lese, lese, lese, bis mir die Buchstaben durch die Nase, die Ohren und die Augen kriechen und sich am Himmel zu Sternen zusammensetzen.
Betrunken sieht der Himmel schöner aus, weicher, freundlicher.
Die Gesichter sind mir zugewandt, beobachten mich aufmerksam.
Ich bin eine Ameise, krabble auf diesem Planeten herum und suche immerzu.
Ich will doch nur verstehen, wissen warum, habe ich irgendetwas verpasst, ist mir irgendetwas entgangen?
Sie sind wohl schon meine Freunde, wollen aber trotzdem nichts verraten.
Manchmal lachen sie mir aufmunternd zu und sagen: „Sing, sing!“ und klatschen schon in Vorfreude, aber singen kann ich nicht, denn das Lied gehört ihm.
Ich versuche es mit allerlei Tricks, liege ganze Nächte da und versuche etwas auszuspionieren.
Vielleicht, in einem unbedachten Moment, könnte alles plötzlich ganz klar erscheinen.
Ein falsches Wort am falschen Ort und ich zur richtigen Zeit dabei?
Wissen sie, dass mir nicht zu trauen ist, dass ich es auf nichts geringeres als die Wahrheit abgesehen habe?
Auch mit dem Wassermann habe ich schon versucht zu verhandeln.
Er beantwortet alle Fragen mit einem lächelnden „Ich weiß nicht.“ und vielleicht weiß er wirklich von nichts.
Aber ich habe Zeit, hunderttausende von Jahren, und ich harre aus.
Verwendete Wörter:
31. gepostet von st.a.r:
* Regenbogen
* Tod
* Kapuze
* Sternenhimmel
* singen