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Wasserrüben brauchen Salz (Schnellschussduell)
Hier zum Original: Makitas "Nacht im Pulverturm"
Sie war jetzt seit fünf Jahren die Frau des Spielemachers, doch davon hatte sie nichts als Wasserrüben. Wenigstens die Rüben gewannen über die Jahre an Schärfe: schmeckten sie zu Anfang noch fade, so trieben sie jetzt Tränen in ihre Augen.
Jeden Abend aßen sie weiße Wasserrüben und dunkles Brot. Falls ihn diese Eintönigkeit störte, so beklagte er sich zumindest nie darüber. Sie beobachtete ihn verstohlen durch einen Tränenschleier, wie er da im Flammenschein saß, die Ellenbogen auf dem Küchentisch. Sein goldener Schopf schimmerte im Kerzenlicht. Selten redete er, dann schimpfte er über die Leute aus dem Dorf und über seine Arbeit. Er redete bitter, aber nicht unbedingt mit ihr. Meist sprach er nicht mal in ihre Richtung.
„Pettka kommt morgen“, sagte er. „Ich will mein neues Spiel mit ihm ausprobieren. Er begreift es nicht, glaube ich. Die Regeln sind wahrscheinlich zu schwer. Jedenfalls kommt Pettka.“ Damit stand er auf und ging zu Bett. Sie saß noch eine Weile am Tisch, blinzelte die Tränen weg und dachte. Pettka, dachte sie, aha. Vielleicht ist noch von dem roten Bier da, das trinkt Pettka ja gerne, bevor er die Regeln nicht begreift und das Spiel verliert.
Früh am Morgen verließ der Spielemacher die Hütte und kletterte zu seinen Spielzeugen hinauf. Seine Werkstatt versteckte sich in einer Trauerweide weiter oben am Bach. Die Leiter in den Baumwipfel war die längste, die man in der Gegend je gesehen hatte. Die Frau des Spielemachers war noch niemals da hochgestiegen. Sie kniete meist in dem Rübenbeet hinter der Hütte und jätete Unkraut. Saftiges Gras bedeckte den ganzen Hang und überwucherte auch hellgrün ihr kleines Beet, in dem sonst fast nichts wachsen wollte. Nur die Wasserrüben, genährt von dem vorbeisprudelnden Bach, gediehen prächtig.
Am Nachmittag kamen die Kinder aus dem Dorf. Der Spielemacher stieg die Leiter hinab, neue Spielzeuge im Arm und frisch ausgedachte Rätsel im Kopf. „Hier hab ich sechs Zweige, genau gleich lang. Wer kann daraus vier gleiche Dreiecke bilden?“ Die Kinder untersuchten das neue Spielzeug. Sie hatten von ihren Eltern gelernt, dem Spielemacher nicht zuzuhören. „Was ist das?“, fragte er wieder. „Es läuft den ganzen Tag von hier zum Dorf und bleibt doch immer neben meinem Baum?“
Die Frau des Spielemachers lächelte, als sie zu dem gurgelnden Wasser hinübersah. Die Kinder tobten entlang der Uferböschung, spielten Verstecken und Fangen und versuchten, sich gegenseitig die beliebtesten Spielzeuge abzujagen. Gerade war es aus irgendeinem Grund ein hölzerner Kreisel. Ein kleiner Junge hatte ihn ergattert und wurde nun von einem Pulk größerer Kinder regelrecht niedergerannt. „Genug, das reicht jetzt!“, ging der Spielemacher lachend dazwischen. Abends war er traurig, weil sich niemand für seine Rätsel interessierte, aber mit den Kindern konnte er einfach nicht böse sein. „Ich werde jedem von euch einen Kreisel schnitzen, ja?“
Seine Frau beobachtete ihn heimlich. Sie begann eben wieder nach den Rüben zu graben, als sie die Stimme ihres Mannes hörte: „Was spricht nicht, denkt nicht, und ist doch ein Mensch?“ Ihr ganzer Körper wurde starr. In solchen Momenten hasste sie seine Stimme, hasste ihn. Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Mit einer eckigen Bewegung riss sie zwei Rüben aus der Erde, sprang auf und lief ins Haus.
Als er später zu ihr kam, schälte sie gerade die Rüben. „Du kannst ja nichts dafür“, sagte er. Der Hohn war wieder verschwunden, dennoch sprach er sie nicht an, sondern redete in den leeren Raum hinein. „Wenn deine Eltern nicht darauf bestanden hätten, hätte ich dich nie geheiratet. Sie müssen blind gewesen sein, ein Kind wie dich ausgerechnet mir altem Sack aufzudrängen.“ Er zuckte die Achseln. „Naja, jetzt ist das so. Damit muss ich leben. Das einzige Kind, mit dem ich nichts anfangen kann, ist meine Frau“, stellte er fest und schlug ihr auf die Schulter. „Schade.“
Das Rübenmesser glitt von dem Gemüse ab und schnitt ihr tief in die Hand. Blutstropfen färbten das weiße Fruchtfleisch der Rübe, aber der Spielemacher war schon wieder hinausgegangen.
„Nein, das geht nicht. Warum sollte dein Bauer meinen König schlagen? Ein Bauer kann niemals einen König schlagen, das weißt du doch.“ Pettka kratzte sich den Kopf.
Der Spielemacher stöhnte. „Es ist ein Spiel. Die Bauern zeigen keinen Respekt vor den höheren Figuren. Sie ziehen zwar nicht so mächtig, aber die Figuren sind alle gleichbedeutend. Du musst deinen König von diesem Feld in Sicherheit bringen, mein Bauer bedroht dieses Feld.“
Pettka stützte das Kinn in die Hand. „Wenn das unser König wüsste“, bemerkte er missmutig, aber er bewegte die königliche Holzfigur höflich zur Seite. Wenige Minuten später war das Spiel trotzdem vorbei. „Du verstehst den Witz dabei einfach nicht, oder?“, fragte der Spielemacher.
„Kann sein“, brummte Pettka, „zumindest hab ich noch keinen Gaul über Eck laufen sehen. Was soll das also?“ Er tippte sich an die Mütze, murmelte noch etwas vor sich hin und verschwand dann hinaus in die Nacht. Der Spielemacher blickte ihm nach. Seine Frau legte noch zwei Scheite Holz aufs Feuer, sie hätte gerne etwas gesagt. Sie hätte gerne gesagt, wie tröstlich sie es fand, dass die Figuren alle gleichermaßen wichtig sein sollten. Sie hätte gerne gesagt, dass ihr dieses Spiel vielleicht gefallen könnte. Der Spielemacher trat gegen den Tisch, so dass die Figuren auf dem Spielbrett wild durcheinanderflogen.
„Weißt du, vielleicht brauche ich einfach jemanden, der …“ Weiter kam er nicht. Er lehnte in der Küchentür und sah wütend aus. „Ach, egal.“ Schweigend stapfte er fort zu seiner Werkstatt.
Manchmal war er für Tage verschwunden, nicht in seine Werkstatt, sondern einfach irgendwohin. Obwohl sie sich Sorgen darüber machte, roch er nie nach anderen Frauen, wenn er zurückkam. Dabei wusste sie ganz genau, dass ihm die Frauen aus dem Dorf hinterherstarrten.
Tatsächlich folgte er nur den Fällern in den Wald, um Holz für seine Spielzeuge auszuwählen. Es traf sie wie ein Schlag, als Pettka schreiend gelaufen kam: Es hätte einen Unfall gegeben, eine Axt war ... Sie rannten den Weg ins Dorf hinunter, immer längs des Baches. Der Dorfeingang lag am anderen Ufer. Hier war der Bach so weit, dass sie eine Seilfähre benutzen mussten, um hinüberzugelangen. An dem Seil hangelnd, zog Pettka das Floß über schäumendes Wasser, während sie den Stoff ihres Rockes zerwühlte. Ihre Lippen waren ein blasser Strich, sie konnte nicht mehr denken, nicht noch mehr Angst haben.
Sie fanden den Spielemacher auf dem Marktplatz. Er lag auf dem Boden, eine Gruppe Leute stand schnatternd, aber ansonsten untätig um ihn herum. „… muss aus der Sonne raus … sollten ihn ins Gemeindehaus bringen …“
Sie sah auf ihren Mann hinab, der Arzt hatte den Stumpf schon verbunden, der einmal ein Arm gewesen war. Wahrscheinlich würde sich fortan keine Frau mehr nach dem Spielemacher umdrehen. Er wirkte schmal – war er schon immer so klein gewesen?
„Nein“, sagte sie plötzlich, ruhig und in einer Weise, die keinen Widerspruch duldete. Sie kniete neben ihm nieder und berührte das blonde Haar dort, wo es vom Blut verklebt war. „Er wird das vielleicht nicht überleben. Bringt ihn nach Hause. Wenn er sterben muss, dann bei uns.“
Seine Augen öffneten sich überrascht beim Klang ihrer Stimme, die er noch nie gehört hatte.
Die Holzfäller trugen den Spielemacher aus dem Dorf. „Könnt ihr ihn den Baum hochbekommen?“, fragte Pettka, als sie unter der Weide standen. „Er hat oft gesagt, dass er lieber in seiner Werkstatt sterben als hier unten leben würde.“ Die Fäller äugten misstrauisch zu der Leiter.
„Nein“, entschied die Frau des Spielemachers. „In seine Werkstatt schafft er es jetzt nicht mehr. Bringt ihn ins Haus.“
Die Holzfäller legten den Verwundeten vorsichtig auf sein Bett, nickten seiner Frau verlegen zu und verließen dann eilig die Hütte. Sie setzte sich zu ihrem Mann auf die Bettkante. Aus ihrer Rocktasche holte sie sechs Zweige, genau gleich lang. Geschickt steckte sie die Hölzchen zu einer kleinen dreieckigen Pyramide zusammen, die sie ihm hinhielt. Der Spielemacher sah seine Frau entgeistert an, dann verlor er das Bewusstsein.
„Ich hab mir gedacht, wir könnten zur Feier des Tages eins von deinen Spielen spielen - zusammen, meine ich.“ Sie winkte mit dem karierten Holzbrett, als sie in die Küche kam.
Es war das erste Mal, dass er wieder am Tisch sitzen konnte. Der Spielemacher blickte auf und lächelte schwach, als sie die Figuren aufstellte. „Du, die Regeln, die sind ein bisschen …“
„Schon gut“, unterbrach sie ihn fröhlich. „Ich war dabei, als du sie Pettka erklärt hast – jeden Tag. Ich hab sie mittlerweile begriffen.“
Sie spielten, sie gewann. Dreimal. „Wer immer die Felder in der Mitte des Spielfelds beherrscht, dominiert übrigens das Spiel. Vielleicht werd ich mich kurz ums Abendbrot kümmern“, erklärte sie beiläufig. Sie erhob sich, eine kleine Melodie summend, öffnete Küchenschränke und klapperte mit dem alten Geschirr. Er folgte ihr verblüfft mit den Augen. Zögernd lehnte er sich zurück. Sie strich Butter auf ein Stück Brot und reichte ihm einen Teller mit Rübenscheiben.
„Weißt du, die schmecken viel besser, wenn man etwas Salz drüberstreut“, sagte sie und zwinkerte ihm zu.