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Wegende
Sie stehen auf der Empore, ein Glas Sekt in der Hand, und beobachten schweigend. „Was soll ich sagen“, dreht sie sich schließlich ruhig zu ihm um, „er ist perfekt. Er ist fertig, und er ist perfekt.“
Ein erleichtertes Lächeln breitet sich langsam auf seinem geprägten Gesicht aus. Was wäre seine Perfektion, wenn sie verborgen bliebe vor ihr. „Ja, das ist er“, entgegnet er müde aber voller Stolz, und sieht ihr seit langer Zeit mal wieder in die aufgeweckten blauen Augen. Beide haben nie daran gezweifelt und sind doch überrascht. Sie hält ihm stand, sekundenlang, dem durchdringenden wissenden Blick eines alten Mannes, der nur wenig von den Anstrengungen der letzten Monate erkennen lässt. Alt und jung, Mann und Frau treffen sich wie gewohnt in ihrem Blick, der Energien fließen lässt und alle Grenzen verwischt, und obwohl so vertraut sind sie ergriffen ob der Intensität der Empfindung.
Wartend dreht sie sich wieder in Richtung Platz, lächelt innerlich und freut sich bereits auf das schon so vertraute und von ihr so gebrauchte Wort. „Danke“, sagt er mit erstaunlich fester Stimme, und sie weiß aus Erfahrung, dass er es so meint. „Danke, dass Sie da waren, immer“. Sie erschaudert. Ihre Worte finden wie stets nicht den Weg zu ihm und er erwartet sie längst nicht mehr.
Unten beginnt der offizielle Teil der Eröffnung des von ihm vollständig neu konzipierten und erschaffenen Platzes, in den sie beide soviel Herzblut gesteckt haben. Das „Meine sehr geehrten Damen und Herren“ des Narren im dunklen Anzug ist für sie nur Hintergrund. Sie haben Übung darin, ihn zu ignorieren. Das Gemurmel der hunderte Menschen, die gekommen sind, um das vollkommene Ergebnis zu bestaunen, sich aufzuplustern und zu beteuern, dass sie stets von der Genialität seiner Pläne überzeugt waren – nur Kulisse. Bei der Erinnerung daran, dass dieselben Wesen vor kurzem noch gekämpft haben gegen ihr gemeinsames Werk, wird ihr übel. Jeden Cent mussten sie dreimal umdrehen, um diese große Aufgabe zu bewältigen. Nicht die geringste Unterstützung, nicht der schwächste Rückenwind von all den Redenschwingern.
Sie wendet sich ihm erneut zu. „Sie haben es alle nicht verdient, hier zu sein“, sagt sie bitter, legt sämtliche Verletzungen der vergangenen Monate in ihre Worte und hofft, ihm einmal mehr aus der Seele zu sprechen. Es soll ein letztes Mal sein wie gewohnt: er erlebt tausendmal intensiver als sie, sie ist in der Lage die Emotionen zu gemeinsamen zu machen, in Worte zu fassen und damit erst real werden zu lassen. Aber erstaunt nimmt sie wahr, dass er nicht wütend ist, nicht mehr. Er scheint versöhnt, endlich angekommen, hat bereits seinen Frieden gemacht, den sie ihm so lange so sehr gewünscht hat.
Ruhig und behutsam berührt er ihren Rücken, keinen Druck sondern nur einen Hauch spürt sie, legt mit einer Sanftheit einen Arm um sie, die erst vorsichtig um Erlaubnis fragt und ihr auf angenehme Weise vertraut ist. Die Sonne bahnt sich zögerlich einen Weg durch den bisher wolkenverhangenen Himmel und speist den Platz aus ihrem Glanz. Nötig hätte er es nicht.
„Sie haben Recht. Das ist mein Werk, das sie alle nicht wollten aber jetzt bewundern. Sie haben hier nichts verloren“, murmelt er, als er sich wieder gefasst hat. In seiner Empfindsamkeit bemerkt er ihren kaum wahrnehmbaren Rückzug und kann ihn nicht deuten. Und sie begreift in diesem Moment aufs Neue, dass es für ihn immer seine Schöpfung bleiben wird und nie etwas Gemeinsames. Sie war diejenige, die ihm den Rücken freigehalten hat, ihn oft erst des Planens fähig gemacht hat, aber nicht mehr. Und der Zaun, den sie auf dem Platz bewusst vermieden haben, existiert dennoch zwischen ihnen, manchmal.
Verletzt lehnt sie sich an das kalte Geländer und hört nun doch auf die Worte des sich für wichtig haltenden Menschen. „...und so danke ich all denjenigen, die uns in den letzten Monaten auf diesem oft steinigen Weg begleitet und so wesentlich mit dazu beigetragen haben, dass wir die Ergebnisse unserer Mühen heute gemeinsam bewundern können. Lassen Sie mich hier nur unsere wichtigsten Unterstützer namentlich nennen…“. Die schon zur Normalität gewordene Enttäuschung und müde Wut über dieses profillose Wesen ohne Persönlichkeit, ihr gemeinsamer Widerpart in den letzten Monaten, bringt sie einander wieder näher. „Heuchler“ zischt sie verächtlich nach unten, aber in erster Linie für seine Ohren, stellvertretend für seine Kränkung, und wie zur Bestätigung findet sein während ihres Rückzugs zum Geländer verloren gegangener Arm wieder vorsichtig den Weg zu ihr. Sie riecht die frisch verlegten sandgelben Steine, die immer noch bedauern, dass sie nur aus Beton bestehen, bis oben.
„Und jetzt?“, traut sie sich nach einigen Minuten, in denen sie seine Nähe genoss und nur der aufgeblasene Schlipsträger und sein applaudierendes Publikum ihre unsichtbare Zweisamkeit störten, zu fragen und sieht ihn bekümmert, aber auch neugierig an. „Zur Ruhe kommen“, sagt er nachdenklich, lässt den Blick gedankenvoll über den Platz schweifen und dann auf ihr ruhen, seiner Muse. „Zur Ruhe kommen, und dann, ganz langsam: weitermachen. Nicht in der Intensität wie bisher, aber definitiv weitermachen“.
Sie nickt lächelnd bei der absurden Vorstellung, er könnte komplett Abschied nehmen von seinem Lebenselixier, seinem Schaffen. „Gut“, sagt sie, „das ist gut“, und die Frage, die ihr den Atem nimmt und sie quält, „Weitermachen ohne mich?“, schwebt unausgesprochen über den beiden und senkt sich langsam auf den Platz. Er und sie, sie und er, sie hängen zusammen, nebeneinander zum letzten Mal, jeder für sich demselben Gedanken nach: Wie würde es sein ohne einander? Wie lässt es sich leben ohne das große, gemeinsame Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt?
Sie führt das Sektglas ein letztes Mal zu ihrem Mund und leert ängstlich den schon abgestandenen restlichen Schluck. Mit jedem Tropfen, den sie auf ihrer Zunge schmeckt, scheint die Trennung unausweichlicher.
„Es wird etwas fehlen. Sie werden fehlen“, sagt sie unsicher, den Blick starr auf das hektische Treiben auf dem makellosen Platz gerichtet. Sie wagt nicht, ihn dabei anzusehen oder gar das gefühlte „mir“ mit auszusprechen. Er hört es dennoch. „Sie mir auch“, antwortet er deshalb aus voller Überzeugung, dreht ihren Kopf sachte zu sich und vollzieht die lange geplante Umarmung endlich, fest und sicher. Und sie wünscht sich nichts sehnlicher, als dass ihre Träne die nun fällt nicht versiegt auf seiner starken Schulter, sondern einsickert in den roten Boden des Platzes, wie als Beweis dafür, dass auch sie ihren Beitrag geleistet hat.
Zaghaft nimmt er ihre Hand. Sie steigen die Stufen vereint herab, ganz gemächlich. Auch der Himmel hat sich mittlerweile wieder zugezogen. Ihre Blicke nehmen dasselbe wahr: fremde Menschen, die nicht verstehen, nie verstehen werden. Ihre Hände lösen sich nur zögerlich voneinander, immer mehr von Stufe zu Stufe. Ihre Fingerspitzen spüren das Bedauern den Bruchteil einer Sekunde, bis sich ihre Wege endgültig trennen, sie aus der Unsichtbarkeit ins Rampenlicht treten, die Menge sie empfängt und mit Einsamkeit umschließt.