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Weltgeschichte

Beitritt
05.03.2013
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Weltgeschichte

Gott besah sich Himmel und Erde. Sie waren wüst, leer und finster. Verwesungsgeruch benebelte die Sinne. Von allen Seiten quälten ekelerregende Schmatz- und Blubbergeräusche seine Nerven. Schmerzhaft zog Trauer seine Brust zusammen: Das war das Ende seines Werkes! Die Menschen hatten die Schöpfung zerstört.
Der Geist Gottes schwebte über dem Dreckklumpen namens Erde und suchte Trost. Wo fand er ein Quäntchen Gutes in der Katastrophe?
»Es werde Licht!«, schrie er in das Dunkel. Seine rechte Hand fuhr hoch, um dem Befehl Nachdruck zu verleihen.
Nichts geschah.
Hoffnungsfroh war er damals ans Werk gegangen. Sein Leben werde erfüllt sein mit der Freude über die Menschen und die Welt.
»Es werde Licht!« Er wiederholte die Zaubergeste.
Schwarze Wolken waberten herbei und nahmen ihm beinahe vollends die Sicht.
Wie anders hatte die Geschichte begonnen! Das Chaos verwandelte sich in den Kosmos. Das Licht schuf Hoffnung. Gott sprühte damals vor Schaffenskraft.
Was hatte er nicht alles in fünf Tagen erschaffen. In Gedanken wandelte er nochmals durch den Garten Eden mit seinen Gewässern, Hügeln, Gebirgen, Tälern. Die Frösche, Fische, Quallen, die Gazellen, Elefanten, Löwen, die Adler, Schmetterlinge und Bienen: Wo waren sie jetzt?
»Die Harmonie der ersten Tage machte mich übermütig«, dachte Gott. »Hätte ich nur aufgehört! Der verfluchte sechste Tag.«
Falsch sind die Berichte, Gott habe am siebten Tag geruht. Nein, er verrichtete Schwerstarbeit: Er musste den sechsten Tag aufarbeiten und die Menschen zur Vernunft bringen!
Im Schweiße ihres Angesichts ließ er sie hart arbeiten, dann hatte er fast alle ertränkt, der Feuersturm über Sodom und Gomorrha sollte sie an bessere Sitten heranführen.
Es nützte nichts: Mit Mord und Totschlag fielen sie übereinander her.
Moses brachte ihnen die Gesetzestafeln, David spielte Harfe, Salomon übte Gerechtigkeit.
Es nützte nichts: Die Stärkeren rafften alles zusammen, was sie kriegen konnten.
Propheten ermahnten zur Tugendhaftigkeit, Sibyllen prophezeiten die Zukunft, Johannes taufte und predigte.
Es nützte nichts: Die Menschen befriedigten gierig jede Lust.
Da griff Gott zur letzten Waffe: seinen Sohn. Sein Vorbild hätte den Geist der Menschen reinigen und bessern sollen.
Es nützte nichts: Sie haben ihn verlacht, gefoltert, getötet.
Als er sein eigen Fleisch und Blut am Kreuz hängen sah, dachte sich der schwebende Geist: »Das war die letzte Chance, meine Schöpfung zu retten.«
Von diesem Augenblick an saß er starr in einem Sessel und sah, wie die
Gläubigen die Ungläubigen,
die Reichen die Armen,
die Weißen die Farbigen,
die Kommunisten die Kulaken,
die Nazis die Juden,
die Herren die Sklaven,
die Intelligenten die Dummen,
die Starken die Schwachen,
die Banker die Sparer,
die Ärzte die Kranken,
die Besitzenden die Besitzlosen
die Männer die Frauen
die Erwachsenen die Kinder
beraubten, schlugen, vergasten, folterten, versklavten, quälten, erhängten, köpften, vierteilten, bespuckten, beschissen, zerquetschten, betrogen, ausbeuteten, verlachten, verachteten …
Was interessierte Musik, Wissenschaft oder Kunst die Menschen? Waffen waren ihre Leidenschaft. Die brauchten sie für die Erfüllung ihrer Wünsche. Darin steckten sie ihre Erfindungskraft, in ihnen fanden sie ihre Seele.
»Gut«, dachte Gott, »ich habe ihnen Waffen zugestanden. Aber doch nur Schwerter, Pfeile, Speere, harmlose Geräte zu eigenem Schutz und zum Jagen der Nahrung! Ehrenwerte Waffen.«
Dann aber erfanden sie das Schießpulver. Muskete: Hey, wie das knallte und blitzte: Tot war der Feind!
Immer schneller kamen die Kugeln. Maschinengewehr: dadadadadad … Hey, wie das ratterte: Viele Feinde tot.
Das Gas waberte über Schützengräben. Hey, wie das quält: Noch mehr Feinde tot.
Die Bomben fielen vom Himmel: Flugzeuge: Hey, wie das spritzt: Der Tod vieler Feinde von oben.
Die Erde wird aufgegraben: Minen: Hey, wie das zerfetzt: der Tod der Feinde aus der Erde.
In hohem Bogen bringen sie die Botschaft: Raketen: Hey, wie die ausradieren: der Tod vieler Feinde aus der Ferne
Dann die Atombombe: hey, der Tod aller Feinde.
Gott schaute auf die atomisierte Welt und rekapitulierte die Situation der letzten Minute noch einmal.
Zuerst meinte Ostland, das Westland hätte es bedroht, und schickte eine Atomrakete zur Hauptstadt Westlands. Noch bevor die Atomrakete über der Hauptstadt von Westland explodierte, schickte Westland eine Atomrakete zur Hauptstadt von Ostland und zugleich eine Atomrakete zur zweitgrößten Stadt Ostlands. Weil aber Ostland mit Südland verbündet war und Südland sich von Westland bedroht fühlte, schickte es eine Atomrakete zur zweitgrößten Stadt von Westland, hatte aber die Route falsch berechnet, sodass die Rakete in Richtung der Hauptstadt von Nordland flog, das sich bedroht fühlte und, noch bevor irgendeine Atomrakete explodiert war, eine Atomrakete in Richtung der größten Stadt Südlands abschoss und zeitgleich eine in Richtung der drittgrößten Stadt Ostlands und sicherheitshalber noch zur viertgrößten Stadt, sodass sich zu diesem Zeitpunkt sieben Atomraketen in der Luft befanden, die aber noch durch weitere Raketen, welche die Länder aufeinander abfeuerten, ergänzt wurden, sodass in der Minute Null, noch bevor eine Atomrakete explodiert war, siebenhundertsiebenundsiebzig Atomraketen todbringend durch die Lüfte schwebten - eine Zahl, die sinnlos war, denn jede einzelne Atomrakete hatte die Gewalt, die gesamte Menschheit in sechzig Sekunden zu töten. ob sie über Feindesland oder über dem eigenen explodierte.
Hey, wie das krachte.
Sinnend packte Gott seine Habseligkeiten zusammen, schulterte seinen Rucksack und verließ den Drecksklumpen Erde. An anderer Stelle wollte er es noch einmal probieren.

 

Hallo Offshore,


Aber die Diskussion, die sich dann unter der Geschichte entwickelt hat, vorwiegend zwischen dir und @Achillus, also die hab ich mit wirklich großem Interesse und wachsender Begeisterung verfolgt. Einfach weil sie mir einmal mehr vor Augen führte, was Literatur im besten Fall tun kann, tun soll, tun muss: Position beziehen, kontrovers sein, zum Nachdenken anregen, den Leser, so wie hier eben Achillus, zu eindeutiger Stellungnahme zwingen.

Auch wenn ich mich da nur als Zaungast herumgetrieben habe, ein ganz großes Dankeschön euch beiden für eure stellenweise wirklich großartigen Beiträge.

Nun ja, die Weltgeschichte in wenigen Worten ist natürlich so problematisch wie eine in vielen Wörtern. Entweder steht sie ziemlich nackt da und der Leser differenziert in Richtung mehr oder er ersäuft im Buchstabentsunami und sehnt sich nach Schlankheit. Und der Mittelweg: Der hat beides und es fehlt ihm beides.
Aber die Wirksamkeit hast du doch festgestellt. Es freut mich, und achillus sicherlich auch, wenn unsere Mühen nicht umsonst waren. Eine Lösung zu finden, geht nicht.
Eine solche Diskussion endet einfach, ist aber nicht zu Ende.
Jedenfalls freut mich deine Rückmeldung sehr
Fröhlichst
Wilhelm

 

Liebe Novak,
schön, dass du dich eingefunden hast.

Ich schließ mich dem offshore mal an, lieber Wilhelm.
Als ich deine Geschichte las, gefiel mir natürlich auf jeden Fall die sprachliche Gestaltung, die Wiederholung des Hey ... (als Beispiel) mit der du die ignorante, verspielte Drauflosdreschstimmung der versauten Menschen dargestellt hast. Ja sprachlich mochte ich das, aber dass du sprachlich was auf dem Kasten hast und je nach Bedarf die Sprachebenen super wechseln kannst, das weißt du eh.
Trotzdem höre ich es gerne, denn nicht immer bin ich darüber so sicher.
Den Inhalt fand ich aber nicht besonders interessant oder die Sache neu beleuchtend, der war mir zu altlastig.
Altlastig ist ein schönes Wort, besonders wenn man in einem bestimmten Alter ist wie ich. Dass die Genesis nicht der neueste Schrei ist, muss ich zugestehen.
Dass der Mensch eine versaute Kreatur ist, steht mindestens in jedem zweiten Text und hat schon als ideologische Unterweisung für Heerscharen von Sozialkundeschülern herhalten müssen oder als Hintergrundideologie für Polizei und Recht und Ordnung. Weil der Mensch so ist, wie er ist, braucht es Staat und staatliche Gewalt und ihn eingrenzende Gesetze und Gott dankt eh ab. Ja klar.
Das sollte die Geschichte ja auch zeigen, dass auch bei uns, die wir viele Jahre keinen Krieg hatten, die Gefahr groß ist. Der Zauberberg ist ja eine Ansammlung von Neurosen, die in Stahlgewittern geheilt werden, und wenn dadurch, dass Tote sie nicht mehr pflegen können. Insofern zukunftslastig.
Mir fielen zu deiner Geschichte zwei, drei Sachen ein:
1. Immer sind solche Geschichten ein Widerspruch in sich. Sie operieren mit der Allmacht einer höheren Instanz. Aber besonders allmächtig scheint die Schaffenskraft der höheren Instanz nicht zu sein, wenn ihm so ein unfertiges Gerät entweicht wie der Mensch.
Das ist aber doch ein Fortschritt, wenn du dir einen Gott, der recht hat, vorstellst. Was Islamisten für ein Gottesbild haben, können wir uns kaum vorstellen.
2. Ich denke mir bei solchen Geschichten immer, dass sie nur funktionieren, weil man jeden gesellschaftlichen Zusammenhang tilgt. Weil man z. B. jeden Inhalt einer Konkurrenzgesellschaft rausschmeißt, die einander ausschließenden Gegensätze und die Wirkungen, die in einer solchen Gesellschaft existieren, gar nicht kennen und wissen und zeigen will. Und dann zeigt man nur die Wirkungen dieser Konkurrenzgesellschaft, das Verbrechen, das Gegeneinander, die Kriege, lässt aber alles, was diese Gegensätze kontrolliert und überhaupt nur eingerichtet ist wegen dieser Gegensätze, weg. Und schwups, schon ist es kein Wunder, dass der Mensch qua Natur ein verspielt böses aus lauter Lust an der Zerstörungagierendes Etwas sein soll.
Man denkt den Menschen an und für sich, abgelöst von der Umwelt, da mag er sein weder gut noch böse. Kommt ein Du hinzu, haben wir Kain und Abel. Und die gesellschaftlichen Wirkungen als Erklärungen klingt nach 68, altlastig?
Keine Erklärung genügt, das ist das Dilemma: Man kann Auschwitz nicht mit gesellschaftlichen Wirkungen noch mit individualpsychologischen Thesen verstehen. Wir bleiben auf der Nichterklärbarkeit sitzen. Das ist der Unterschied zwischen Wort und Wirklichkeit.
3. Und der Gott deiner Geschichte ist schon ein lustiger Vogel. Was wundert der sich denn, dass die Brut so missraten ist, hätte er mal besser ein Pädagogikseminar oder einen »Wie werd ich ein guter Vater-Ratgeber« gelesen. Der straft ja nur und von vornherein. Was soll denn dann aus der Rasselbande werden, wenn er sie gleich nur straft, maßregelt, rummordet, verbrennt und sonstwie verdrasselt?
Gott als Alexander Neill aus Summerhill? Wobei ich eine Geschichte erzählen will von Žižek: Ein Rabbi kommt zu Gott: Herr, was soll ich machen mit meinem Sohn? Er tut nicht gut. Antwort Gottes: Schreib ein neues Testament.
Eigentlich von dem her, hätt ich es inhaltlich schön gefunden, deine Geschichte hätte so geendet:
Sinnend packte Gott seine Habseligkeiten zusammen, schulterte seinen Rucksack und verließ den Drecksklumpen Erde. An anderer Stelle wollte er es noch einmal probieren. Aber dieses Mal wollte er sie nicht gleich mit dem göttlichen Rohstock vermöbeln. Oder: Aber dieses Mal mit ein bisschen mehr Zuneigung.
Also doch Summerhill?
Ursprünglich sollte er sich einfach im Gedünst des Weltuntergangs auflösen: Gottesdämmerung. Aber seine unerlöste Seele sollte nicht so leicht davonkommen.
Also ansonsten, Ich will mich da eigentlich eh überhaupt nicht einmischen,
Hast du gottseidank getan
Man kann, solange ein Text so allgemein bleibt, nur über den Inhalt hin und her streiten.
Das ist der Sinn solcher kurzer Beispielgeschichten von Fabeln angefangen bis zu Parabeln-

deshalb hatte ich dazu auch nichts geschrieben. Ich fand das sinnlos und für mich persönlich zu anstrengend.
Anstrengend, ja, ist es. Dies liegt daran, dass man die Kluft zwischen Text und Wirklichkeit überwinden möchte.
Aber jetzt wollte ich anbei einfach doch mal meine Gedanken sagen, der Hintergrund aber war der hier:
Eure Auseinandersetzung Wilhelm und Achillus, die fand ich ausgesprochen schön und spannend. Ich hab das ganz ganz gerne gelesen. Und muss das auch einfach mal loswerden. Chapeau euch beiden.
Nun sind wir doch in Diskussion gekommen. Aber schön für Achillus und mich, dass du uns ermutigt hast.
Fröhliche Zeiten
wünscht Wilhelm

 

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