- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Widerstand
P.s.: Vorab möchte ich bemerken, dass eventuelle Bezeichnungen gewisser Völkergruppen nicht beleidigend o. ä. sein sollen, sondern nur zur Story beitragen. Ich bitte um Verständnis.
Mit großen Augen starrte mich der Wolgadeutsche an. Er gehörte zu einer Gruppe, mit der wir uns letzte Woche angelegt hatten.
Robert hatte wieder seine Faschismuspredigt gehalten und sich über unsere "zu langen Haare" aufgeregt. Damit meinte er Nico und mich. Nico hatte mich dazu überredet die Haare einfach wachsen zu lassen. Eine Art innere Rebellion in unserer sogenannten "Nationalen Rebellengruppe". Er war immer wie ein Bruder zu mir gewesen und hatte stets versucht mich davon zu überzeugen, dass ich derjenige von uns beiden sei, dem es möglich wäre aus diesem Teufelskreis auszubrechen und die Jungs und ihre faschistoiden Ansichten hinter mir zu lassen. Aber ich für meinen Teil glaubte daran, dass ich selbst bereits die Grenze überschritten hatte aus dieser "Nazisekte" auszutreten.
Mit 13 lernte ich einen Kerl mit dem Spitznamen Finney kennen. Er war schon fast 20 und der Freund meiner Nachbarin. Gemeinsam mit meinen Freunden Nico und Micha ging ich öfters zu den beiden rüber und er erzählte uns von den Lügen, die die Medien und die Lehrer über Hitler und die Nationalsozialisten verbreiteten. Wir fanden das damals alles toll. Wir lebten in einem Neubaublock im tiefsten Osten; unsere Eltern darbten selbst am Existenzminimum dahin und konnten uns somit kaum eine gute Zukunft bieten. Später wurde uns dann auch klar, dass ein sicherer Job ebenfalls undenkbar war. Mit der Zeit stellte uns Finney einige andere Jugendliche vor, die sein Gedankengut teilten. Nach und nach bildete sich eine kleine verschworene Gemeinschaft, die sein Wort auf der Straße propagandierte; natürlich meistens unter Alkoholeinfluß. Als ich 16 war starb Finney bei einem Verkehrsunfall und wir waren uns alle einig, dass Robert nun die Führung der Gruppe übernehmen sollte. Robert war weder außerordentlich schlau, noch ging von ihm eine besondere Ausstrahlung aus, aber er war derjenige, der diese Art von Gesinnung in unserer Gruppe am meisten vertrat. Robert war ein Waisenkind und wurde jahrelang von Heim zu Heim geschickt, bevor ihn eine Familie aufnahm, in der der Vater soff und seine Frau sich mit schmutzigen Dienstleistungen bei den Nachbarn etwas Geld dazu verdiente. Er war also allein und diese Ideologien, die Finney einst so überzeugend predigen konnte, waren der einzige Strohhalm in seinem Leben, an den er sich klammern konnte.
Ungefähr zu dieser Zeit gingen auch die Straßenschlachten los. Unsere ersten Gegner waren ein paar Punks aus dem Stadtpark. Robert musste immer dort entlang, wenn er nach Hause ging und jedesmal wurde er von ihnen angepöbelt. Bei einem unsere freitäglichen Suffgelage hatte er gesagt: "Diesem Gesindel muss Einhalt geboten werden, sonst machen die sich in der Stadt breit und werden die Ehre der ehrlichen, deutschen Mitbürger beschmutzen." Viele von den Jungs hatten gejohlt. Ich selbst war aber so breit, dass ich von Glück sagen konnte, überhaupt noch aufrecht stehen zu können. Als wir als große Einheit in den Park einmarschierten, hatten die meisten Punks schon die Gefahr gewittert und waren in Richtung S-Bahn geflohen. Die anderen jagten wir quer durch den Park, bis wir sie zu fassen bekamen. Dann fing die Tragödie an: Jeweils zwei oder drei von uns bearbeiteten einen von ihnen, bis die meisten reglos am Boden lagen. Doch einer der Punks hatte ein Messer und zog es Micha quer über die Brust. Robert wurde auch verletzt, bevor er den Punk totschlug. Die Polizei hatte unsere Gruppe zwar in Verdacht, aber nachweisen konnten sie uns nichts. Die anderen Punks hatten sich ausgeschwiegen, so dass es nachher als eine Art Einzelkampf zwischen Micha und dem anderen Toten ausgelegt wurde. Als Michas Mutter mich zur Beerdigung einlud, hatte ich abgelehnt und zwar mit der Begründung, dass ich mich bei Beerdigungen regelmäßig übergeben würde. Die Wahrheit war, ich schämte mich. Ich schämte mich dafür, dass ich bei diesem Gemetzel überhaupt dabei gewesen war, ich schämte mich, dass ich volltrunken und vor Vergnügen glucksend daneben gestanden hatte, während Menschen halb ins Koma geprügelt wurden, ich schämte mich dafür, Micha nicht geholfen zu haben und am meisten schämte ich mich, dass ich Robert beinahe gebeten hätte, mir den Punk zu überlassen, damit ich ihn töten konnte. Wenn ich daran denke, beschleicht mich noch heute jedesmal diese langsam aufsteigende Übelkeit, die mir fast den Atem raubt.
Nach diesem Ereignis war erst etwas Ruhe in die Propagandamaschinerie unserer kleinen Verschwörergruppe eingezogen; nur um später noch härter und gnadenloser zuzuschlagen. Mit jedem Kampf auf der Straße, mit jeder kleinen Auseinandersetzung stumpfte ich immer weiter ab und spürte bald keine Hemmschwelle mehr. Unsere Ziele waren Punks, Zecken und Ausländer jeden Kalibers; außer die Albaner, die hatten Schusswaffen. Wenn man heute darüber nachdenkt, wird einem klar, wie feige wir waren. Uns schwebten zwar große Ideale vor, doch diese mit dem Leben zu verteidigen, war keiner von uns bereit.
Kurz nachdem ich 17 wurde hatte ich endlich eine Lehrstelle als Kfz-Mechaniker erhalten. Unser Meister war ein guter Mensch, gehörte aber auch zu den Sofanazis, wie ich sie nenne: Alte Männer, die zu Hause vor der Glotze sitzen, ein Bier nach dem anderen schütten und jeden Ausländer verteufeln, den sie auf der Mattscheibe sehen. Früher regten mich diese Leute noch auf, ja ekelten mich geradezu an. Was wusste mein Meister schon von den Kämpfen auf den Straßen, was wusste der schon davon, wenn der Türke sein Messer zog und wild damit herumfuchtelte? Nichts! Ich konnte schwören, er hatte noch nie einen Stiefel im Gesicht gehabt, war noch nie blutend in die Notaufnahme gerannt, hatte noch nie seine Selbstachtung verloren, weil er einem 8jährigen Jungen die Zähne ausgeschlagen hatte. Dann war da aber noch Bert. Bert war der Geselle im Betrieb, mitte Zwanzig und verheiratet. Er war ebenfalls kein großer Freund von Ausländern aber er betrachtete sie auch nicht als seine Feinde. Über die Jahre kamen wir uns näher. Bert erleuchtete mich mit seinem offenen Weltbild, schwärmte von Spanien, der Türkei und Kuba. Er zeigte mir, dass man nicht alle Ausländer über einem Kamm scheren durfte und dass auch manch ein Deutscher im Ausland den Mund zu voll nahmen. Als unsere Werkstatt pleite ging, gab er mir seine neue Telefonnummer in München, dort würde er hinziehen. "Wenn du Probleme hast oder richtig Hilfe brauchst, dann ruf mich an!", hatte er gesagt. Danach war ich arbeitslos.
Ich zog wieder mehr mit den Jungs um die Häuser, hatte aber kaum noch Spaß daran. Robert hatte mittlerweile das gesamte Bild der Gruppe unstrukturiert und auch seine Ansichten: "Hitler war ein Drecksack, der das deutsche Volk ausgebeutet hat, wo es nur ging. Er hat die ehrlichen Bürger dieses Landes hintergangen und sie scharenweise in den Tod geschickt. Das ist nicht der Mann, nach dem wir unsere Rebellion richten dürfen! Wir sind eine eigenständige Einheit, die sich nicht nach den Idealen eines Mannes richtet, der seit fast 60 Jahren tot ist. Wir werden mit unserer Rebellion Deutschland in eine neue, bessere Zukunft führen, in der kein Ali Drogen an deutsche Kinder verkauft, in der kein Fidschi einen Mercedes fährt, während anständige deutsche Arbeiter sich kaum einen Volkswagen leisten können. Wir sind das Volk und wir kämpfen gegen jene, die unseren Aufschrei ersticken wollen. Wir kämpfen nicht gegen Juden oder Moslems, sondern gegen die Verblendeten unseres Volkes und gegen die, die meinen, sie könnten Deutschland und sein Volk melken wie eine Kuh. Ich sage, wir zeigen es dem Ausländerpack und den roten Schweinen. Wir sind die Widerstandsgruppe Ost Eins und wer glaubt unsere schöne Heimat besudeln zu dürfen, mit seinem Dreck, den er von draußen mit hier einschleppt, dann sage ich: Besudeln dürft ihr diese Stadt, aber nur mit eurem Blut! Wir sind das Volk, wir sind Deutschland und unsere Botschaft lautet: Nieder mit dem Feind - Keine Gnade!" Die Jungs jubelten. Fast alle. Nico und ich nicht, weil wir es nicht mehr hören konnten und andere nicht, weil sie Hitler eigentlich ganz cool fanden und Roberts plötzlichen Sinneswandel nicht nachvollziehen konnten. Mir war allerdings klar, dass wir keineswegs Deutschland oder irgendwen anders irgendwohin führen würden. Wie die letzten Jahre auch würden wir uns jeden Tag bis zur Besinnungslosigkeit volllaufen lassen und uns dann im Wachkoma auf wehrlose türkische Opas werfen. Nico und ich redeten in dieser Zeit oft über die "Widerstandsgruppe Ost" und die hohen Ideale, die uns und unser kleines Grüppchen prägten. Mir wurde schmerzhaft bewusst, wie viele aus unserem Umfeld und den anderen Faschos einfach erwachsen geworden waren und sich von diesem ganzen Kameradenscheiß verabschiedet hatten. Ich war schon 21 und hatte es verpasst rechtzeitig auf diesen Zug mit aufzuspringen. Wahrscheinlich, weil ich keine anderen Freunde hatte, vielmehr aber wohl, weil ich ein Feigling war.
Während ich also in Selbstmitleid badete, versuchte Nico Stück für Stück die Gruppe von innen heraus aufzuweichen. Bei ein paar Leuten hatte er schon Erfolg gehabt. Als rechte Hand Roberts zweifelte niemand an seiner Überzeugung und Glaubwürdigkeit. Tatsächlich schien es auch niemandem aufzufallen, dass sich unsere "Einheit" schrittweise minimierte, auch wenn Robert mit Nachdruck versicherte, dass die Verräter ihr gerechtes Urteil schon noch erfahren würden.
Vor ein paar Wochen war es dann passiert: Ich war bei Nico zu Hause. Wir zockten etwas und er hatte mich einmal mehr fast überredet einfach auszutreten und diesen Mist hinzuschmeißen, als er just in diesem Moment einen Anruf von Robert bekam. Während des Gesprächs nickte Nico oft und bestätigte Roberts Ausführungen immer mit einem kurzen "Hmmm". Als er auflegte war er leichenblass und schien sich in einer Art Trance zu befinden. "Was ist denn los?", fragte ich etwas amüsiert und schnipste mit den Fingern. Nico ließ das Handy fallen. "Ich habe doch Löffler und diesen Richard vor zwei Monaten überreden können, abzuhauen.", sagte er, ohne wirklich auf eine Antwort zu warten. "Robert hat wirklich ...". Er stockte mitten im Satz und ich konnte sehen, dass er mit den Tränen kämpfte. Spontan packte ich ihn an den Schultern und schüttelte ihn kräftig. "Was, was hat er wirklich?", schrie ich, ohne die Antwort auch nur erahnen zu können. Unvermittelt schlug Nico meine Hände beiseite und sprang auf. Suchend blickte er sich um und entdeckte eine alte Holzkiste in der Ecke seines Zimmers. Mit voller Wucht trat er dagegen und entlud so seine Wut gegen dieses leblose Ding. Ich hörte das Holz splittern und einen gedämpften Schrei Nicos, der sich wahrscheinlich verletzt hatte. Doch er kam nicht zur Besinnung und trat weiter auf die Überreste der Kiste ein. "Dieser verdammte Schweinehund!", brüllte er und ließ noch ein paar weitere Flüche ab. Ich sah keine andere Möglichkeit, sprang auf und schlug ihm die flache Hand ins Gesicht. Deutlich spürte ich die Feuchtigkeit auf seiner Wange. Wie erstarrt blickte mich Nico an, nur um im gleichen Moment in sich zusammenzufallen. Ich richtete ihn wieder auf und schüttelte ihn wieder erneut. "Was hat er getan?", schrie ich mit Nachdruck. Nico riss sich los und begann zu erzählen. Dabei erinnerte ich mich daran, dass Robert vor einiger Zeit behauptete, sich mit anderen "Widerstandsgruppen" unseres Kalibers verbündet hatte, um effizienter gegen die sogenannten "Feinde Deutschlands" vorgehen zu können. Wir hatten das kopfschüttelnd abgetan und uns nicht weiter darum gekümmert. Doch wir hatten beide vergessen, welche Visionen Robert plagten und wie fanatisch er bei deren Umsetzung vorging. Er hatte sich tatsächlich um einen organisierten Zusammenschluss der rechtsradikalen Banden bemüht und sein Plan war aufgegangen. Die ersten Opfer hießen Paul Löffler und Richard Einweger. Als mir Nico die Einzelheiten schilderte spürte ich, wie mir die Tränen in die Augen schossen: Zwei Tage zuvor wurden Löffler und Einweger von einem Fascho aus dem Nachbarort in der Disko gesehen worden, wie sie beide mit der türkische Bardame flirteten. Als sie den Schuppen verließen, sahen sie sich plötzlich einem Pulk von ca. 20 Kahlrasierten gegenüber. "Robert muss einer abgegangen sein," sagte Nico, "denn die Faschos haben Löffler und Richard durch die halbe Stadt gejagt und dann in den Katakomben gestellt. Dort haben sie beide so zusammengeschlagen, dass es ein Wunder ist, dass sie überlebten. Löffler hat nur noch ein halbes Gesicht und wird wohl nie wieder laufen können und Richard ist wohl nicht mehr als ein sabberndes Nichts." Ich spürte den großen Klos im Hals. Richard war ein kluger Mann gewesen. Ich hatte ihn immer wegen seiner rhetorischen Fähigkeiten bewundert und auch wegen seines Geschicks sich innerhalb von Minuten schlüssige und logische Geschichten ausdenken zu können. Er wollte Schriftsteller oder Journalist werden und hatte gerade ein Praktikum bei einer großen süddeutschen Zeitung angefangen. Und nun konnte er nicht einmal ein einzelnes Wort buchstabieren.
Nico begann plötzlich zu weinen. Und auch ich konnte es aus mir herausbrechen hören. Leise wimmernd saßen wir dort und ergaben uns jämmerlich der großen Trauer über diese feinen Menschen und unser eigenes, unbarmherziges Schicksal. Erst nach ein paar Minuten erlangte ich meine Fassung wieder. Nico war schon eher ruhig geworden. "Wir werden es ruhiger angehen müssen.", sagte er und schniefte. Ich wischte mir die Augen trocken. "Nichts werde ich!", antwortete ich und übte einen ernsten Blick. Nico wurde lauter: "Ich werde nicht zulassen, dass wir ebenfalls unser Leben wegwerfen oder auf der anderen Seite auch die Schnauze voll kriegen!" Ich schüttelte den Kopf. Daraufhin wurde seine Stimme sanfter und er reichte mir die Hand. "Du bist mein bester und ältester Freund und nichts auf der Welt wird mich daran hindern, dich aus dieser Scheiße rauszuholen. Wir haben mit dem Dreck angefangen, wir bringen ihn auch zu Ende, einverstanden?" Nachdenklich betrachtete ich seine Hand. Sollte es wirklich möglich sein, da auszubrechen, jetzt noch, nachdem zwei von den Aussteigern bereits auf der Intensivstation lagen? Ich glaubte nicht daran, aber ich konnte Nico auch nicht enttäuschen. Was sollte schon schlimmes passieren? Der Tod wäre wohl sogar die beste Lösung gewesen. Also schlug ich ein.
Wir hatten uns geeinigt, den Jungs aus dem Weg zu gehen und aus trotz die Haare wachsen zu lassen. Letzte Woche dann waren wir gemeinsam auf dem Weg zu meinem Vater, als uns Robert zufällig über den Weg lief. Er schritt auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang und wir entschieden uns gleichzeitig nicht dergleichen zu tun und unseren Weg unauffällig fortzusetzen, als der gellende Pfiff Roberts zu uns hinüberdrang. Es gab keinen Ausweg. Also drehten wir uns um und begrüßten ihn mit gut gespielter Freundlichkeit. Robert sah uns an, als kämen wir von einem anderen Stern. Misstrauisch musterte er uns, als er direkt vor uns stand. "Was ist mit euch los?", fragte er und legte den Kopf schief. "Euch sieht man ja kaum noch. Wo wart ihr bei dem letzten Treffen der Widerstandsgruppe." Ich schluckte und merkte, dass es mir hochkam. Nico hingegen antwortete schnell und selbstbewusst: "Treffen? Welches Treffen? Wenn es bei uns festgelegte Treffen gäbe, wüsste ich doch wohl davon. Ich als dein von dir ernannter Stabssekretär." Innerlich musste ich lachen. Robert hatte uns einst dämliche Bezeichnungen gegeben, mit denen wir uns fortan anreden sollten, doch das hatte sich nie durchgesetzt, nun spielte Nico seinen Titel geschickt gegen Robert aus. "Aber ...", stotterte der, "aber wir treffen uns doch jeden Mittwoch." "Letzten Mittwoch waren wir beide bei meiner Oma zum Kafeetrinken eingeladen. Nachher ist es halt später geworden und wir hatten schon ein paar Bier intus. Du weißt, wie weit meine Oma weg wohnt. Von da bis hier mit unserem Pegel wäre mit dem Auto viel zu gefährlich gewesen. Außerdem war es auch schon viel zu spät." log Nico. Wir waren an diesem Tag tatsächlich bei seiner Großmutter in der Stadt gewesen, hatten uns aber am Abend in einer Disko amüsiert. Robert brauchte eine Weile bis er sich gefangen hatte. Dann stammelte er völlig zusammenhangslose Sätze und am Ende regte er sich über unsere langen Haare auf. Er wurde jäh unterbrochen, von einem Kerl, den ich nur als Feschmann kannte. Er war hohl und plump. Nichtsdestotrotz bekam er jeden Monat eine erhebliche Stange Geld von seinem Vater aus Australien überwiesen und setzte diese sogleich im Fitnessstudio und in verschiedenen Fast-Food-Restaurants um. Er hatte keine Familie und keine anderen Freunde, deshalb war er zu uns gekommen. Neben der Freude am Prügeln gefiel ihm auch seine ihm selbst aufgetragene Funktion als Roberts Leibwächter. Als dieser Muskelberg nun Robert von hinten auf die Schulter klopfte, ahnte ich, dass seiner Unterbrechung wohl kaum eine erfreuliche Nachricht zu Grunde lag. Er berichtete in kurzen Sätzen, dass sich eine Gruppe jugendlicher Russen um einen unserer Treffpunkte im Park postiert hatten und drohten den kleinen Müller umzubringen, wenn sich die "Widerstandsgruppe" nicht augenblicklich von dort verziehe. Roberts wütender Blick wechselte immerzu zwischen Feschmann und uns. "Worauf warten wir dann noch.", tönte Nico und stieß mir mit dem Ellenbogen in die Seite. Entnervt schloss ich mich der kleinen Gruppe an und rannte hinter ihnen her, bis wir die Stelle erreichten, an der die Russen angeblich Stellung bezogen hatten. "Bist du bescheuert?", schrie Robert keuchend und sein hasserfüllter Blick traf den dummen Feschmann. "Ich schwöre die waren hier.", verteidigte der sich mit greller Stimme. Auf einmal hörten wir einen ohrenbetäubenden Schrei und mir wurde plötzlich schwarz vor Augen. Haltlos glitt ich zu Boden und spürte plötzlich etwas festes, dass mir ins Gesicht gedrückt wurde. Ich wand mich auf dem Boden, um dem zu entkommen, was ich nicht sah. Hilflos schlug ich um mich und versuchte mich vorwärts zu bewegen, doch es gelang mir nicht. Langsam kehrten meine Sinne wieder zu mir zurück und ich erkannte den Schuh, der auf meinem Gesicht ruhte. Nun schmeckte ich auch das Blut in meinem Mund. Wutentbrannt packte ich das Bein über mir und wollte es herumreißen, doch es verharrte unbeweglich an dieser Stelle. Alle meine Bemühungen waren nutzlos und ich spürte, wie der über mir den Druck erhöhte. Plötzlich wurde das Bein samt dem restlichen Körper von mir heruntergerissen. Blitzschnell rollte ich mich zur Seite und sah Nico in einem verbissenen Gefecht mit wahrscheinlich dem Kerl, der mich zu Boden geworfen hatte. Ich stand auf, bereit alles zu geben, um diese Schmach wieder gutzumachen. Ich holte zu einem Tritt aus, doch Nico und der Andere waren so ineinander verkeilt, dass ich nicht genau zielen konnte. Plötzlich packte mich jemand an der Schulter. Ich wirbelte herum, bereit diesem Jemand einen kräftigen Hieb zu versetzen, doch der sprang sofort zurück und hob die Arme vors Gesicht. "Schlag mich nicht!", bettelte er in gebrochenem deutsch. Ich überlegte kurz und sah ein, dass kein Grund bestand ihm weh zu tun. Also wandte ich mich wieder um, als er wieder schrie: "Nein!" Langsam drehte ich mich zu ihm. Ich ging langsam auf ihn zu und legte den Kopf schief. "Was willst du von mir?" fragte ich ziemlich gefasst. "Das ist nicht dein Kampf.", sagte er. In diese wenigen Worte legte der junge Kerl solch einen Ausdruck, verlieh ihnen solch ein großes Maß an Bedeutung, dass ich mich für einen Moment wirklich fragte, ob er nicht recht hatte. Ich sah mich um. Woher sie auch immer gekommen waren, zahlreiche Wolgadeutsche schlugen sich mit unserer "Widerstandsgruppe". Es war auf keiner Seite ein wirklicher Erfolg zu erkennen, obwohl alle beide Gruppen bis zur Erschöpfung kämpften. In diesem Augenblick wurde mir die Sinnlosigkeit unserer Unternehmungen und des großen Aufbegehrens, was immer wieder propagandiert worden war, erst wirklich bewusst. Nichts hier hatte irgendeine Bedeutung. Menschen schlugen aufeinander ein, nur um des Prügelns willen, hier ging es nicht um Territorien, um Ausländer oder Religionen, hier ging es darum, Anderen Leid zuzufügen und sich selbst auf die niedrigste, primitivste Ebene herabzusetzen, die man sich nur vorstellen konnte. Ich wurde in meinem Gedankengang unterbrochen, als Nico anfing zu schreien. Ich drehte mich um. Nico lag mit dem Gesicht zum Boden und versuchte vergebens seinen Kopf hochzuhalten. Der Wolgadeutsche über ihm hatte ihm - wie auch immer - gerade das Bein gebrochen und war dabei, ihn mit einem starken Ast zu malträtieren. Wie in Trance ging ich auf den Gegner los und schmetterte ihm, so fest ich nur konnte, meine Faust entgegen. Wie ein Sack platschte der Russe zu Boden. Erst jetzt bemerkte ich, dass es angefangen hatte zu regnen. Als ich mich zu Nico hinunterbeugte, war er schon in Ohnmacht gefallen.
Ich hatte Nico gerade im Krankenhaus besucht und war auf dem Heimweg. Sein Vater hatte ihn nach Berlin überweisen lassen und wie es sich anhörte, würde er dort auch die nächste Zeit bleiben. "Hier bin ich sicher, jetzt musst nur du noch raus.", hatte er mit einem Lächeln gesagt und ich hatte ebenfalls lächelnd genickt. Dann hatte ich ihm gute Besserung gewünscht und war gegangen. Im Zug dachte ich über das alles nach, über Robert, den Widerstand und mich; mich, wie ich einsam und verlassen eines Tages feststellen würde, dass mein Leben ein einziger, ungerechter Kampf war, der mich nie voran brachte, weil ich für die falschen, die bedeutungslosesten Sachen eingetreten war. Ich stieg aus dem Zug und schritt den Bahnhof entlang. Ich erklomm die Treppen und bemitleidete mich weiter, ob meiner gescheiterten Existenz, als mich plötzlich etwas zurückhielt, ein Gefühl, als hätte ich etwas vergessen. Ich blieb stehen und wandte mich um. Da stand er, direkt vor mir. Mit großen Augen starrte mich der Wolgadeutsche an. Er gehörte zu der Gruppe, mit der wir uns erst letzte Woche angelegt hatten. Es war der Typ, der mich aufgehalten hatte. Ich bemerkte, dass mein Mund offen stand. Ich konnte nichts sagen. Wir waren Feinde, Rivalen und doch gingen wir uns nicht an die Kehle. Lag es daran, dass wir allein waren, ohne den Schutz unserer Gruppen oder war da etwas anderes? Wir starrten uns minutenlang an, bis ich endlich das erste Mal in meinem Leben den Mut fand wirklich Stellung zu beziehen. Und ich tat, was ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Ich streckte einem Ausländer freundschaftlich meine Hand entgegen. Erfreut ergriff er sie und schüttelte sie unablässig. "Ich bin Juri.", sagte er freundlich und mit der gleichen, kraftvollen Stimme, wie eine Woche zuvor. "Ich heiße Martin.", antwortete ich mit einem Lächeln auf den Lippen. "Wie geht es deinem Freund? Ist er wieder gesund?", fragte er mit offensichtlich ernstem Interesse. "Es geht ihm gut.", gab ich zurück, "Naja, er wird schon wieder." "Das ist gut." fuhr er fort und nickte. Dann hatten wir uns nichts weiter zu sagen. Nochmal nickten wir beide und verabschiedeten uns. Ich wollte gerade nach oben gehen, als er doch noch etwas sagte: "Es ist wirklich nicht dein Kampf!" Dann verschwand er in der Menschenmenge, die zum Bahnsteig drängte. Ich stand regungslos an meinem Platz und dachte nach. Schließlich hatte ich eine Entscheidung getroffen. So schnell es ging lief ich nach Hause, warf meine Jacke in die Ecke und schnappte mir das Telefon. Eilig blätterte ich in der losen Zettelsammlung nach dieser einen bestimmten Nummer. Dann hatte ich sie gefunden. Ich wählte die Nummer in München und es klingelte zweimal. Bert war gleich am Apparat und ich wusste, dass es nun endlich vorbei war.