- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Wie alt musst Du eigentlich noch werden?
Dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Automatisch zähle ich das Besteck, dass ich für das morgige Frühstück auflege. Alles ist ruhig, nur das Radio in der Ecke gibt Töne von sich. Manchmal kommt eine Nachricht von einem Geisterfahrer auf der Autobahn, oder die Anmerkung, dass auf Wien`s Strassen keine Störungen zu erwarten sind. Die Ruhe gräbt sich in meinen Kopf und lässt mich in meinen Gedanken versinken. An die letzten vergangenen Tage, oder die vor einigen Stunden, wie ich nach dem Streit aus dem Haus bin. Grußlos und türeknallend. Manchmal wagt sich sogar eine Träne aus den Augenwinkeln. Versteckt und heimlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass es jemand sehen könnte, ist sehr gering. Ein Blick auf die große Uhr über der Türe verrät mir, dass es erst 23 Uhr ist. Die Nacht dauert noch lange und ich fühle mich schrecklich einsam. Schnell wische ich die Träne, die auf der Wange zu beißen beginnt fort und schlucke den Kloß, der sich in meinen Hals gebildet hat hinunter. Er hat mich verletzt mit seinen Worten. Tatsächlich bin ich froh, diese Nacht auf der Station und nicht zu Hause und somit in seiner Nähe verbringen zu müssen. „Werd endlich erwachsen“ – ist so ein typischer Satz um nicht seine eigenen Handlungen durchdenken zu müssen. Sein eigenes Versagen, oder gar die eigene Mitschuld. Zuzugeben, dass man selbst mit etwas nicht klar kommt. Womit auch immer. Weggewischt und abgegeben, mit den Worten „Wie alt musst Du eigentlich noch werden?“ Ich kann ihm meine Bedürfnisse nicht klarmachen. Er versteht sie nicht, oder nimmt sie nicht wahr. Als ob wir nicht dieselbe Sprache sprechen würden.
Ein leises Schlurfen lässt mich hochschrecken und ich sehe um die Ecke. Sie kommt auf mich zu und brabbelt unverständliches und unzusammenhängendes Kauderwelsch. Ich stelle mir vor, dass sie mich auf eine andere, mir fremde Sprache begrüßt und grüße freundlich zurück. Wie süß sie aussieht, denke ich mit einem Lächeln im Gesicht. So richtig verwurschtelt. Bekleidet mit diesem gelben Gemeinde-Standard-Nachthemd, fragenden großen Augen, die Windelhose zwischen den Knien schleppend. Wohin sie stets die linke Hand hält, damit sie sie nicht ganz verliert. Sie nimmt mich an der Hand und zieht mich in die Küche. Ich gebe ihr zu trinken und streichle über ihre wuscheligen, vom liegen zerzausten Haare. Und wieder sieht sie mich mit ihren großen, so verloren wirkenden Augen an. Mein Hals schnürt sich enger bei dem Gedanken, dass sie nur aus dem Bett gekrabbelt ist, weil sie sich einsam fühlt. So einsam, wie ich gerade noch. Sie stellt mir Fragen, deren Sinn ich nicht verstehe, weil es keinen darin zu erkennen gäbe. „Ist das, das das da hinten?“ „Ich muss das ja noch da da da drüben“ „Wohin? Ich meine, was was. Ja? Sehr gut.“ Ich lächle sie an, und beruhige sie sanft mit irgendwelchen nichtssagenden Worten, während ich ihre Windel erneure. Doch ich bin traurig. Sie kann sich nicht austauschen. Nicht ihre Bedürfnisse artikulieren. Eigentlich gar keine zusammenhängende Sätze bilden. Niemand versteht sie. Ich auch nicht, obwohl ich mich so sehr bemühe. Ich nehme sie an der Hand und bringe sie wieder zu Bett. Während ich sie zudecke und ein letztes Mal über ihre faltige, 82-jährige alte Wange streiche, denke ich an die ungeduldigen Worte, die ich schon oft von ihrer Tochter gehört habe. „Jetzt bist Du schon wieder angepinkelt! Wie alt musst Du eigentlich noch werden?“
[Ich weiss, nicht wirklich eine Geschichte..]