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Wintermorgens Ende
Am See war niemand, stille Einsamkeit begleitete Anas Weg. Ein Rabe kreiste über dem gefrorenen See, suchte nach Nahrung. Als er keine fand, zog er langsam davon und verschwand im Dunst. Ana lief weiter und folgte dem schmalen Pfad, der sie am See entlang führte. Anas Gedanken wanderten zu ihm – zu seiner unbewegten Miene, als sie das Haus verlassen hatte. Warum hatte er sie nicht gehindert zu gehen?
Einmal nur, ein einziges Mal, seine Haut berühren, als Schneeflocke. Ihn berühren als Botin des Winters. Er hatte ihr Innerstes erfrieren lasse. Nun trug Ana die Seele des Winters in sich, die sie ihn spüren lassen wollte. Als Schneekristall sein Gesicht streifen, darauf zerfallen und als Kristallträne über seine Wange streichen. Ihn die Kälte fühlen lassen, die in ihr war. Nur ein einziges Mal.
Hatte er nicht zu Beginn, als sich ihre Welten noch fast völlig unbekannt gewesen waren, versprochen, ihr die Wärme zu schenken, die ihr gefehlt hatte? Und war sie nicht seinem Feuer erlegen, bevor der Winter alles in Eis hatte sterben lassen, was die Wärme genährt hatte? Unter der Schneedecke begraben lag eine Liebe, die Ana noch immer versuchte zu halten.
Langsam hatte sich die Kälte in ihre Beziehung geschlichen. Es war ein langer Herbst gewesen bis zum Winter. Keiner von ihnen hatte das Schwinden der Sonne bemerkt, bemerken wollen. Die Tage waren kürzer geworden und die Auseinandersetzungen hatten sich gehäuft. Weder er noch Ana hatten den Winter sehen wollen, dessen Schnee langsam alles unter sich hatte begraben hatte, was Ana versucht hatte zu halten.
Während Ana nachdachte, breitete sich die Kälte weiter aus und bald erfror jedes Gefühl in ihr. Als sie ihre Augen schloss, sah Ana sein Bild vor sich, seine Züge unbewegt. Sie starrte in seine Augen – erkannte er sie nicht? Er rührte sich nicht und ihr blieb nichts, als ihm gegenüberzustehen und sein Spiegelbild zu sein. Einen winzigen Augenblick lang sah sie ihr eigenes Antlitz in ihm, doch schon kehrte seine reglose Gestalt zurück. Sie erfror ganz, spürte die Verwandlung.
Kristall.
Einen Atemzug lang verharrte sie, um dann dem Wind zu folgen. Sie schwebte lautlos und auf einmal durchbrach sie die Distanz zwischen sich und ihm, ihrem Spiegelbild. Als Schneeflocke. An einem Tag ohne Schnee.
***
Er blickte aus dem Fenster, der Morgen war seltsam ruhig, niemand wanderte auf den kalten Strassen. Ein kalter Windstoss fegte heran, verharrte einen Augenblick auf seinem Gesicht, um dann weiterzuziehen und ihn alleine zu lassen.
Anas Schritte waren längst verklungen, die Stille danach noch immer unerträglich. Er hatte sie hinaus in den Morgen geschickt, in eine tödliche Winterkälte. Und er selbst stand am Fenster – schwankte zwischen der Kälte und seiner warmen Wohnung. Noch konnte er entscheiden, ob er Ana hinaus in den Wintermorgen folgen sollte.
Ob er es konnte.
Ob er es wollte.
Unruhig blieb er stehen, seine Blicke kreisten und erfassten doch nichts. Ana…
Sie hatten sich gestritten, wieder einmal. Diesmal hatte er Ana gehen lassen, er hatte nichts - absolut nichts – getan, um sie zurückzuhalten. Sie stumm beobachtet, mit keiner Bewegung angedeutet, sie vor der Kälte schützen zu wollen. Er hatte sie einfach dem Winterwind überlassen! Er musste sie suchen, selbst wenn er erfror, ohne sie gefunden zu haben. Schon wollte er losgehen, als ein neuer Gedanke ihn am Fenster festhielt. Sie war gegangen, wenn sie hätte bleiben wollen, ihr Weg hätte sie nicht hinausgeführt.
Nein – sie hatte die gemeinsame Wärme verlassen und nun zog der Winter auch ihn in die Kälte – er wollte ihm nicht folgen, musste sich ihm entziehen! Weiss stachen seine Knöchel hervor, als er sich an den Fensterrahmen klammerte, um sich diesem Sog zu entreissen.
„NEIN!“
Sein Schrei jedoch blieb in seinem Innern und gelangte nicht in die wirkliche Welt hinaus. Nein, er würde Ana nicht folgen.
Eine Schneeflocke, eine einzige nur, schwebte langsam herab, es schien ihm, sie tanze nur für ihn. Ihren letzten Tanz, dessen Klänge erstarben, als der Schneekristall auf seinen Lippen landete und schmolz.
Der Wintermorgen endete.