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Wintervögel: Geopfert für den Sinn!
Der Junge schleppte einen Sack Körner rüber zur Schubertgasse, wo er seinen Platz auf der Bank einzunehmen pflegte.
Die Vögel mußten schon hungrig sein.
Wäre das Haus des Jungen sein Magen, so wäre er wohl auch hungrig.
Vor seinen Augen gaben sich Schneeflocken dem Wind hin; unten fügte sich Schnee an Schnee.
Er hatte seine altvertraute Bank beinahe erreicht, da machte er eine Begegnung, die sein Leben entscheidend verändern sollte.
Er hörte die gedämpften Schritte nicht, die den Alten zu ihm führten- es war als hätte der Wind ihn herbeigetragen.
„Was tust du denn da?“
Eine simple idiotische Frage, formuliert von einer rauhbeinigen Stimme.
Der Junge hielt in seinem Schleppen inne, und drehte sich schwerfällig zu dem alten Mann hin; der Sack Futter war ihm dabei nicht gerade dienlich.
Er sah den Mann erst einmal genau an, bevor er wagte zu antworten.
Der Alte hatte sich gegen den Winter angezogen. Seine dicke Kleidung war der pure Kampf, und sein grauer Bart war ein materialisiertes Klischee.
Schließlich: „ Ich bringe Futter für die Vögel, wonach sieht es denn aus.“
Er war schon etwas wacklig auf den Beinen, wollte also nicht länger herumstehen und reden.
Vor allem über Dinge, die so offenkundig waren, wie die Bräune von Scheiße.
„Wozu tust du das?“
„ Ich will, dass den Tieren nicht leer im Magen wird.“
„ Natürlich, natürlich. Nun denn höre, dass deine Handlung sinnlos ist.“
Nun war der Junge doch überrascht. Sinnlos?
„Sinnlos?“, sprach er laut aus.
Hatte der Mann die Tierchen bereits gefüttert? War deswegen sein Handeln sinnlos geworden?
Doch was sagte der andere?
„ Ja, sinnlos. Ich frage dich: Lebst du denn gar nicht? Lebst du denn nicht, wie du da vor mir stehst und zitterst? Lebst du nicht hier und jetzt, da wir beide im Schneegestöber stehen und frieren und reden?“
Der Junge wollte etwas sagen, doch der Alte sprach einfach weiter:
„ Wenn dein Leben hier und jetzt stattfindet, so frage ich dich:
Hat dein Tun hier und jetzt einen Sinn? Einen Sack durch die Gegend zu schleppen, wie sinnvoll kann das sein?
Solltest du dort drüben auf der Bank sitzen und deine flatternden Freunde füttern und ihnen Glück bereiten, so könntest du sagen, dein Herumgeschleppe wäre wahrhaft sinnvoll gewesen.
Dein Handeln ist sinnlos, jetzt da du hier stehst, und diesen Sack herumschleppst.“
Der Junge stutzte.
Er fühlte den Drang etwas zu sagen, gegen diese Ungeheuerlichkeit, gegen diesen ganzen Mann, der da vor ihm stand und ihm versuchte einzureden, es wäre sinnlos das Futter zu den Tieren zu tragen.
Plötzlich wollte er nur noch, dass der Alte dachte, er würde das richtige tun.
Entschlossen ließ er den Sack in den Schnee plumpsen und marschierte davon.
Der andere sah ihm nach und lachte leise.