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Zeitgefühl
Es fühlt sich an, als würde jemand mit einem festen Gegenstand gegen die Innenseite meiner Schläfe klopfen. Impulse in regelmäßigen Abständen, klopf, klopf, klopf.
Ich kann nicht genau sagen, wann die Kopfschmerzen begannen. Heute Morgen? Als ich aufstand, nahm ich sie jedenfalls noch nicht so deutlich wahr.
Auch als ich mit Berndt frühstückte, war noch alles in Ordnung. Er aß das, was er schon immer mochte. Zwei Brötchen, eins mit Quark und Schnittlauch, das andere bestrichen mit Marmelade.
Oder griff er heute doch zum Käse?
Ich versuche, mit beiden Händen meine Schläfen zu massieren. Kopfschmerzen in diesem Ausmaß hatte ich schon lange nicht mehr.
Natur sei die beste Medizin, sagt meine Mutter immer. Ich blicke auf das weite Wasser vor mir. Seeluft füllt meine Lungen und lässt meine Haare tanzen, aber meine Schmerzen kann sie mir nicht nehmen.
Eine Tablette würde helfen, aber ich greife so ungern auf Medizin zurück. Meine Mutter ist es auch, die mir beibrachte, dass kleine Hausmittelchen oft viel effektiver wirken als die pure Chemie des Arztes.
„Dienlich is‘ uns dat wahrhaftig nich‘, Lotte“, sagte sie mal, als sie mit einer Tablettenpackung in der Hand neben mir und meinem Bruder stand. „Wird uch immer teurer, dat Zeuch!“
Ich wollte einfach nichts nehmen. Nebenwirkungen haben die Tabletten doch auch. Ich seufze.
Ob Berndt auf seiner Arbeit wohl schon Mittagspause hat? Zum Glück habe ich immer meine Armbanduhr um. Ich verliere sonst so schnell das Zeitgefühl. Es ist kurz nach drei. Er hat also schon längst gegessen. Ich gebe ihm manchmal Salate mit, morgens frisch von mir zubereitet. Dazu belegte Brote oder auch mal Brötchen, wenn ich welche gebacken habe.
Gut hat er es mit mir.
Wenn er abends von der Arbeit kommt, steht das Essen schon auf dem Tisch. Er ist sehr froh darüber, und auch dankbar, das weiß ich.
Und dafür habe ich es gut mit ihm.
Das geht wahrhaftig nicht allen so mit ihren Männern. Ich denke an meine Freundin Renate und ihren Gatten Wolfram. Er piesakt sie ständig, die Ärmste ist über die Jahre ein verbitterter Schatten ihrer Selbst geworden. Ich habe sie als junge Studentin kennengelernt, selbstbewusst und lebensfroh.
Das spiegelnde Wasser wirft Sonnenstrahlen in mein Gesicht und ich schütze meine Augen mit vorgehaltener Hand, während sich eine Frau neben mich setzt. Ihr Haare hat sie zu einem festen Pferdeschwanz gebunden. Ich rutsche ein wenig zur Seite.
Wie alt ist Renate heute noch gleich?
Eine Entenfamilie gleitet langsam über die Wasseroberfläche. Wie schön es ist, ihr zuzuschauen. Hätte ich Brot in den Händen, hätte ich es ihr hingeworfen.
„Nun, Frau Schmidt, gehen wir rein?“, beginnt die Frau neben mir eine Unterhaltung. Ich sehe sie an. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor, aber ich kann es nicht zuordnen. Sie legt eine Hand auf meinen Arm und überrumpelt mich durch diese direkte, persönliche Geste.
Verständnislos schaue ich sie an.
„Ich warte nur hier, bevor ich nachhause gehe und anfange, zu kochen. Mein Mann Berndt kommt gleich von der Arbeit.“, erkläre ich und ziehe meinen Arm weg.
Sie lächelt, greift meinen Arm nochmals und hakt sich bei mir unter.
Was soll denn das, was fällt dieser Frau ein?
Sie zieht mich sanft, dennoch bestimmt von der Bank, sodass ich gezwungen bin, aufzustehen. „Natürlich, Berndt… Kommen Sie, Frau Schmidt. Es gibt Kuchen. Sie essen in letzter Zeit doch so wenig. Die anderen sitzen auch schon am Tisch.“
Meine Körpergröße wirkt gegenüber der ihren zerbrechlich und klein.
Ich höre auf, mich zu wehren und füge mich ihrer Richtung.
Ich bin wohl alt geworden.