- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Zeitlos
Stille Augen, ziellos ins Nichts gerichtet, Jahrhunderte alt und doch leer. Kein Wissen, keine Macht, keine Erfahrung, nur leeres, totes Schwarz, ohne Leben.
Spiegel der Seele.
Kalter Wind streichelt ihre Haut, spielt in ihrem Haar und fordert das Laub am Boden zum Tanz.
Sinnbild der Vergänglichkeit.
Sehnsüchtig blickt sie dem Sturm aus Farben hinterher, bis er zwischen den Grabsteinen verschwindet. Ihr Blick jedoch wandert weiter. Bis zum Horizont. Dort, wo vor wenigen Stunden die Sonne untergegangen ist.
Mutter allen Lebens.
Weinen täte gut. Doch sie kann nicht weinen, kann nur still die Welt bedauern, die Trostlosigkeit und das endlose Grau, an dem sie in manchen, einsamen Stunden verzweifelt. Beinahe verzweifelt, denn noch ist sie, wird auch in den nächsten Jahrhunderten sein, wie sie schon in den letzten fünf Jahrhunderten gewesen war. War nicht mehr als ein Schatten und wird niemals mehr sein.
Schatten ihrer selbst.
Sanft streichen kalte Finger über kalten Stein, grau in grau. Endlose Gräberreihen zu ihren Füßen, tief dort unten. Sie selbst thront über allem, ist Herrin in dem zerfallenen Tempel, der einst Mittelpunkt der kleinen Siedlung war. War, weil die Siedlung nicht mehr ist, schon lange nicht mehr. Von hier oben kann sie alles sehen. Die zerfallenen Mauern der Häuser, die überwucherten Überreste der Schmiede, der in sich zusammengebrochene Schornstein der Bäckerei, das kreisrunde Fundament des Wachturms.
Ein Ort den sie Heimat nennt.
Nannte.
Jetzt ist nichts mehr übrig, nur Steine und die Erinnerung. Grau in Grau. Einzig die Gräber haben die Zeit beinahe unversehrt überdauert. Es muss an der Angst vor dem Tod liegen, die die meisten Menschen in sich tragen. Sie kann es verstehen, kann die Menschen verstehen, die nicht sterben wollen.
Angst vor dem Unbekannten.
Fast vierhundert Jahre ist es nun schon her, dass Kinderlachen und Bardengesang ihrer grauen Welt ein wenig die Trostlosigkeit geraubt hatten. Als das Dorf zerstört war, kroch die Einsamkeit durch alle Lücken, alle Ritzen, schlich sich lautlos in ihr Leben ein.
Einzig die Erinnerung bleibt.
Erinnerung an Glück, an Tränen, an Hoffnung, an Liebe, an Leben.
Doch am meisten fehlen ihr die Farben, der Duft der Blumen, die warmen Strahlen der Frühlingssonne auf ihrer Haut. Denn alle Erinnerungen daran sind fort, verschwanden mit dem Sommer und kehrten nach einem trostlosen Winter nicht wieder. Seitdem ist alles gleich.
Einsame Welt, grau in grau.
Lautlos, um die Stille der Nacht nicht zu stören, erhebt sie sich und steigt die wenigen Treppenstufen, die noch nicht Opfer der Zeit geworden waren, hinab. Der Innenraum des Tempels war einst eine prächtige Halle. Besonders an den Feiertagen. Doch der Schmuck ist schon lange zerfallen, wie alles um sie herum, nur das Skelett ist geblieben.
Alles von Menschenhand geschaffene vergeht mit der Zeit.
Sie setzt sich auf den Boden, in ein Meer aus Pergament, einige Blätter leer, doch auf den meisten sind Abbildungen verschiedenster Blumen. Schönheit der Natur, gefangen in wenigen Kohlestrichen.
Grau in Grau.
Sie betrachtet jedes der Bilder, versucht sich zu erinnern, welche Farben die Blüten hatten. Doch selbst in ihren Gedanken gibt es nur Grau. Mal heller, mal dunkler, immer trostlos.
Schließlich gibt sie auf, weiß sie doch, dass die Erinnerungen nicht wiederkehren. Niemals wiederkehren werden, weil sie es bisher auch nicht taten.
Sie tritt hinaus.
Im hellen Licht des Mondes heben sich die Grabsteine als dunkle Silhouetten vor dem Himmel ab und werfen Schatten über die letzen Ruhestätten der Toten. Ehrfürchtig durchschreitet sie die Reihen, lässt ihre kalten Finger über die moosbewachsenen Steine streichen und bleibt schließlich stehen. Vor einen Rosenstrauch, der gewachsen ist, als die Erinnerung an Farben bereits verblasst war. Sie vermutet, dass die Blüten rot sind.
Rote Rosen im schwarzen Licht der Nacht.
Lange betrachtet sie die zarten Knospen, bewundert den Wind, der behutsam mit den Blättern spielt, als habe er Angst, die Dornen könnten ihn stechen. Sanftes Wiegen im Einklang mit der Natur.
Nur ein einziges Mal.
Möchte sie sein wie der Wind.
Traurig streckt sie ihre blassen Finger nach den zarten Blättern der Rosen aus.
Traurig, weil sie um die Anwesenheit des Todes weiß.
Noch bevor ihre Finger die Blüten erreichen, legt er sich wie ein Schleier über die Pflanze.
Lässt alles Leben verdorren.
Welke Blätter, die der Wind zu Boden trägt.
Schwarz.
Tot.
Wie ihre Augen, die im Stillen um die Schönheit trauern.
Augen, denen die Zeit nichts anhaben kann.
Eine neue Rose wird wachsen, erblühen und vergehen.
So war es und so wird es immer sein.
Sie jedoch bleibt.
Schatten ihrer selbst.