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Mit gesenktem Kopf schreitet er die letzten paar Meter zu der Haustür gegen das böige Schneetreiben an. So ein Sauwetter, denkt er, und schließt mit klammen Fingern die Haustüre auf. Vom kalten Wetter nicht mehr abgelenkt, sind seine Gedanken nun wieder auf das Abendessen fokussiert. Was mach ich mir heute zum Essen? Vielleicht hat Anna ja nicht alle übrig gebliebenen Nudeln von gestern in die Arbeit mitgenommen. Dann könnte ich mir schnell eine Sauce machen und fertig. Das wäre fein. Ansonsten muss ich mir halt neue machen. So in seine Überlegungen versunken steigt er die drei Stockwerke zu der Wohnung hinauf, schließt die Wohnungstür auf, stellt die nassen Stiefel unter die Garderobe und hängt seine Jacke auf. Halt, was ist das? Da sind ja Annas Winterstiefel, und ihre Jacke hängt auch schon da. Sie hat doch heute länger Dienst. Und das Licht in der Küche ist auch an. Beim Eintreten sieht er sie sofort am Küchentisch sitzen. Sie hält eine große Tasse Tee in der Hand und blickt starr gerade aus.
„Hallo Schatzi, auch schon daheim, ich dachte du hast heute länger Dienst und kommst erst morgen Früh heim?“, begrüßt er sie ganz überrascht, „Willst du auch was essen? Ich dachte an Nudeln mit Tomatensauce. Nudeln sind ja glaube ich noch von gestern ein paar da. Habe ich einen Hunger.“ Im Vorbeigehen gibt er ihr schnell einen Kuss auf die Stirn und schon ist er am Kühlschrank und suchte die Lebensmittel für das nun gemeinsame Abendessen.
„Hallo Tom“, kam es leise aus ihrem Mund als er schon längst vorbei gerauscht war. Sie beginnt zu erzählen was heute in der Arbeit passierte und warum sie schon daheim ist. Ihre leise Stimme geht aber fast im geschäftigen Treiben von Tom in der Küche unter. Nur einzelne Worte schaffen den weiten Weg von ihrem Mund durch seine Ohren ins Gehirn. „…ein Schrecken, … Polizei war da, … Station ist nun geschlossen, …. durften all heim, … Anneliese ging es gar nicht gut, …“ Ganz auf das Kochen konzentriert, fügt sich das von Anna Gesagte nicht zu einem großen Ganzen zusammen und wie von allein kommen seine kurzen Bemerkungen: „Echt. Aha. Ok. Und wie geht es ihr nun?“. Aber die Antwort auf seine Frage nimmt er schon gar nicht mehr wahr. In Gedanken ist er schon weiter. Die zusätzlichen Nudeln sind fast fertig, noch nicht ganz al dente. Die Tomatensauce mit Knoblauch und frischem Basilikum verfeinert und schon abgeschmeckt. Was ist morgen zu tun, denkt er bereits, ja genau, der Termin mit dem Fensterhersteller am Nachmittag. Da muss ich vorher noch mal den Haus- und Terminplan genau durchgehen. Das ich ja nichts vergesse. Nehmen wir nun die rahmenlosen Fenster im Wohnzimmer oder nicht, preislich sind sie halt schon erheblich teurer. Dafür wird damit die Aussicht aber bestenfalls präsentiert. Da denkt man fast, man steht draußen, ohne dem störenden Fensterrahmen. Da hat er eine super Idee, wieso den morgigen Vormittag nicht auch nutzen, wo Anna schon daheim ist.
„Was hälts du davon, morgen Vormittag noch ins Bäderstudio zu fahren bevor wir den Termin beim Fensterhersteller am Nachmittag haben? Da du nun daheim bist, könne wir die Zeit super nutzen. Na, was sagst du?“ fragt er aus der Küche. Die Nudeln sind jetzt bereit zum Abseihen. Die Teller stehen schon bereit auf der Arbeitsplatte und warten nur auf das Essen. Anna erzählt nichts mehr. Mit tränennassen Augen sitzt sie am Tisch und starrt Tom fassungslos an. Der Tee in ihren Händen schwankt gefährlich an den Rand der Schale und hängt plötzlich in der Luft. Mit einem lauten Klirren schlägt die Schale am Boden auf und der ganze Tee spritzt über den Küchenboden. Aufgeschreckt schaut Tom auf, lässt die beiden Teller stehen und eilt sofort mit einem feuchten Fetzen zu Anna. „Was ist den jetzt passiert? Der Tee ist aber zum Trinken da, der Boden hat nichts davon“ scherzt er freundlich. Vorsichtig sammelt er die Scherben ein und wischt schnell alles auf. Das nur keine Flecken im Holzboden bleiben. Beim Aufstehen sieht er die Tränen an Annas Wangen runter laufen. „Anna, so schlimm ist das jetzt auch nicht. Wieso weinst du denn? Wir haben ja noch andere Tassen. Soll ich dir noch einen Tee machen?“ Vorsichtig wischt er die Tränen mit seiner freien Hand von Annas erstarrtem Gesicht.
Zurück an der Arbeitsplatte ist er bereits beim Erstellen einer Liste, was sie nun alles fürs Bäderstudio brauchen. Als keine Antwort von Anna kommt, dreht er sich um und fragt nochmal: „Schatzi, hast du meinen Vorschlag gehört? Was hältst du davon, fahren wir morgen Vormittag noch ins Bäderstudio? Das ginge gleich mit.“ „Tom, hast du mir zugehört was ich gerade über meinen Arbeitstag erzählt habe?“, Anna schaut auf. Wieder laufen Tränen über ihr Gesicht. Die Stimme zuerst noch schwach und zittrig, wird nun immer stärker, „Immer dreht sich alles nur um das Haus hier, das Haus da. Das ist jetzt überhaupt nicht wichtig. Seit 3 Monaten gibt es für dich kein anderes Thema mehr. Seit wir diesen blöden Grund gekauft haben. Ich habe schon das Gefühl du wärst lieber mit dem Baumeister als mit mir verlobt. Immerhin hörst du ihm zu und redest mit ihm, was man bei mir nicht behaupten kann. Nur wenn es um das Haus geht, brauchst du mich.“ Einzelne Schluchzer unterbrechen sie noch, aber die Stimme wird lauter und lauter: „Ich fühle mich komplett ignoriert, als wäre ich Luft für dich. Obwohl nicht Luft, eher ein Kleiderständer. Zwar praktisch daheim mit einer fixen Aufgabe, aber ansonsten komplett zu ignorieren.“ Sie springt von ihrem Sessel auf und geht zur Tür. In der Tür schaut sie noch mal zurück. Tränen verschleiern ihren Blick. Mit zittriger Stimme wirft sie dem verdutzt dastehenden Tom noch entgegen: „Ich hatte heute wirklich einen Scheiß Tag! Ich habe auf dich gewartet und mir eingebildet, dass du mich vielleicht in die Arme nimmst und mich tröstest. Nichts der Gleichen ist passiert. Hast du überhaupt mitbekommen was ich dir erzählt habe? Vermutlich nicht. So ist es doch jetzt immer. Ein paar Aha, Ja, Ok. Das wars. Mehr habe ich von dir nicht gehört. Ich geh ins Bett. Und morgen kannst du dir den Termin mit dem Fensterhersteller auch in die Haare schmieren! Gute Nacht!“
Bevor Tom noch irgendwas erwidern kann, ist Anna schon draußen am Gang, schlägt die Tür hinter ihr zu und ist im Schlafzimmer verschwunden. Toms Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Was ist denn da gerade passiert, denkt er, habe ich jetzt irgendwas verpasst? Ja, bei der Arbeit ist irgendwas passiert, ihrer Kollegin Anneliese geht es nicht gut. Aber warum muss sie da so ausrasten, ich habe doch gar nichts getan. Bei mir sind auch hin und wieder Kollegen krank und arbeiten trotzdem. Das ist auch ärgerlich, weil die dann immer langsam sind und jammern. Aber so schreien. Da soll sich noch jemand auskennen. Von der Situation komplett überfordert steht er noch vor den zwei dampfenden Tellern. Das gerade Erlebte passt in seinem Hirn nicht zu einem Vernünftigen Ganzen zusammen. Er weiß, dass er etwas tun sollte. Anna fühlt sich nicht gut und ist sauer auf ihn. Was hat sie gesagt, den Termin morgen Nachmittag kann ich vergessen. Dann wird wohl das Badstudio auch nichts. Die Gedanken in seinem Kopf drehen sich im Kreis und finden keine Ruhe. Was hat sie über die Arbeit gesagt, irgendwas ist mit Anneliese. Aber warum können wir morgen dann nicht zum Fensterhersteller? Einen neuen Termin bekommen wir frühestens nächste Woche wieder, wo wir das doch schon fixieren wollten. Noch immer unschlüssig, was er wegen Anna machen soll, lässt er seinen Blick durch die Küche schweifen, um vielleicht einen Anhaltspunkt wegen Annas Wut zu finden. Doch leider ohne Erfolg. Tief in seinem Inneren weiß er, dass er Anna nachgehen sollte. Ihr geht es gar nicht gut, und er hat irgendwie auch Schuld daran. Leider weiß er einfach nicht was er dann im Schlafzimmer machen soll. Sie umarmen und festhalten, mit ihr reden? Aber über was? Wenn ich nicht das Richtige sage, kommen wieder ein Haufen Vorwürfe zu Sprache und wir streiten wieder. Wenn ich gar nichts sage auch. Das will ich nicht. Die Minuten vergehen und es zeichnet sich keine Lösung in seinem Kopf ab. Irgendwann gibt er es auf und konzentriert sich wieder auf greifbare und einfache Aufgaben. Die beiden Teller vor ihm. Eines stellt er in den Kühlschrank, das Zweite nimmt er mit zum Tisch. Die Zeit heilt doch alle Wunden. Und morgen sieht die Welt schon wieder besser aus.
Am Tisch zieht er dann das Tablett zu sich heran, um die Geschehnisse des heutigen Tages nachzulesen und seine Gedanken zu beschäftigen. Wirtschafft weiter positiv gestimmt, in der USA steht noch immer alles still und ansonsten ist es auch eher ruhig im Ausland. Im Lokalteil zieht eine Überschrift sein Interesse an: Geiselnahme im Krankenhaus endete blutig. Die Nudeln vor ihm vergessend, fängt er mit einem komischen Gefühl im Magen an zu lesen: Heute Vormittag kam es im Landeskrankenhaus zu einer tragischen Geiselnahme auf der Station Interne 1. Landeskrankenhaus, Interne 1, liest Tom noch mal, da arbeitet doch Anna und ihre Kollegin Anneliese. Plötzlich läuft es ihm kalt über den Rücken und das komische Gefühl im Magen weitet sich aus. Gebannt liest er weiter: Um 9:25 Uhr stürmte ein völlig aufgebrachter, maskierter und bewaffneter Mann die Station Interne 1 des Landeskrankenhauses. Er konnte die 4 diensthabenden KrankenpflegerInnen und 2 Ärzte in seine Gewalt bringen. Mit den Geiseln verbarrikadierte er sich dann in einem Zimmer, welches zum Glück zu diesem Zeitpunkt nicht belegt war. Nach dem Eintreffen der Polizei wurde von dieser sofort Kontakt zum Geiselnehmer hergestellt. Die aufgebrachte Stimmung des Geiselnehmers konnte jedoch von der Polizei nicht beruhigt werden. Der Forderung des Geiselnehmers auf ein persönliches Gespräch mit dem Primar des Krankenhauses konnte leider nicht nachgegangen werden, da der Primar dienstlich unterwegs und nicht verfügbar war. Nach mehreren Stunden des Wartens wurde das Zimmer von Beamter der Cobra gestürmt, nachdem Schüsse darin gefallen sind. Der Geiselnehmer wurde tödlich verwundet. Die Krankenpflegerin Anneliese K. (54) wurde vom Täter durch einen Bauchschuss schwer verletzt. Trotz einer Notoperation erlag sie am späten Nachmittag ihren Verletzungen. Die Beweggründe des Täters sind noch nicht bekannt und die Polizei hat für morgen Vormittag eine Pressekonferenz angekündigt.
Das Tablett klappt zurück auf den Tisch. Er schaut auf, nimmt aber nichts wahr. Wie automatisiert steht er auf, geht durch die Küche, den Gang, bis vor die Schlafzimmertür. Einmal schnauft er noch durch, sein Kopf ist leer. Leise öffnet er die Tür und tritt ein. Nur durch das Licht im Gang beleuchtet erkennt er vor sich am Bett die schlanken Umrisse seiner Verlobten und hört wie durch Watte ihr leises Schluchzen. Noch immer völlig paralysiert durch den Nachrichtentext, setzt er sich an die Bettkante, beugt sich zu Anna runter und hält sie mit beiden Armen fest. Er bringt kein Wort über die Lippen, aber die Augen füllen sich langsam mit Tränen. Annas Körper gleicht einem Brett und liegt starr vor ihm. Doch nach einigen Minuten weicht sie auf und ihr Körper schmiegt sich an die gewöhnten Konturen Toms. Innerlich fallen bei Anna alle aufgezogenen Schutzwälle und endlich fühlt sie sich in Sicherheit, nach diesem scheußlichen Tag. So liegen die beiden da und schlafen mit Tränen in den Augen ein.
Seine Gedanken kurz vor dem Einschlafen drehen sich nicht mehr durcheinander. Es ist noch nicht überstanden und mit Nichtstun verdiene ich ihr Vertrauen nicht mehr zurück. Ich habe es heute richtig verbockt. Auch wenn sie nun bei mir liegt und schläft, morgen ist nichts mehr so wie früher.