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Zwischen Nacht und Wintermorgen
Zwischen Nacht und Wintermorgen
Zunächst spürt sie nur dumpf.
Aber dann, mit einem Schlag, wird der Schmerz in ihrem Leib ganz deutlich. Er staut sich immer wieder auf, schlägt um und spült über sie hinweg wie eine Meereswoge.
Der Boden ist uneben und hart.
Es kostet sie unendliche Mühe, gegen die Schwere ihrer Lider anzukämpfen. Nur durch zwei Augenschlitze kann sie aus sich herausblicken. Ein grellweißer Mond scheint durch Scherenschnittzweige geradewegs in sie hinein.
Die klirrend kalte Luft lässt alles wie durch Glas erscheinen. Sie liegt wie in einem durchsichtigen Sarg, in dem das Atmen immer schwerer wird.
Wasser gurgelt. Das muss der Bach sein. Die steinige Böschung, auf der sie liegt.
Ihr kleiner Hund! So weich und lebendig, so warm. Sie braucht ihn. Wurde er erschossen? Oder lief er nach Hause? Licht in der Küche. Vertraute Geräusche. Am Tisch ihre kleine Tochter. So rührend, so lieb! Die Schulbrote für sie sind noch nicht fertig!
Mamas Leberwurstbrote früher. Ach, Mama, wenn du doch hier wärst! Aber sie ist tot.
Und Papa. Sie war noch so klein, aber sie erinnert sich genau. Dieser schreckliche Tag, als man ihnen die Nachricht von dem Unfall brachte. Wie Papa aussah? Sie weiß es nicht mehr.
Sterbensstille. Sie will rufen. Ihr Unterkiefer bewegt sich kaum. Die Luft, die in sie eindringt, brennt wie flüssiger Stickstoff. Ihre Brust krampft sich zusammen. „Hilfe!“ Aber es ist nur ein heiser röchelnder Laut.
Ihr Handy. In dem kleinen Rucksack. Sie hat ihn immer bei sich, wenn sie den Hund ausführt.
Sie tastet. Ihre Arme bewegen sich kaum. Flüchtig denkt sie an einen Vogel, der nur noch schwach mit den Flügeln schlägt.
Er wird sie nicht vermissen. Liebt ja eine andere. Ging einfach fort.
Eine Erinnerung blitzt auf. Da war plötzlich jemand hinter ihr. Entriss ihr den Rucksack. Kaum Geld darin. Nur das Handy. Und – oh mein Gott – der Haustürschlüssel! Das Kind, ganz allein zu Haus! Sie wehrte sich. Leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht.
Sie erkannte ihn. Sah die Pistole. Begriff. Kein Raubüberfall. Es sollte nur so scheinen. Sie rannte los, blindlings.
Dann die Wucht, die sie von hinten traf, der Schmerz, der sie durchschlug. Sie stürzte, fühlte nicht mehr, wie sie zu Boden fiel, wie er sie wegwarf und liegen ließ.
Ihre Gedanken gewinnen noch weiter an Schärfe. Hasst er sie wirklich so sehr? Oder ist es nur Furcht? Weil sie sich rächen könnte. Sein Geheimnis verraten. Der Unfall, die Toten, die Fahrerflucht? Er wäre am Ende, er ...
Ihr Denken wird wieder löchrig, unstet und verflüchtigt sich schließlich ganz. In der eisigen Luft gerinnt ihr Atem zu einem hauchdünnen Faden, der langsam zerreißt. Ihre Augenlider öffnen sich halb.
Der Himmel, der wie schwarzes Blut war, ist inzwischen fahlgrau geworden. Eine kalte Wintersonne schiebt sich über den Horizont und spiegelt sich in den Pupillen der Frau wider. Das rote Licht lässt ihre Augen glänzen und übergießt ihre Wangen mit einem rosigen Hauch.