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Zwischen zwei Atemzügen

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02.09.2004
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Zwischen zwei Atemzügen

Als Paul am Morgen des 22. Augusts die Augen aufschlug, war es bereits hell. Das war nicht wirklich ungewöhnlich – in letzter Zeit schlief er immer etwas länger. Früher war er ein wahrer Frühaufsteher gewesen. Überhaupt hatte er früher nie viel Schlaf gebraucht. Er seufzte innerlich. Seine Nase kribbelte. Früher. Früher war alles besser gewesen. Sogar das Wetter. Rhythmisch trommelte Regen in dicken Tropfen auf das Dach und gegen seine Fensterscheibe. Das ging jetzt schon seit Wochen so. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann es diesen Sommer einmal länger als ein paar Tage am Stück trocken gewesen war. Das Kribbeln seiner Nase hatte sich in ausgewachsenes Jucken gesteigert. Zwischen zwei Atemzügen hörte er Jenny in der Küche mit dem Geschirr klappern, was bedeutete, dass sie nicht vor einer halben Stunde bei ihm sein würde. Im Baum vor seinem Fenster begann eine Amsel zu singen. Alltägliche Geräusche die nun schon lange seinen Tagesablauf bestimmten.

Eine dicke Stubenfliege hatte die Nacht an der Wand neben seinem Bett verbracht. Jetzt schüttelte sie sich den Schlaf aus den Flügeln und begann summend, ihre Bahnen durch das Zimmer zu ziehen. Mehrfach flog sie mit voller Wucht gegen das geschlossene Fenster, begleitet vom Geräusch des harten Chitins ihres Körpers beim Aufprall, auf das noch härtere Glas der Scheibe. Vermutlich durch die vergeblichen Versuche ins Freie zu gelangen abgeschreckt, änderte sie ihre Flugrichtung und begann sich für sein mittlerweile schütteres Haar zu interessieren.
Es war seit zwei Tagen nicht mehr gewaschen worden und schien einen attraktiven Geruch zu verströmen. Er spürte die kleinen trippelnden Beinchen der Fliege auf seinem Kopf wie sie hektisch von links nach rechts wanderten. Er blieb bewegungslos liegen. Auch als sie ihren Weg über die Stirn in sein Gesicht fand, rührte er sich nicht.
Ein Hund bellte. Wahrscheinlich der neue Hund ihrer Nachbarn, von dem Jenny ihm erzählt hatte. Sie hatten ihn vor zwei Tagen aus dem Tierheim geholt. Er musste an den Nachbarsjungen denken – Timmy – ein netter Junge.

Als er in seinem Alter war, hatte er auch einen Hund gehabt. Einen weißen Spitz namens Ben. Ben. Auch nach so langer Zeit wurde er immer noch wehmütig, wenn er an ihn dachte. Dieser Hund war sein bester Freund gewesen, - wahrscheinlich der einzig wahre Freund, den er jemals gehabt hatte.
Außer Jenny natürlich. Sie war nicht nur seine Frau, sondern auch seine beste Freundin. Der einzige Mensch auf der Welt, der ihn immer absolut und ohne Worte verstand.

Wieder dachte er an Ben. Seine Großeltern hatten ihm den Hund zu seinem achten Geburtstag geschenkt – ein weißes Wollknäuel, knapp neun Wochen alt. Fast vier Jahre waren sie unzertrennlich. Jeden Mittag wartete Ben geduldig hinter dem verschlossenen Gartentor darauf, dass er, Paul, aus der Schule kam. Nicht an diesem Tag. Eine Nachbarin war zu Besuch gekommen. Sie hatte vergessen das Tor zur Straße zu schließen. Ben, der Pauls Schritte schon von weitem erkannte, nutzte die Chance, seinem Herrchen ungestüm entgegen zu laufen.
Geradewegs in das vorbeifahrende Auto.

„BEN!!!“ Pauls Schreie mischten sich mit dem Geräusch quietschender Reifen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Paul glaubte, sein Herzschlag würde aussetzen. Immer noch schreiend, rannte er zum Ort des Unfalls. Alarmiert durch die Schreie ihres Sohnes stürzte auch seine Mutter auf die Straße. Paul riss seinen Rucksack vom Rücken. Er ließ ihn achtlos fallen, während er weinend und völlig entsetzt vor dem Auto niederkniete. „Ben! Oh, mein armer Benny...!“ Tränen rannen über sein Gesicht, während er vorsichtig über die Schnauze seines Hundes streichelte. Der kleine Körper lag zerschunden und seltsam verdreht auf dem Asphalt. Blut troff aus seinem Maul. Er jaulte leise und versuchte, Pauls Hand zu lecken, als dieser ihn vorsichtig streichelte und beruhigend auf ihn einsprach. Ben schaffte es kaum, seinen Kopf zu bewegen. Paul stieß wütend die Hände des Autofahrers zurück, der ihm schuldbewusst zu Hilfe geeilt war. Vorsichtig, und sehr darauf bedacht keine unnötigen Schmerzen zu verursachen, hob Paul seinen Freund hoch. Er trug den verletzten Hund, der in seinen Armen hing wie ein schlaffer Sack, zum Haus. Er ignorierte seine Mutter und den Autofahrer, die mittlerweile am Straßenrand standen und stritten. Eine kleine Menschentraube hatte sich um das Unfallauto gebildet. Die üblichen Unfallgaffer. Sie sahen zu wie Paul sich mit der Last seines verletzten Hundes abmühte. Im Haus angekommen, bettete er Ben auf eine Decke vor dem Kamin. Immer noch liefen ihm Tränen über die Wangen. „Ben. Ben! Du darfst nicht sterben!!“, bettelte er. „Bitte, lieber Gott, mach´ das er nicht stirbt!“ Allein der Gedanke an den Tod seines besten Freundes ließ Paul zusammenbrechen. Weinend lag er neben dem Tier, die eine Hand vor den Mund gepresst, um das unkontrollierbare Schluchzen zu unterdrücken, mit der anderen Hand kraulte er Bens Nackenhaar.

Paul spürte die tröstende Hand seiner Mutter auf seiner Schulter.
Auch nach so vielen Jahren konnte er dieses Gefühl aus seiner Erinnerung abrufen. Noch heute spendete ihm dies oft Trost.
Erinnerungen. Paul schloss die Augen. An dem Tag als Ben eingeschläfert wurde, war er sicher, seine Eltern für den Rest seines Lebens zu hassen. Sie waren gemeinsam zum Tierarzt gefahren. Sein Vater war extra früher von der Arbeit nach Hause gekommen. Aber Paul hatte nicht gewollt, dass Ben eingeschläfert wurde! Er hatte getobt. Er hatte geweint. Er hatte gebettelt. Seine Eltern waren nicht umzustimmen. „Paul, Du kannst Ben nicht mehr helfen, - niemand kann das“, hatte sein Vater ihm zu erklären versucht. „Schau´ ihn Dir doch an“, fiel seine Mutter ein. „Du siehst doch wie sehr er leidet. Willst Du denn nicht auch, dass er keine Schmerzen mehr haben muss?“ Fragend sahen sie ihn an. „ICH WILL ABER NICHT, DASS ER STIRBT!!!!“ Er schrie so laut er konnte. „ICH WILL ES NICHT ICH WILL ES NICHT ICH WILL ES NICHT!!!“ Er lief weinend aus dem Behandlungszimmer. Sein Vater folgte ihm. „Willst Du ihm nicht wenigstens den Abschied leicht machen und ihn streicheln während er einschläft?“ Bittend blickte sein Vater ihn an. „NEIN! Wenn Ihr ihn schon umbringen wollt, dann müsst Ihr das ohne mich tun!“ Traurig zuckte sein Vater mit den Achseln. „Bist Du Dir wirklich sicher?“ Aber anstatt eine Antwort zu geben, drehte Paul sich auf dem Absatz um und stürmte aus der Praxis.

Paul öffnete die Augen. Er spürte eine Träne, die aus seinem Augenwinkel lief. Er wusste, dass diese Träne nicht allein Ben galt. Damals konnte er seinen Eltern nicht verzeihen, dass sie die Entscheidung Ben zu töten einfach ohne sein Einverständnis getroffen hatten.
Heute wäre er dankbar, wenn ihm jemand seine Entscheidung abnehmen würde. In ein paar Tagen würde das Baby kommen...

Jenny stand am unteren Treppenabsatz. Von Tag zu Tag fiel es ihr schwerer, die achtzehn Stufen zum Zimmer ihres Mannes hinaufzugehen. Sie war im neunten Monat schwanger. Es würde nun bald soweit sein. Sie hatte Angst. Und diese Angst wuchs - ebenso wie das Kind in ihr...

Paul horchte auf. Angestrengt versuchte er, alle Störgeräusche auszublenden und sich auf Jennys Schritte zu konzentrieren. Er musste es jetzt tun. Er musste ihr zu verstehen geben, dass er jetzt soweit war. Er wusste, dass er es nicht über das Herz bringen würde seine Frau zu verlassen, sobald das Baby da wäre. Nur bis zur Geburt – um sicher zu sein, dass mit ihr und dem Kind alles in Ordnung ist, das hast Du Dir geschworen!, erinnerte er sich an seinen eigenen Eid. Er fühlte, das er bereit war. Heute.

Jenny zögerte den Moment noch einen Augenblick hinaus. Selbst durch die geschlossene Tür dröhnten ihr die Maschinen entgegen. Wieder und wieder verfluchte sie den Tag, der ihr Leben für immer verändert hatte. Ihr beider Leben. Es war der 10. Februar gewesen. Zu mild für diese Jahreszeit. In den Nachrichten hatten sie vor möglichem Blitzeis gewarnt. Ein gewöhnlicher Mittwochmorgen. Sie hatten gemeinsam gefrühstückt und gelacht. Nie hätte sie gedacht, dass es sein Lachen sein würde, das sie am meisten vermisste! Sie hatten über das Baby gesprochen, - überlegt, ob es ein Mädchen oder ein Junge werden würde. Um acht Uhr hatte er sie auf die Wange geküsst und ihr einen schönen Arbeitstag gewünscht. Eine halbe Stunde später hatte sie sich selber auf den Weg gemacht. Im Radio brachten sie die Nachricht von einem schweren Verkehrsunfall auf der A4. Ein LKW-Fahrer hatte bei Glätte die Kontrolle über seine Zugmaschine verloren und dabei den neben ihm fahrenden PKW die Böschung hinab geschoben.
Als sie im Krankenhaus ankam, wurde sie bereits von einer völlig aufgelösten Kollegin empfangen. Aber Jenny war nicht bereit, sich ihre gute Laune verderben zu lassen. Was immer los war, konnte so wichtig nicht sein, dass es ihre Vorfreude auf das Baby trüben könnte! Zunächst verstand sie nur zwei Wörter: Dein Mann. Und: Unfall.
So sehr sie sich auch anstrengte, - in den ersten Sekunden, in denen diese Wörter in ihr Bewusstsein drangen, konnte sie zwischen ihnen keinerlei Zusammenhang herstellen. Doch dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag: Ihr Mann hatte einen Unfall gehabt! Sie spürte, wie ihr der Schreck in die Glieder fuhr. Sie war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. „Wo ist er?“

Gutgelaunt saß Paul in seinem neuen Auto; eine wahre Familienkutsche dieser Wagen! Er drehte am Lautstärkeregler des Radios: In the jungle the mighty jungle the lion sleeps tonight... Ein dumpfer Schlag erschütterte das Auto. Er spürte wie er die Kontrolle verlor. Tatenlos sah er zu wie in Sekunden der Abhang immer näher kam... Er fiel, überschlug sich. Der Sicherheitsgurt riss und sein Körper wurde umher geschleudert. Als er hart auf das Dach des Wagens auftraf, fühlte er seine Knochen brechen.

Es dauerte Wochen, bis Jenny ihren Mann mit nach Hause nehmen konnte. Der Unfall hatte sie beide zu Krüppeln gemacht. Sie seelisch. Ihn seelisch und körperlich.
Der Aufprall hatte sein Genick brechen lassen wie ein Streichholz. Er war vom Hals abwärts gelähmt, konnte nicht mehr eigenständig atmen. Das Baby und die Sorge um seine Frau hatten ihn am Leben gehalten. Darüber hinaus war an diesem Leben nichts mehr lebenswert für ihn. In langen Gesprächen hatten Jenny und er eine Abmachung getroffen. Sie hatte gesprochen, Fragen gestellt. Er hatte gezwinkert. Ganz klassisch. Einmal bedeutete ja, zweimal nein. Die einzigen Muskeln die er noch selber unter Kontrolle hatte.

Jenny öffnete die Tür und lächelte ihrem Mann entgegen. „Guten Morgen mein Schatz! Hast Du uns vermisst?“ Liebevoll streichelte sie dabei über ihren Bauch.
Er zwinkerte. Einmal. Und wie er sie vermisst hatte!
Sie trat an sein Bett, beugte sich über ihn. Er konnte direkt in ihre haselnussbraunen Augen blicken. Einen Augenblick zögerte er. Dann tat er es: Er blinzelte. Dreimal. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sie hatte es schon den ganzen Morgen gespürt. Dreimal. Das bedeutete, sie sollte die Maschinen abstellen. Sie wollte schreien: NEIN! Ich bin noch nicht so weit!! Stattdessen lächelte sie und fragte: „Bist Du Dir sicher?“
Ein Blinzeln.
Sie küsste ihn auf die Wange. Er spürte ihre heißen Tränen auf seiner Haut, die sich mit seinen eigenen mischten. Während sie mit geübtem Griff den Tubus entfernte, streichelte sie seine Stirn.

Er hörte den letzten Atemzug aus seinen Lungen entweichen.

 

Ein Text, der vielleicht auch ganz gut in Gesellschaft passen würde, denn die Diskussion wird sich recht sicher irgendwann auf Sterbehilfe einschießen. Natürlich nachdem sie geklärt hat, daß viel zu viele Geschichten mit dem Tod eines Protagonisten enden.

Gut. Der Text hat mir gut gefallen. Die verschiedenen Zeitebenen, nicht nur durch Rückblick, sondern auch durch Perspektivwechsel bedingt, schaffen keine Verwirrung sondern stehen m.E. genau da, wo sie hingehören. Vielleicht ist die Geschichte mit dem Hund etwas zu lang geraten, das mag aber mein persönlicher Eindruck sein. Trotz des Themas wird der Text an keiner Stelle zu sentimental, gerade am Ende, als die Ehefrau den Todeswunsch ihres Mannes bestätigt wissen will und dann lächelt, wird das sehr deutlich. Hier ist realisiert, was der Protagonist am Anfang des Textes nur sagt: sie versteht ihn. Sogar in diesem Äußersten seiner Wünsche.

PS: Der Titel gefällt mir.

 

Hallo!

Vielen Dank für Deine Kritik! Ich bin noch ganz neu hier und war mir auch nicht so ganz sicher, in welche Kategorie der Text am besten passt. Beim Schreiben/ Lesen habe ich auch manchmal das Gefühl gehabt, die Geschichte mit dem Hund sei zu lang, wollte sie aber auch nicht zu abrupt erzählen...
Um ehrlich zu sein, ist das erst meine 3. Kurzgeschichte. Vorher habe ich mich eher an längeren Texten versucht, die aber dann nie zu Ende gebracht.

Also vielen Dank nochmal!
Viele Grüße
Nadine

 

Hallo honkine,

herzlich Willkommen hier :) Auch mir hat deine Geschichte gut gefallen, du greifst das Thema Sterbehilfe sensibel auf. Während der kleine Paul sich emotional dagegen wehrt, dass ihm etwas geliebtes weggenommen wird, entscheiden die erwachsenen Paul und Jenny mit der Vernunft, mit dem Kopf. Inhaltlich will ich das Verhalten jetzt gar nicht bewerten, ob sie ein Recht dazu haben, Gott zu spielen. Wie cbrucher finde ich auch, dass du die Ebenen gut miteinander verknüpft hast. Und ja: auch ich finde die Stelle mit dem Hund ist etwas zu lang ;)

Zwei Sachen sind mir noch aufgefallen:

Ben, der Pauls Schritte schon von weitem erkannte, nutze die Chance, seinem Herrchen ungestüm entgegen zu laufen.
nutzte
„Paul, Du kannst Ben nicht mehr helfen, - niemand kann das.“, hatte sein Vater ihm zu erklären versucht. „Schau´ ihn Dir doch an.“, fiel seine Mutter ein.
die beiden Punkte vor dem Ende der wörtlichen Rede sind zu viel
„ICH WILL ABER NICHT DAS ER STIRBT!!!!“
nach nicht kommt ein Komma, das "das" dann mit ss.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hallo Juschi,

Vielen Dank! Habe die Fehler verbessert und werde doch noch mal überlegen, wie ich die Stelle mit dem Hund angemessen verkürzen kann!
Sterbehilfe ist tatsächlich ein heikles Thema. Ich kann aber aus eigener Erfahrung sagen, dass man sich in manchen Situationen wünscht (vielleicht sollte ich das nicht verallgemeinern: Das ICH mir gewünscht hätte), es gäbe eine gesetzliche Regelung, die einen solchen Schritt erlaubt.
Vielen Dank nochmal für´s Lesen und Dein scharfes Auge (auch nach mindestens zehn Mal lesen, sind mir die Fehler selber nicht aufgefallen!)

Liebe Grüße zurück
Nadine

 

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