In der Zwischenwelt kannten viele das Wesen und seine Bestimmung – aber sie wussten nicht, dass es wieder auf dem Weg war. Manches wäre vielleicht anders abgelaufen, hätten sie sein Erwachen geahnt.
Viele hundert Jahre war es her, seit das Untier an der Erfüllung seiner Pflicht gescheitert war, und ohne Begriffe wie Zeit, Vergangenheit und Sterblichkeit benennen zu können, würde es unbeirrt seinem einstmaligen Auftrag folgen.
Begonnen hatte alles mit der ersten Grenzüberschreitung ...
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Bruder Markus war es schon immer schwer gefallen, sich den Regeln des Klosters und des Ordens zu unterwerfen, aber inzwischen zweifelte er, ob die kleine Gemeinschaft, der er angehörte, die Bezeichnung Kloster noch verdiente. Drei durch Missernten geprägte Jahre hatten das Land ringsum veröden lassen, denn die Bauern hatten die Höfe verlassen, um als Tagelöhner irgendwo ihr tägliches Brot zu verdienen. Dadurch hatte Markus als Infirmarius kaum noch etwas zu tun, denn seine Hilfe wurde nur benötigt, wenn einer seiner Mitbrüder sich nicht wohl fühlte. Dadurch erhielt er die Gelegenheit, seinen eigenen Interessen zu folgen und viel Zeit in der Bibliothek zu verbringen. Nach dem Tod des Bibliothekars übernahm er dessen Aufgaben.
Sein - der Zeit entsprechend - kümmerliches Wissen über den Menschen und seine Anatomie wurde aufgewogen durch seine Neugier, denn jetzt endlich konnte er auch all jene Schriften studieren, welche der alte Bruder Stephanus ihm immer untersagt hatte.
Seltsame Berichte fanden sich in den verstaubten Regalen: Über geheimnisvolle Kräutermischungen und deren Wirkung, über aus heidnischer Zeit stammende Rituale und Beschwörungen, über Dämonen und Teufel, die sonst nirgends erwähnt wurden.
„Teufelszeug und Hexerei!“, brummte er immer wieder vor sich hin, aber mehr, um sein Gewissen zu beruhigen, denn aus Überzeugung. Dennoch hörte er nicht auf, tiefer in die Geheimnisse der alten Aufzeichnungen einzudringen. Hatte sein ursprüngliches Ziel noch darin bestanden, ein Mittel für sein schwaches Herz zu finden, so hatte er dieses bald gänzlich aus den Augen verloren.
Das Unheil begann, als er zwischen den theologischen Schriften eng zusammengerollt ein Blatt fand, welches älter zu sein schien als alles andere, was sich in dieser Bibliothek finden ließ. Es war staubig und brüchig, vergilbt und stellenweise kaum zu entziffern. Viel erstaunlicher war jedoch, dass es nicht in lateinischer Sprache geschrieben war, sondern auf Deutsch – nicht dem Deutsch, welches Markus sprach, sondern einem sehr altertümlichen mit sonderbarer Schreibweise. Zwei Wochen kostete es ihn, den Inhalt dieses Blattes nicht nur zu lesen, sondern auch zu verstehen, und weitere fünf Tage, während derer er mit sich rang, was er tun sollte. Denn beschrieben wurde eine Mischung verschiedenartiger pflanzlicher Stoffe, die ihn in einen geistig veränderten Zustand versetzen sollten, in dem er imstande wäre, eine andere Welt zu betreten.
Eine Welt, die angeblich gleichzeitig mit seiner Welt existierte, die er nur nicht sehen konnte. Die Rede war auch von einer weiteren, einer dritten Welt, über die der Urheber der Schrift sich jedoch nicht weiter äußerte.
Fünf Wochen kostete es Markus, alle beschriebenen Bestandteile zu sammeln. Während dieser Zeit starb der Abt, und da keiner der Brüder sich befähigt fühlte, dessen Amt einzunehmen, blieb das Kloster, und somit auch Markus, ohne geistliche Führung.
Markus war diese Situation nicht unlieb, denn er hätte befürchten müssen, dass der Abt ihm sein Tun untersagen würde. So aber – wen hätte er fragen sollen?
Er wartete bis zum nächsten Markttag; außer Bruder Antonius und Bruder Lukas, deren durch das Alter hervorgerufene körperliche Gebrechen den weiten Weg nicht mehr erlaubten, würden alle Brüder in die Stadt gehen, um den Überschuss des klostereigenen Gemüseanbaus zu verkaufen.
Mit sehr gemischten Gefühlen sah er ihnen nach, als sie noch vor Sonnenaufgang aufbrachen. Aber dann verlor er keine Zeit mehr. Er hatte den seltsamen Text so oft gelesen, dass er die genaue Zubereitung und Dosierung der einzelnen Zutaten auswendig wusste, und es kostete ihn nur eine halbe Stunde, um den beschriebenen Trank herzustellen. Nur kurz zögerte er, bevor er den Zinnbecher nahm, in den er den gefilterten Trank gegossen hatte, und ihn in einem Zug austrank.
Es dauerte nicht lange, bis ihm zunächst leicht übel wurde und erste Kopfschmerzen sich einstellten. Er beschloss, hinauszugehen, denn die stickige Luft im Inneren des Gebäudes kam ihm zäh vor, als würde er versuchen, Sirup einzuatmen, aber auch die kühle Morgenluft half nicht, im Gegenteil: Nur mühsam rang er nach Atem, vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen, er konnte nicht mehr klar sehen und sein Gesichtsfeld schränkte sich zunehmend ein, als blickte er durch einen Tunnel. Keuchend fiel er auf die Knie, sich seines Übergewichtes bewusst werdend, als er sich auf die Hände stützte.
Er wusste nicht, wie lange er so auf allen Vieren verharrt hatte, aber ganz langsam klärte sein Blick sich wieder. Vorsichtig, um keinen erneuten Anfall hervorzurufen, richtete Markus sich auf: Alles war wie immer. Kopfschüttelnd stand er auf, um zurück durch das Tor zu gehen, aber als er es ansah, veränderte es sich. Es wurde durchscheinend und es wurde etwas dahinter Liegendes sichtbar, immer deutlicher, bis die Klostermauern nicht mehr zu sehen waren. Verblüfft sah er sich um, aber nichts von dem, was er sah, war ihm vertraut. Weder war hier zuvor eine blühende Wiese gewesen, noch ein sich daran anschließender lichter Birkenhain. Als er sich umdrehte, war das Kloster immer noch verschwunden und nichts deutete darauf hin, dass es jemals an diesem Ort existiert hatte. Wo war er hier? War dies tatsächlich die in der Schrift beschriebene andere Welt? Konnte das sein?
Mit dem ihm eigenen Gleichmut ging er auf den fremden Wald zu, entschlossen herauszufinden, in was für einer Welt er sich nun befand.
Aber wer oder was auch immer hier leben mochte, verbarg sich vor ihm; außer ein paar entfernten Vögeln konnte Markus nicht einmal Tiere entdecken.
Als die Wirkung der Droge nachließ, fand er sich weit vom Kloster entfernt wieder; erst in tiefer Nacht erreichte er das Tor. Wie sollte er erklären, wo er gewesen war? Aber er hatte Glück, denn Bruder Paulus öffnete ihm, der jüngste der Brüder, der es kaum wagen würde, dem angesehenen Infirmarius und Bibliothekar Vorwürfe zu machen oder Fragen zu stellen.
In den folgenden Wochen legte der neugierige Mönch sich einen stattlichen Vorrat der benötigten Zutaten zu, um jede Gelegenheit zu nutzen, diese andere Welt aufzusuchen. Weiter und weiter erkundete er sie, und im Laufe der Zeit gelang es ihm, ihre Bewohner zu sehen. Zuerst nur Tiere, wie er sie kannte, aber immer häufiger begegnete er Lebewesen, wie sie vielleicht in alten Märchen und Sagen beschrieben wurden, und er fragte sich, ob die Urheber dieser alten Überlieferungen ebenfalls in dieser Welt gewesen sein mochten.
Es dauerte einige Monate, bis er es bewusst wahrnahm, aber er selbst veränderte sich. Seine Hände sahen anders aus, als er sie kannte, denn die Finger wurden länger und schmaler, die Nägel erinnerten an Krallen, und rötliches Haar bedeckte seinen Handrücken. Wenn er sich in der spiegelnden Oberfläche eines stillen Tümpels sah, erkannte er, dass seine Gestalt sich ebenfalls veränderte: Er wurde schlanker, kantiger, und seine schütteren, mit Weiß durchsetzten Haare wurden wieder voller. Aber all diese Veränderungen schien nur er selbst sehen zu können, denn seine Brüder hätten ihn gewiss darauf angesprochen.
Als sehr angenehm empfand er seine geschärften Sinne, denn sowohl sein Geruchssinn und sein Gehör, als auch seine Sehkraft verbesserten sich kontinuierlich.
Nach einem Jahr benötigte er den Trank nicht mehr; es genügte, einen bestimmten Baum, oder auch nur eine Blume, genau anzusehen, um in die andere Welt überwechseln zu können, und ebenso leicht konnte er wieder zurückkehren.
Schon lange zeichnete er alles auf, was er zu sehen bekam, so auch seine erste Begegnung mit einem menschlichen Bewohner. Es war eine elfengleich zarte, weißblonde junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie war verwirrt, als sie seiner ansichtig wurde, denn sie hielt ihn für ein Wesen aus der Zwischenwelt, wie sie selbst eines war, und aus diesem Grund ließ sie ihn gehen, obwohl es ihre Aufgabe gewesen wäre, ihm den Zugang zu verwehren.
Tatsächlich aber ging sie noch weiter, denn Markus erinnerte sich an die Erwähnung einer weiteren Welt in der alten Schrift und fragte sie danach.
Sie zögerte mit ihrer Antwort, aber ausgehend von ihrer irrtümlichen Annahme, er hätte den gleichen Ursprung wie sie, zeigte sie ihm, auf welche Weise er Zugang erhalten konnte.
Nur wenige Schritte konnte er in diese nochmals andere, noch viel fremdartigere Welt tun, als das Wesen ihn entdeckte. Instinktiv erkannte es, dass er keineswegs ein Wächter aus der Zwischenwelt war, der wechseln durfte, und stürzte sich auf ihn. Markus gelang es, sich zurück in die Zwischenwelt zu retten, aber durch seine Ungeschicklichkeit blieb der Durchgang lange genug offen, um das Wesen hinter ihm her ebenfalls durchzulassen.
Die kleine Wächterin, die erst jetzt ihren verhängnisvollen Fehler erkannte, stand nun vor dem Problem, das Wesen keinesfalls weiterhin Markus folgen zu lassen, es hätte schon nicht in ihre Welt gedurft, und so kam es zum Kampf zwischen ihr und diesem Ungeheuer.
Er dauerte lange, aber endlich hatte sie es soweit bezwungen, dass es in eine tiefe, totenähnliche Starre verfiel; aber es lebte, trotz seiner schweren Verletzungen. Die Hälfte seiner linken Vordertatze hatte es eingebüßt, und ohne das Wissen der Wächterin steckte Markus diese ein und nahm sie mit zurück in seine Welt.
Für lange Zeit ging Markus nicht mehr über die Grenze. Er experimentierte mit der Tatze – mit dem Fleisch, dem Blut, und schließlich mit den Knochen. Sehr schnell bekam er heraus, dass der Knochen die größte Wirkung zeigte: Wenn er einen winzigen Teil zu Pulver zermahlte und mit Wasser trank, wurde seine Wahrnehmung der Zwischenwelt immer deutlicher, und auch er selbst veränderte sich immer mehr. Er wurde zu einem Zwischenwesen.
Ohne weiter zu überlegen mischte er dieses Knochenpulver in den Vesperwein seiner wenigen verbliebenen Brüder, denn sowohl Antonius als auch Lukas waren inzwischen gestorben, es waren nur noch sechs, außer ihm selbst.
Und bei ihnen allen zeigte sich die Wirkung, und es kostete Markus anschließend viele Stunden, um ihnen zu erklären, was alles vorgefallen war.
Erschüttert in ihren Glaubensgrundsätzen von nur einem Gott und nur einer Welt fanden sie sich zu weiteren Versuchen bereit, und es dauerte nicht lange, bis sie alle zu Zwischenwesen geworden waren, wie Markus eines war.
Auch sie besuchten von nun an häufig die Zwischenwelt, und entdeckten Geheimnisse, die niemals hätten aufgedeckt werden dürfen.
Jeder von ihnen schreib einen Teil davon nieder, so dass sieben Schriftrollen entstanden, aber in keiner stand die ganze Wahrheit. Sie verbargen sie tief in den ausgedehnten Kellergewölben des Klosters, eine jede in einem anderen Raum und auf andere Weise vor neugierigen Augen verborgen.
Als in einer klaren Nacht ein mysteriöses Feuer im Kloster ausbrach, wodurch die Kellergewölbe und der Dachstuhl einstürzten, nahmen die sieben Mönche ihre Geheimnisse mit ins Grab. Denn von den Schriftrollen und den noch vorhandenen Knochen wusste niemand ...