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Jähe Veränderung

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Liz

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12.07.2002
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Jähe Veränderung

Er erwachte im fahlen Mondlicht, nicht wissend, wie lange er so da gelegen hatte. Die Kühle der Nacht war eine Wohltat für sein verschwollenes Gesicht. Auf seiner gestrigen Flucht durch den Wald hatten sich Fliegen an seinen Lidern und Lippen zu schaffen gemacht und die Schwellung sowie einen brennenden Juckreiz verursacht. Er war zu panisch gewesen, um sich zu ekeln, was eigentlich eine Untertreibung war. Zu Tode geängstigt brachte es eher auf den Punkt. Vorsichtig bewegte er seine Gliedmaßen. Die verletzte Schulter bereitete ihm Höllenqualen. Geräusche hallten durch die Nacht. In der Ferne knackte das Unterholz.

So durstig.

Er verlagerte seinen Körper in eine Position, die es ihm erlaubte, das von der Nachtluft nasse Gras abzulecken. Seine Zunge war ein pelziges Etwas, dass schmerzhaft an seinem Gaumen klebte. Nach dieser Kraftanstrengung sank er schlaff zusammen, halb bewusstlos und fiebrig vor sich hindämmernd. Blut sickerte aus der durch die Bewegung aufgebrochenen Schulterverletzung und durchnässte sein T-Shirt.

„Ich bin nicht unverwundbar“, dachte er unzusammenhängend, „dies zu glauben ist anmaßend, eitel und arrogant. Gefährliche Eigenschaften, die einen jederzeit in eine missliche Lage bringen können. Welch fataler aber dennoch menschlicher Irrtum, von der eigenen Unverwüstlichkeit überzeugt zu sein.“

Vorerst war er sich sicher, dass er seine Verfolger abgehängt hatte. Vermutlich spielte es keine Rolle, weil er in diesem Wald sterben würde. Er dachte an seine Familie und ließ den Tränen freien Lauf. Das brennende Gebäude stand vor seinen Augen, ein Inferno des Todes, ein Grab für drei Menschen. Ausgelöscht. Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Die guten Tage waren vorbei. Es würde keine Angelausflüge mehr geben, keine Streitereien am Frühstückstisch und keine Auseinandersetzungen zum Thema Partys, die er nach Meinung seiner Eltern in zu hohem Ausmaß besuchte. Keine Spielabende mit der Familie, an denen er eher belustigt als begeistert teil genommen hatte. Nie wieder würde er seine Schwester mit der ganzen Erhabenheit eines 14-jährigen necken können. Nie wieder würde er seine Mutter im Tennisdress vorbeihasten sehen, ihm einen fröhlichen Kuss auf die Stirn verpassend, den er mit gequältem Gesichtsaudruck über sich ergehen ließ. Keine Grillabende mehr, bei denen sein Dad manchmal zuviel Wein trank und anschließend redselig die ganze Familie mit seinen Späßen unterhielt.

Kein geordnetes Vorstadtleben. Für ihn nicht mehr. Eine jähe Veränderung, die seinen Verstand völlig überforderte.

Er war nichts weiter als ein verängstigter, schwer verletzter 14-jähriger Junge, der an einem Tag seine Eltern und seine Schwester verloren hatte, fast zu Tode gehetzt worden war und denn Grund dafür nicht kannte. Tatsächlich verweigerte er schlicht und einfach den Grund zu kennen, um nicht durchzudrehen.

Tief in seinem Innersten versuchte ein düsteres Geheimnis brüllend seinem Gefängnis zu entweichen. Noch hielt die Festung dem Ansturm stand. „Nicht nachdenken“, befahl ihm sein überreizter Verstand.

Marc fiel in einen unruhigen Schlaf.

 
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Es stellte sich allerdings erst später heraus, dass es sich hierbei um ein Betutensil jenes Bruder Markus handelte, der damals das alte Schriftstück gefunden und erste Versuche unternommen hatte, in die Zwischenwelt zu gelangen.
Zunächst einmal war es nur ein einfaches Schmuckstück, eine Kette aus Holzperlen mit einem kleinen Kreuz, die Cynthia vor vielen Jahren in der Nähe der Siedlung gefunden hatte.
„Ich würde zu gerne wissen, wem dieser Rosenkranz gehört hat“. Cynthia liess die Perlen durch ihre schmalen Hände gleiten.
„Das wäre doch eine gute Gelegenheit, dich noch ein wenig im Umgang mit deiner Gabe zu üben“, lächelte sie Marc verschmitzt an. Dieser nickte eifrig, denn er hatte auf eine solche Gelegenheit nur gewartet. Er brauchte einfach noch einen weiteren Beweis, dass seine Gabe wirklich existierte. Cynthia legte die Holzkette in seine Hände und setzte sich auf den kleinen Hocker, der neben dem Bett stand. Vorsichtig umfasste Marc die Perlen und spürte sofort wieder diese unheimliche Hitze, wie schon vorher, als er den Anhänger seines Vaters berührt hatte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Gegenstand in seinen Händen. Dann war es auf einmal, als ob er in ein tiefes, schwarzes Loch fiele, und er verlor das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam, lag er nicht mehr in Lynns Bett, sondern sass auf einem unbequemen Holzschemel, den Rücken an eine kühle Felswand gelehnt. Es war dunkel, erst zwei Uhr morgens, wie Marc auf seiner Uhr erkennen konnte. Fahles Mondlicht fiel durch eine schmale Luke und ermöglichte es Marc, die Umrisse eines zellenartigen Raumes zu erkennen. Neben dem Schemel, auf dem er sass, konnte er eine Art Pritsche ausmachen, auf der jemand lag. Dem Körperumfang und den lauten Schnarchtönen zu Folge schien es sich bei dem Schlafenden um einen Mann zu handeln. Bevor Marc noch weiter darüber nachdenken konnte, ertönte auf einmal das Läuten einer Glocke. Der Mann erhob sich von der Pritsche und zündete eine Kerze an. In ihrem Schein erkannte Marc, dass der Mann eine schwarze Mönchskutte trug. Sein Alter konnte man schlecht schätzen, da er eine Tonsur hatte, das hiess, sein Kopf war bis auf einen schmalen Haarkranz vollkommen kahlrasiert, wodurch er erheblich älter wirkte. Der Mönch nahm die Kerze, griff nach dem Rosenkranz, der neben dem Bett gelegen hatte und verliess den Raum. Langsam erwachte Marc aus seiner Erstarrung und beschloss, dem Mönch zu folgen. Dieser ging bereits zusammen mit einer Gruppe von anderen Klosterbrüdern einen langen Gang hinunter, dabei sangen sie einen lateinischen Singsang, den Marc nicht verstand. Vorsichtig schlich er hinter ihnen her.
Mittlerweile war die Gruppe vor einem grossen Portal angelangt. Es öffnete sich und gab den Blick auf das Innere der Klosterkirche frei. Nachdem die Mönche das Gotteshaus betreten hatte, wurde die Kirchentür wieder geschlossen. Nur ein einziger Bruder blieb vor dem Eingang stehen, das Gesicht zur Wand gerichtet. Marc verbarg sich hinter einer Säule und wartete darauf, dass die Mönche die Kapelle wieder verlassen würden. Nach einer guten halben Stunde, öffnete sich die Tür wieder. Der Mönch, der an der Kirchenwand gestanden hatte, legte sich quer vor den Eingang auf den Boden, das Gesicht nach unten gerichtet und die Hände seitwärts ausgestreckt. Er verharrte so lange in dieser Position, bis alle anderen Klosterbrüder über ihn hinweggestiegen waren. Erst dann erhob er sich und folgte als Letzter der Gruppe, die sich nun wieder Singenderweise auf den Weg machte.

Ein Grossteil der Mönche begab sich zurück in das sogenannte Dormitorium, indem bis zur Laudes, dem Morgenlobgottesdienst weiter geruht wurde.
Marc erfuhr später, dass es sich bei dem Dormitorium um einen grossen, ungeheizten Saal handelte, in dem die Klosterbrüder ihre Nachtruhe verbrachten. Sie schliefen alle nebeneinander auf Binsenmatten, wobei streng darauf geachtet wurde, dass aus Keuschheitsgründen immer ein älterer Mönch zwischen zwei jüngeren lag. Ausserdem brannten die ganze Nacht über Kerzen zwischen den Schlafenden, und um das Böse (die Versuchung) im Schlafsaal zu verscheuchen, wurden zur Nachtzeit stets Kontrollgänge mit Weihwasser unternommen.

Der Mönch, dem Marc gefolgt war, ging ebenfalls in seine Zelle zurück.
Marc beschloss, dass es nun an der Zeit wäre, sich bemerkbar zu machen, wenn er herausfinden wollte, wo er sich befand. Als der Klosterbruder die Tür seiner Zelle schliessen wollte, rief Marc: „Halt, warten Sie.“
Der Mönch drehte sich erschrocken um und bekreuzigte sich, als er Mark erblickte.
„Beim Heiligen Geist, wer seid Ihr? Wie kommt Ihr hier her?“
„Ich heisse Marc“, stellte dieser sich vor.
„Rasch, kommt herein, bevor Euch einer der anderen Brüder sieht.“ Der Mönch wusste natürlich nicht, dass nur er ihn sehen konnte. Schnell zog er Marc in den Raum und verschloss die Tür.
„ Was habt Ihr nur für seltsame Kleider an“. Vorsichtig befühlte der Pater den Stoff von Marcs Jeans und T-Shirt. Der Mönch selber trug eine bodenlange, schwarze Kutte aus grobem Leinenstoff, um die er einen Ledergürtel geschlungen hatte, und ein ebenfalls bis zu den Füssen reichendes, weisses Skapulier, welches aus zwei, brust- und rückwärts herabfallenden Stoffstreifen mit einer angenähten Kapuze bestand.
„Können Sie mir bitte sagen, wo ich hier bin?“, fragte Marc.
„Du befindest dich im Kloster zu Kassel, mein Name ist Bruder Markus“, begann der Mönch und bis zum nächsten Gebetsgottesdienst, der Laudes, erzählte er Marc alles Wissenswerte über den Orden. Es war kein reiches Kloster, indem die kleine Ordensgemeinschaft streng nach den Regeln des Heiligen Benidiks lebte, und einige Missernten in den vergangenen Jahren hatten die Lage nur noch verschlechtert. Die Zahl der Brüder hatte sich durch eine Pestepidemie drastisch verringert. Neben sechs Brudermönchen gab es nur noch den Abt, einen alten Greis, der an der Spitze des Klosters stand und an Gicht litt, den Zellerar, dem die Leitung des gesamten Wirtschaftsbereiches des Klosters unterstand, den Vestiarius, der für die Kleiderausgabe und deren Instandhaltung verantwortlich war, den Camerarius, der die Mönchsküche unter sich hatte und schliesslich den Sacratarius, der sich um den Unterhalt und die Ausstattung der Kirche und der Sakristei kümmerte.
Bruder Markus war anfänglich Infirmarius gewesen und hatte die kranken Klosterbrüder und die Bauern, die ausserhalb der Klostermauern auf gepachteten Höfen lebten, versorgt. Als jedoch der alte Bruder Stephanus, dem bis dahin die Bibliothek unterstanden hatte, gestorben war, hatte Pater Markus auch dessen Aufgaben mit übernommen.
Nun war es an Marc, Bruder Markus zu berichten, wie er in das Kloster gelangt war. Er erzählte ihm vom Tod seiner Eltern und Schwester und wie er Lynn und Cynthia kennen gelernt hatte, und von seiner besonderen Gabe. Das Geheimnis um die verschiedenen Welten erwähnte er jedoch noch nicht.
Das Leuten der Glocke unterbrach Marks Redefluss. Bruder Markus musste zur Laudes und forderte Marc auf, in der Bibliothek auf ihn zu warten. Der arme Pater befand sich in einem argen Zwiespalt, da er gerade gegen eine der wichtigsten Regeln des Ordens, das Schweigegebot, mehrfach verstossen hatte und normalerweise nun dazu verpflichtet war, dieses seinen Brüdern zu beichten und dafür Busse zu tun.

Während Bruder Markus seinen Mitbrüdern zur Messe folgte, machte sich Marc auf, die Bibliothek zu suchen. Er kam am Dormitorium der einfachen Mönchsbrüder vorbei ( die studierten Priestermönche, zu denen auch Pater Markus gehörte, hatten ihre eigenen abgeschlossenen Zellen)und am Refektorium, dem Speisesaal der Mönche. Er ging durch einen langen Kreuzgang und passierte schliesslich den Kapitelsaal, der den Mönchen als Versammlungsstätte diente, bevor er endlich die Bibliothek mit dem daran anschliessenden Scriptorium erreichte. Die Bibliothek hatte, im Gegensatz zu den anderen Räumen grosse Fenster, die bis auf den Boden hinabreichten und nicht, wie in der Kirche, aus buntem, sondern aus transparentem Glas gefertigt waren und somit für eine ausreichende Versorgung des Raumes mit Tageslicht sorgten. Vor den Fenstern standen kleine Schreibpulte mit einfachen Holzschemeln davor. An den Wänden des Raumes befanden sich Bücherregale, die von der Decke bis zum Boden reichten. Staunend betrachtete Marc die vielen alten Bücher. Gerade als er eines herauszog, um es näher anzuschauen, öffnete sich die Tür und Bruder Markus trat ein.

 
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„Und, habt Ihr Euch schon ein wenig umgeschaut?“, fragte er.
„Unser Kloster besitzt einige interessante Werke. Erst vor ein paar Tagen habe ich ein altes Schriftstück zwischen zwei Büchern entdeckt. Es ist allerdings nicht in Latein geschrieben, sondern in einem sehr alten Deutsch. Ich bin gerade damit beschäftigt, den Text zu übersetzen.“
Marc wurde neugierig. „Würdet Ihr mir das Blatt einmal zeigen?“ Automatisch war auch er zu der im Mittelalter üblichen Anrede in der zweiten Person übergegangen, obwohl dies sehr ungewohnt für ihn war. Bruder Markus zog ein dickes Buch aus einem der Regale und schlug die Seiten auf, zwischen denen er das vergilbte Pergament und seine angefangene Übersetzung aufbewahrte. Vorsichtig nahm Marc das alte Schriftstück in die Hand. Es war jedoch an einigen Stellen so brüchig, dass er es schnell wieder zurücklegte, da er befürchten musste, dass es jeden Augenblick zu Staub zerfallen würde. Ausserdem hatte ein kurzer Blick darauf genügt, um zu erkennen, dass er auch nicht ein Wort dieser seltsamen Schriftzeichen entziffern konnte. Auch mit der lateinischen Übersetzung konnte er nichts anfangen.
„Dort wird eine weitere Welt erwähnt, die es neben der unsrigen geben soll“, sagte Markus. „Und ein Rezept für einen Trank, der es demjenigen, der davon trinkt, ermöglicht, in diese andere Welt zu gelangen. Ich versuche gerade, die genaue Zusammensetzung dieser Mixtur herauszufinden.“
Marc begann langsam zu verstehen. Es konnte sich bei dieser anderen Welt nur um dieselbe Zwischenwelt handeln, in der er sich zur Zeit befand, und Bruder Markus musste jener Mönch sein, dem es durch seine Versuche gelungen war, als erster in eben diese Zwischenwelt zu gelangen. Das hiess, ob er wirklich der Erste gewesen war - wer wollte das schon wissen, schliesslich musste ja auch irgend jemand dieses erste Schriftstück verfasst haben, das der Pater in der Klosterbibliothek entdeckt hatte. Auf jeden Fall war er, Marc zu dem Zeitpunkt in die Vergangenheit zurückversetzt worden, an dem Bruder Markus noch ganz am Anfang seiner Forschungen gestanden hatte.
Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Klosterbruder betrat den Raum. Es war zu spät für Marc, sich noch irgendwo zu verstecken und so verharrte er starr vor Schrecken neben Markus, der nicht minder bleich wurde. Wie würde der Mönch reagieren, wenn er diesen seltsam gekleideten Gast erblickte? Doch nichts geschah, der Bruder ging auf Markus zu, als ob nichts gewesen wäre und teilte diesem mit, dass der Abt ihn zu sprechen wünsche. Sogleich verschränkte er seine Hände wieder unter dem Skapulier und verliess den Raum. Er hat mich gar nicht gesehen, triumphierte Marc innerlich, er kann mich wahrscheinlich gar nicht sehen. Nur Markus nimmt mich wahr. Ja, so muss es sein, deshalb hat mich auch Elli nicht bemerkt, als ich wieder in meinem Zimmer war und Dad an meinem Bett gesessen hat. Nur die Personen, deren Gegenstände ich in die Hand nehme, können mich sehen.
„Warum hat Euch Bruder Antonio nicht wahrgenommen?“, fragend blickte der Pater Marc an. Mit knappen Worten berichtete ihm Marc von seiner gerade gewonnenen Erkenntnis. „Wenn das so ist, dann könnt Ihr mich ja zum Abt begleiten. Ausserdem beginnt gleich das Morgengebet, die Prim. Also, kommt, gehen wir.“

„Marc, Marc, kannst du mich hören? Marc, komm zurück.“ Die zunächst leise Stimme gewann immer mehr an Lautstärke und Marc spürte, wie ihn etwas am Arm berührte. Auf einmal hatte er das Gefühl, als ob er durch ein enges Rohr nach oben gesaugt würde. Er öffnete die Augen und sah Cynthia, die sich mit besorgtem Blick über ihn gebeugt hatte.
„Endlich, ich hatte schon richtig Angst um dich. Du hast seit Stunden in so einer Art Wachkoma gelegen. Erzähl, was hast du erlebt?“ Marc fühlte sich noch ein wenig benommen, doch langsam begann er von seinem Ausflug ins mittelalterliche Kloster zu berichten.
„Dann gehörte der Rosenkranz also dem Pater, der in die Zwischenwelt gelangt ist. Ich glaube, eine meiner Schwestern ist ihm damals begegnet.“
„Aber eine Sache verstehe ich nicht“, Marc kratzte sich am Kinn. „Du und Lynn, ihr habt mir doch erzählt, das John dieses Schriftstück gefunden hat, auf dem die Zwischenwelt erwähnt war und ein Hinweis, dass noch sechs weitere dieser Schriften existieren. Warum hat der Pater dann nichts von mir darauf vermerkt. Es muss doch ein ziemlicher Schock für ihn gewesen sein, als ich auf einmal in seiner Klosterzelle aufgetaucht bin. Und er hat mir ja auch das vergilbte, alte Blatt gezeigt.“
„Das haben wir wohl vergessen, dir zu sagen“, klärte Cynthia Marc auf. „Sobald du diejenigen, zu denen du dich hinversetzt hast, wieder verlässt, wissen sie nichts mehr von der Begegnung mit dir. Das heisst also, das du für den guten Bruder Markus in Wirklichkeit nie existiert hast.“
„Aber es war alles so real. Ich habe die Schriftzeichen noch genau in meinem Kopf.“
Und nun entdeckte Marc eine weitere Gabe, von der noch nicht einmal Lynn und Cynthia bisher etwas gewusst hatten. Er schien über so etwas wie ein fotogenes Gedächtnis zu verfügen. Er nahm ein Blatt Papier und einen Stift und kopierte haargenau aus dem Kopf die fremden Schriftzeichen . Es war, als ob ein Foto des alten Dokuments vor seinem inneren Auge befestigt wäre.
„Marc, das ist ja fantastisch“, jubelte Cynthia und klatschte vor Begeisterung in die Hände. „Was wird nur Lynn dazu sagen?“ Sie schaute auf das Stück Papier und zog sogleich die Mundwinkel nach unten. „Diese Schriftart kenne ich nicht und ich glaube auch nicht, das die anderen Wächterinnen sie schon einmal gesehen haben.“
„Könntet ihr denn mit einer lateinischen Übersetzung etwas anfangen?“
„Aber ja, Gwendolin versteht Latein .“ Und sogleich blickte Cynthia eifrig über Marcs Schultern und schaute diesem zu , wie er in Null Komma nichts die angefangene lateinische Übersetzung von Bruder Markus auf ein Blatt schrieb. Staunend schüttelte Cynthia den Kopf.
„Marc, ich hoffe, du bist dir darüber im Klaren, dass wir jetzt erst recht mit allen Mitteln verhindern müssen, dass du John in die Hände fällst.“

 
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Lynn saß mit geschlossenen Augen unterhalb des Baumhauses am See. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg aus der Zwickmühle, in der sie sich befand. Einerseits hatte sie das Bedürfnis, die Weisung des Rates zu ignorieren, um im Ernstfall helfend eingreifen zu können, andererseits würde eine Agitation gegen einen offiziellen Beschluss unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen und eventuell mit einem endgültigen Rauswurf aus der Gemeinschaft enden. Was dann? Die Vorstellung, bis an ihr Lebensende einsam zwischen den Welten hin und her zu wandern, erfüllte sie mit Trauer. Immerhin waren ihre Schwestern ein Familienersatz, den sie nicht missen mochte. Auch wenn sie nicht immer die selbe Wellenlänge hatten, fühlte sie sich doch wohl und geborgen in diesem `Nest`. Völlig abwegig erschien ihr der Gedanke, an den Ort ihrer Geburt zurückzukehren. An jenem Ort wäre sie nur eine Fremde unter Fremden. Vielleicht hatten die `großen Weisen` damals einen Fehler begangen, als sie sie auserwählten. Möglicherweise war bei dieser Entscheidung nicht Lynns Eignung ausschlaggebend gewesen, sondern die Tatsache, dass sie als Vollwaise der Dorfgemeinschaft zur Last gefallen wäre. Was, wenn sie alles zu schwarz sah, wie Gwen behauptet hatte? Wenn nicht die anderen blind waren, sondern sie selbst?
Sie fühlte sich entsetzlich hilflos. Silbrig schillernde Tränen rannen über ihr ernstes Gesicht und benetzten die Steine unter ihren Füßen. Etwas berührte sie sanft an der Schulter. Erschrocken öffnete sie die Augen, drehte sich um und bemerkte erst jetzt die Chimafelida direkt hinter sich. Lächelnd und dankbar über diese unverhoffte Form der Zuwendung begann sie streichelnderweise ihre Selbstzweifel in geordnete Bahnen zu lenken.
Schweren Herzens würde Lynn geduldig auf das Kommende warten.

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Nach und nach hatten sich außer Lynn, Cynthia und den Wächterinnen, die an den Übergängen Dienst taten, alle Bewohnerinnen der Siedlung in dem hölzernen Versammlungsgebäude eingefunden, um das gemeinschaftliche Leben zu genießen. Die meisten von ihnen befanden sich locker verteilt auf Interessengruppen in einem großen Raum, dem Hauptsaal. Künstlerische Tätigkeiten wie Malen und kreatives Gestalten erfreuten sich größter Beliebtheit, doch auch weniger hoch angesehene, frauentypische Rituale wie Frisieren, Verkleiden und Maskenbilden hatten ihre Anhängerinnen. In einem benachbarten Raum tauschten Erzählerinnen, die sich der Dichtkunst verschrieben hatten, ihre neuesten Werke aus, während aus schalltechnischen Gründen weiter entfernt untergebracht, musikalische Neuschöpfungen erprobt wurden. Alle Räume waren geschmückt mit Bildern, Skulpturen und sonstigen dekorativen Beweisen der mannigfaltig wirkenden Schwesternschaft.

Cynthia betrat, Marc hinter sich her ziehend, den großen Hauptsaal. Sofort unterbrachen die anwesenden Frauen ihre Tätigkeiten und richteten ihre Aufmerksamkeit auf die beiden Ankömmlinge, die zielstrebig auf Gwendolyn zusteuerten. Dort angekommen, ergriff Cynthia das Wort.
„Entschuldige bitte die Störung, Gwendolyn, aber ich habe eine Bitte an dich.“
„Wenn es wegen Lynn sein sollte, muss ich dich leider enttäuschen.“
„Nein, es geht zunächst um etwas anderes.“

 
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John spürte sofort, dass Marc und seine Helferinnen vor kurzem noch in der Höhle gewesen sein mussten und knurrte wütend. Wieder hatten sie zuviel Zeit verloren!
Sein Blick schweifte über den See und den Boden. „Sie haben hier gerastet, nehme ich an“, sagte er und deutete auf die Abdrücke menschlicher Füße, die in dem feinen Staub erkennbar waren.
Marcel schien ihn nicht gehört zu haben; witternd schwenkte er den Kopf von einer Seite zur anderen und bewegte sich auf einen der Tunnel zu, die aus der Höhle mit dem See hinausführten, ohne auf John zu achten.
John war das ganz recht so, fürchtete er doch, mit einigen unliebsamen Überraschungen konfrontiert zu werden. Als er allerdings ein entferntes Brüllen vernahm, das nicht weit von dem Höhleneingang entfernt abgegeben worden sein konnte, beeilte er sich, Marcel zu folgen.

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Das Wesen hatte lange gesucht, um die Spur wieder zu finden, die John hinterlassen hatte. Es hatte eine weitere Witterung aufgenommen, die aber schwerer zu finden war, da sie vermischt und überlagert wurde von der Spur zweier Wächterinnen, und diesen zu folgen war nicht seine Absicht. Aber jetzt war es wieder fündig geworden, es waren sogar zwei, die es finden musste: Der eine, dessen Geruch ihm bereits vertraut war, und ein weiterer, welcher ihm noch viel deutlicher die Richtung wies. Instinktiv wusste das Wesen, dass dieser Zweite entfernt von seiner eigenen Art war – weit mehr, als der Betreffende ahnen konnte.
Als Geschöpf der jenseitigen Welt kannte es die für Menschen gültigen Grenzen der Zwischenwelt nicht, es nahm sie nicht einmal wahr. So bereitete es ihm auch keine Schwierigkeiten, die unsichtbare Grenze vor den Höhlen zu überwinden und in das Labyrinth einzudringen.

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Marcel bewegte sich immer schneller. Er wusste, welchen Weg Marc und diese Wächterinnen eingeschlagen hatten; ohne Zögern bog er rechts und links ab und je weiter er vordrang, desto sicherer wurde er: Das Ziel befand sich dicht vor ihm.
Aber als er statt des erwarteten Ausgangs ins Freie auf eine aus Eis und Fels bestehende Wand traf, stockte er. Sie waren hier gewesen, und hier hatten sie die Höhlen verlassen – eine Spur frischer Außenluft war noch verblieben, genug, um ihn zu überzeugen, dass er sich nicht irrte.
„Und jetzt?“, fragte John, der neben ihn getreten war. „Etwas verfolgt uns, und ich glaube nicht, dass es freundliche Absichten hegt!“
Marcels Nasenlöcher blähten sich, als er sich kurz umwandte und schwach erfasste, dass John Recht hatte. Aber noch war das unwichtig, diese Wand war es, die er verstehen musste. War sie eine Illusion? War sie ein aus ihm unbekannter Magie gewobener Zauber? Wer hatte sie errichtet? Es konnten nur die Wächterinnen gewesen sein, denn Marc, diesem unwissenden menschlichen Jungen traute er Kräfte dieser Art nicht zu. Und nach dem, was John ihm über sie erzählt hatte, hielt er auch die Wächterinnen nicht für wirklich gefährlich, und ebenso wenig die Hindernisse, die sie sich erdachten, um ihn aufzuhalten. Ihn? Nein, John. Von ihm wussten sie wahrscheinlich nichts. Zufrieden fletschte er die Zähne: Er freute sich auf die Überraschung, die er ihnen bereiten würde.
John wurde immer nervöser, denn er ahnte, dass er dem, was ihnen gefolgt war, wahrscheinlich unterlegen sein würde. Sie mussten weiter, mussten diese Höhle verlassen, auf welchem Weg auch immer. „Marcel“, sprach er in beschwörendem Ton auf diesen ein. „Du musst den Weg finden! Vielleicht ist es gar nicht real?“
Marcel fuhr versuchsweise mit seinen Krallen über den Eisfelsen. Es ertönte ein grauenhaftes Geräusch, als ob das Gestein aufschreien würde, und die Furchen, die er hinterlassen hatte, glühten rötlich, als habe er das Material hoch erhitzt. Das Geräusch gefiel Marcel und er hieb ein zweites Mal seine Krallen in den Fels, der ihm den Weg versperrte. Noch lauter erklang es diesmal. Stundenlang hätte Marcel diesen Schreien zuhören können, aber die Zeit drängte. Endlich konnte er seiner Lust am Zerstören nachgeben und hieb die Krallen beider Hände tief in die vorher gezogenen Rillen. Sofort leuchteten sie hell auf, während markerschütternde Schreie sein Tun begleiteten. Er brauchte nicht lange; schon nach wenigen Minuten wurde eine Öffnung sichtbar, und wenig später standen sie auf dem schmalen Sims. Und vor sich sahen sie Lynn.

Sie schien in der Luft zu stehen, schwebte frei über einem namenlos tiefen Abgrund. Marcel grinste, als er sie sah: Sie hatte einen Fehler gemacht, denn durch ihre Position verriet sie ihm, dass es sich wieder nur um eine Illusion handeln konnte, die ihm vorgaukeln sollte, dass es keinen Weg über die Schlucht gab. Aber sie stand dort, also gab es einen Weg. Seine Augen verengten sich, als er nachzuvollziehen versuchte, was sie tat, und tatsächlich erkannte er die sanft schwingende Hängebrücke.
Aber anstatt zu fliehen, als er die Brücke betrat, begann sie zu singen. Erkannte sie, dass sie ihm nicht mehr entkommen würde? Klagte sie bereits über ihren unmittelbar bevorstehenden Tod? Entschlossen ging er weiter. Er würde dafür sorgen, dass dies ihr Schwanengesang würde! So sicher er sich war, irritierte ihn jedoch, wie sie sich veränderte. Nicht, dass sie durchscheinender wirkte, darauf achtete er nicht, aber dass sie eine rotgoldene Farbe annahm – diese Farbe verhieß nichts Gutes, sie signalisierte ihm Gefahr.

Plötzlich brach sie ab, wandte sich um und rannte auf die andere Seite der Brücke. Verdutzt sah er ihr nach. Was geschah jetzt? Was hatte sie vor? Aber im gleichen Moment vernahm er das heftiger Schlagen sehr großer Flügel und konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, bevor der gewaltige Phönix ihn in den Abgrund gefegt hätte. Wütend brüllte er auf und sah dem riesigen Vogel nach, der in einiger Entfernung wendete und zu einem zweiten Angriff ansetzte.
Das war also ihr Plan – mit ihren eigenen Kräften hätte sie ihn niemals aufhalten können, daher rief sie längst vergessene Sagengestalten zu Hilfe. Aber nichts war unbesiegbar, und auch dieses Geschöpf würde es nicht sein.
Trotzdem konnte er nichts anderes tun, als sich erneut zu ducken, als der Phönix ihn ein zweites Mal angriff, die Füße vorgestreckt und die zum Beutefang gedachten, golden schimmernden Krallen weit gespreizt.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass John auf dem Sims verblieben war und sich ängstlich an die Felswand presste, und in diesem Moment empfand er nur noch Verachtung für ihn. Wer war dieser Mensch schon, der sich einbildete, Macht zu haben und nicht die kleinsten Hindernisse überwinden konnte? Hatte er überhaupt eine Ahnung, mit was er es zu tun hatte? Verfügte er auch nur über eine Spur der Instinkte, die Marcel wissen ließen, wie er sich verhalten musste? Die ihm zunehmend grundsätzliches Wissen über die Welten ins Bewusstsein dringen ließen?

John zückte ein Gewehr und legte auf den Phönix an, aber das Ergebnis war, wie Marcel es erwartet hatte: Das Tier schien die Schüsse nicht einmal zu bemerken, und John ließ die Waffe ratlos sinken. Eine solche Gestalt war nicht durch Kugeln zu töten.
Beim nächsten Angriff konnte Marcel dem Vogel in die Augen blicken und sie in rotgoldenem Feuer aufblitzen sehen. Unwillkührlich sträubten sich seine Nackenhaare: Diese Farbe war schlecht. Rot war gut, aber nicht Rotgold. Rot bedeutete Blut, Schmerz, Qualen für andere. Rot war Zerstörung, Vernichtung, Sterben. Rotgold konnte das Gleiche für ihn selbst bedeuten, aber es lieferte ihm den Schlüssel, wie er vorgehen musste. Phönix, der Feuervogel, brennend, zu Asche geworden ... Ob er bis in alle Ewigkeit aus seiner eigenen Asche wieder auferstehen konnte? Welche Voraussetzungen mussten erfüllt sein, um diese Form der Unsterblichkeit zu sichern?

Marcel wandte sich John zu. „Ich brauche Feuer!“, rief er. „Einen brennenden Ast, oder so etwas.“
John sah sich unsicher um, aber hier oben gab es keine Äste. Nur die schwankende Hängebrücke, die er nur verschwommen wahrnahm. Natürlich, die querliegenden Bretter! Hastig bückte er sich und riss ein solches heraus, fand in seiner Hosentasche auch ein Feuerzeug, aber das Holz wollte nicht brennen.
Zwei weitere Male musste Marcel in der Zwischenzeit dem immer wütender werdenden Vogel ausweichen, und einmal erwischte dieser ihn fast. Die Zeit wurde knapp. Als er sah, dass John sich mit der Latte in der Hand abmühte, rannte er zu ihm und riss sie an sich, nahm auch das Feuerzeug. Ein winziges Stückchen Glut an dem Holz würde genügen, und es gelang ihm, einen abstehenden Span zum Glimmen zu bringen. Für eine Sekunde schloss er die Augen, um sich zu konzentrieren, um all seine Wut zu sammeln. Mit aller Macht blies er auf die erlöschende Glut, woraufhin das Brett hell aufloderte. Jetzt hatte er eine Waffe!
Entschlossen kehrte er in die Mitte der Brücke zurück, bereit, sich seinem Gegner zu stellen. Er würde nicht mehr ausweichen, er würde nie wieder vor irgendetwas ausweichen! Er spürte, dass er neue Kräfte gewann, Kräfte, die er nicht kannte und die er noch nicht anzuwenden wusste, aber er war sich sicher, dass er Gelegenheit erhalten würde, um herauszufinden, was es mit ihnen auf sich hatte.

Als der Phönix das brennende Holz sah, zögerte er und drehte einen weiteren Kreis. Aber er hatte seine Aufgabe, und er dachte nicht darüber nach, ob er den Versuch, sie zu erfüllen, überleben würde. Schnurgerade, wie an einem Seil gezogen, stieß er zu Marcel herab, der ihm das Feuer entgegenhielt. Der Vogel streifte ihn, hätte ihn fast hinabgestoßen, aber es war missglückt und mit brennenden Federn seiner linken Schwinge erhob er sich mühsam wieder, um erneut zuzustoßen.
„Ich brauche Staub!“, schrie Marcel John zu. „Einige Handvoll! Schnell!“
John verschwand in der Höhle.
Zwei Angriffe konnte der Vogel noch fliegen, dann waren seine Flügel zu sehr verbrannt, als dass sie ihm noch gestattet hätten, sich in die Lüfte zu erheben. Gefährlich zischend und mit seinem scharfen Schnabel nach ihm hackend, hockte er vor Marcel auf der schmalen Brücke.
Auch Marcel war nicht unversehrt geblieben, denn die Krallen hatten ihm tiefe Kratzer in der Schulter beigebracht. Aber jetzt stand er siegesgewiss vor diesem einzigen Wesen seiner Art, das vor seinen Augen verbrannte – und dies würde das letzte Mal sein!
Als er sah, dass John wieder aus der Höhle auf den Sims trat, rief er ihn. „Komm jetzt! Du musst die Brücke nur sehen wollen, dann bleibt sie auch für dich stabil!“
Nur äußerst widerwillig betrat John die schwankenden Bretter, aber es gelang ihm, sich genügend zu konzentrieren, um einen Sturz in die Tiefe zu vermeiden.
Der Phönix, der zum Großteil verbrannt war, bewegte sich kaum noch, als John Marcel erreichte.
„Warte noch“, sagte der Junge und sah unbewegt zu, wie die letzten Flammen erloschen und nur noch Asche an den einstigen Herrscher der Lüfte erinnerte. „Bedecke die Asche mit dem Staub“, wies er John an. „Dann dürfte er sich nicht mehr erheben.“
„Asche zu Asche, Staub zu Staub“, murmelte John, nicht ahnend, dass diese Worte die von Lynn ausgesprochene Lösung gewesen waren. Aus dem Inneren der Höhlen ertönte ein tiefes Brüllen, und es schien nicht mehr weit entfernt zu sein. „Wir sollten gehen“, drängte John. Ich glaube nicht, dass es noch weit ist.“

 
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Cynthia legte das Blatt mit den Aufzeichnungen von Marc vor Gwendolyn auf den Tisch. „Was soll ich damit?“, murrte Gwen, ohne einen Blick auf die Zeilen zu werfen.
„Gwen, bitte. Marc ist sozusagen in die Vergangenheit zu einem Mönch namens Markus gereist und hat diese Aufzeichnungen, die er dort gesehen hat kopiert. Du beherrschst die lateinische Sprache und ich bitte dich, sie uns zu übersetzen. Es könnte wichtig für uns sein“.
Gwen nahm das Zettel zur Hand und begann leise zu lesen. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf, schob das Papier über den Tisch zu Cynthia hin. „Die Worte kann ich lesen, aber es sind keine Sätze, sondern nur zusammengewürfelte Worte. Damit kann man nichts anfangen“.
„Bitte übersetze sie für uns, vielleicht ist es ein Rätsel, was wir lösen müssen“, meinte Cynthia, während sie das Blatt zurück schob.
Gwen holte seufzend ein leeres Blatt aus einem Fach unter dem Eichentisch hervor und begann flink die Worte zu übersetzen. Sätze bildeten sich, die konfus wirkten und keinen Sinn ergaben. Doch als Marc genauer hinschaute, verschwammen die Zeichen vor seinen Augen und nur einige Worte waren zu lesen.
„Schreibe jedes dritte Wort in jeder zweiten und fünften Zeile auf, so müsste es lesbar sein.“
Gwen schüttelte verwundert den Kopf, denn sie konnte noch immer keine Zusammenhänge erkennen. Doch sie folgte Marcs Vorschlag und begann die ausgesuchten Wörter herauszuschreiben.
Als sie fertig war, beugten sich die drei über den Text und Marc las laut, was dort stand:

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Diese Existenz der Zwischenwelt, die ich entdeckte, die mit unserer Zeit einhergeht, verschlingt mich und ich mag nicht fortgehen aus diesem Reich. Ich folge den Spuren des friedlichen Weges, mir wird nichts geschehen.
Meine Kräfte schwinden und noch einmal bin ich zurückgekommen, mit dem Wunsch zu erfassen, ob Wahn oder Wirklichkeit mein Leben bestimmt. Die Wandlung zum Menschen mag mir nicht mehr gelingen und so schleiche ich des Nachts in mein altes Haus, um diese Aufzeichnung zu vollenden. Zu sehr hat mich die Zwischenwelt in sich aufgesogen, kann Dinge beherrschen, wie kein Mensch es vermag. Ich werde nicht mehr wiederkehren, denn mich drängt es, die ferne Grenze der Zwischenwelt zu der dahinter liegenden Welt zu überschreiten.

So sei gewarnt, mein Freund, der du diese Schrift in den Händen hältst. Keine Zauberei wird Deine Augen trüben und kein Kraut dir den Atem nehmen. Doch gib Acht, wie weit du gehst, denn die Grenzen sind stark und der Feind ist wachsam.

Nimm diesen Trank und Dein Leben wird sich verändern für immerdar. Es liegt nicht in Deiner Macht es zu beeinflussen, ob zum Guten oder Bösen. Die Welt wird in Dich eindringen, wie die Luft, die Du atmest, sie wird Dich ändern, auf alle Zeit. Es ist eine andere Welt, die sich Dir öffnet, Du kannst sie verlassen, doch niemals sie Dich.

So nehme zu Mitternacht bei Vollmond die Feder eines Purpurreihers und tauche sie im Safte dreier Löwenzahnblätter. Schäle mit der linken Hand zwei Esskastanien, tränke sie in Knoblauchsaft zweier Knollen. Vermische fünf Fingerkuppen Morgentau, zwölf Blätter Hundskraut zu einem Brei, gib einen Bund Bilsenkraut hinzu. Sogleich filtere den Saft und wende dich gen Norden und leere den Becher in einem Zuge.

Fremde Wesen werden Dich willkommen heißen oder Dich jagen bis an Dein Ende.
So kehre ich zurück in die fremde Welt, lasse mein noch menschliches Wissen hier, mit der Hoffnung, eines Tages jemandem zu begegnen, der durch mein Wissen in das Zwischenreich gelangt ist und mir bestätigt, dass ich nicht dem Wahn verfallen bin.
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Kopfschüttelnd erhob sich Gwen und Marc meinte: “So ist also Bruder Markus in die Zwischenwelt gelangt. Mich hätte es auch neugierig gemacht, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre.“
„Ja das wissen wir nun, Marc. Aber viel wird uns das nicht weiterhelfen. Außer dass wir wissen, dass durch diese Schrift heutzutage kein Mensch mehr in unsere Welt eindringen wird. Denn Purpurreiher sind so gut wie ausgestorben und die Schrift wurde offensichtlich von Markus später vernichtet.“
„Mhh, und wenn nicht?“, murmelte Cynthia und nahm das Blatt an sich.
„Das können wir auch noch später bereden. Ändern können wir es nicht. Wir haben im Moment Wichtigeres zu besprechen.“
Gwen klatschte in die Hände und bat mit einer Geste die Anwesenden zu einer mit Kissen und Decken bedeckten Ecke.
„Wir wollen nun beginnen zu entscheiden, was weiter geschehen soll. Wie ihr alle wisst, ist Marc in Gefahr und vielleicht auch wir hier. Irgendwelche Vorschläge?“
„Wir sollten Marc in seine Welt zurückschicken. Dann regelt sich alles von selbst“, meinte eine dürre Person in der Ecke.
„Das können wir nicht! Marc ist ein Zwischenwesen wie wir und wenn John Morton ihn in die Finger bekommt, ist es aus mit unserem friedlichen Leben, wenn wir das noch besitzen sollten“, erzürnte sich Cynthia und ballte die Hände.
„Beruhige Dich, Cyn“, tadelte Gwendolyn und wandte sich einer anderen Frau zu. „Vielleicht sollten wir diesem John und seinem kleinen Freund entgegen gehen und mit ihnen sprechen. Es kann bestimmt auch eine friedliche Lösung geben“.
„Verdammt", murrte Cynthia, „die kapieren auch gar nichts“.
„Schluss jetzt, Cynthia!“, wütete Gwen nun doch. „Bringe Marc zum Meister Theoldin. Er wartet in der alten Ruine, um ihn zu unterrichten. Und nun geht!“
Mit zusammengepressten Lippen stand Cynthia auf, gab Marc ein Zeichen und sie gingen durch den Saal zum Hinterausgang, der in den weitläufigen Garten führte. Wortlos schritt Cynthia weit aus und Marc folgte ihr stumm.

Ein fröhliches Brummen begrüßte sie in der alten Ruine. Ein alter Mann, auf seinen Stock gestützt, blickte den beiden Ankömmlingen entgegen und summte mit tiefer Stimme ein Lied vor sich hin.
„Guten Tag meine Dame, mein Herr“, rief er lachend und verbeugte sich linkisch. „Guten Tag Theoldin!“, begrüßte Cynthia ihn mit einer Umarmung. „Das ist Marc, dein neuer Schüler“, deutete sie und schob Marc nach vorn.
„Du bist also Marc. Na, dann wollen wir mal sehen, was in dir steckt. Wir werden mit den vier Elementen beginnen“, murmelte der Alte. "Keine Sorge, wir werden schon etwas finden, was dir in Gefahr helfen wird“. Marc trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Er blickte Theoldin unsicher an: “Ich weiß nicht, was meine Bestimmung ist, Theoldin. Noch nicht einmal, was ich kann, außer dass ich durch Berühren von Gegenständen…“,
„Ja ich weiß, Junge. Aber wir müssen deine Gabe herausfiltern, mit der du dich wehren und schützen kannst. Wir werden jetzt etwas versuchen", unterbrach ihn sein Lehrer.

Theoldin und Marc traten an einen kleinen See in der Mitte der Ruine. Der See war nicht sehr groß. Er hatte vielleicht einen Durchmesser von fünf Schritten. Auffallend war jedoch, dass der See rund war, wie von einem Zirkel gezeichnet und sich wohl keine Pflanze in die Nähe wagte, geschweige denn ein Tier. Wie ein Ring umschloss fruchtloser Sand den See.
Theoldin hockte sich hin, winkte Marc zu sich und steckte seine rechte Hand in das kühle Nass. Mit kreisenden Bewegungen, die er immer schneller ausführte, bildeten sich Kreise um Kreise auf der vorher glatten Wasseroberfläche. Leise murmelnd führte Theoldin eine Zeitlang diese Bewegung durch, stand auf und hob seine Hand aus dem Wasser, von der kein Wassertropfen herabfiel.
Der See geriet in Wallung. Welle um Welle schlug ans Ufer, aber kein Wassertropfen lief über das Ufer, obwohl das eigentlich der Fall hätte sein müssen. Kein noch so winziges Tröpfchen verließ den sicheren See.
Immer höher wurden die Wellen und als Theoldin laut, in einer fremden Sprache, etwas rief, türmten sich die Wassermassen zu einer Wasserblase auf, die den See umspannte und ein Bärenkopf wurde dahinter sichtbar, sowie sein großer massiger Körper. Blau leuchtende Augen schauten den beiden entgegen, zum Sprung bereit, das Maul weit aufgerissen, in dem die Reißzähne blitzten. Das braune Fell wogte mit den Wellenbewegungen und ließ den Bären noch gefährlicher erscheinen. Immer näher kam das Ungetüm und Marc wich ein paar Schritte zurück.
Der Bär brüllte, sprang aus der Wasserblase über die beiden hinweg, landete sanft hinter ihnen auf großen Tatzen, hob witternd den Kopf und sah Theoldin abwartend an.
Ein kurzer Laut von Theoldin und der Bär zerfiel zu Wasser, war nur noch eine Pfütze, die die Pflanzen in seiner Nähe gierig aufsogen.

„Und nun Du“, forderte Theoldin Marc auf, mit einer Geste zum See hin. „Was muss ich denn sagen, damit der Bär gerufen wird?“, fragte Marc, bevor er an den See trat. „Das kann ich dir nicht sagen. Jeder hat seine eigene Sprache mit der Natur. Es muss kein Bär sein, den du rufst. Es wird ein Wesen sein, was dir ähnlich ist. Die Worte sind in dir und du wirst sie finden. Was es auch sein wird, es wird nur Dir gehorchen. Habe keine Angst“, belehrte ihn Theoldin stützte sich erwartungsvoll auf seinen Stock.

Marc ging wie zuvor Theoldin in die Hocke, brachte die Wellen in Bewegung und führte das gleiche Ritual durch. Auch die fremden Worte gingen ihm leicht von den Lippen, obwohl er sie erst verstand, nachdem er sie ausgesprochen hatte.
„Meolansala!“, rief er ein paar Mal, doch außer leichten Wellen bildete sich kein Untier wie zuvor bei Theoldin. Resigniert stand Marc schließlich auf, trat zu Theoldin und blickte ihn ratlos an.
„Mhh, Wasser ist nicht so dein Ding. Dann werden wir es jetzt mit dem Element Feuer versuchen. Keine Sorge Marc, es gibt Wesen, die alle Elemente beherrschen, aber es sind sehr wenige.“ Theoldin klopfte Marc ermutigend auf die Schulter.

Cynthia hatte mit einigem Abstand den beiden zugesehen. Sie kommen gut miteinander aus, dachte sie und überlegte weiter, ob sie zur Versammlung zurückkehren sollte. Doch sie entschied sich dagegen, denn sie hatte keine Lust Gwen zu begegnen, die bestimmt noch böse auf sie war, weil sie sich zuvor so unverschämt verhalten hatte.
Also blieb Cynthia dort sitzen, beobachtete die beiden und staunte wie schnell Marc von Theoldin lernte und verstand.

 

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Obwohl die Chimafelida sie ein wenig trösten konnte, da sie sich nicht von ihr abwandte, verspürte Lynn eine innere Unruhe. Nur zu gut wusste sie um die Gefahr, in der die ganze Gemeinschaft der Wächterinnen schwebte – warum nur wollte niemand auf sie hören? Aber was konnte sie tun?

Plötzlich durchfuhr sie unendliche Trauer. Erschrocken richtete sie sich auf, aber es war niemand in der Nähe, der imstande gewesen wäre, ein solch starkes Gefühl bei ihr auszulösen. Es musste etwas geschehen sein. Sie überlegte, und vor ihrem inneren Auge formte sich ein Bild von rotgoldenem Feuer ... Natürlich, der Phönix, das waren seine Farben. Aber was war geschehen?
Sie wusste, dass sie sich diese Frage nicht mehr zu stellen brauchte, er war gestorben. Getötet, als er seinen Auftrag erfüllen wollte, den Fremden den Zugang zu verwehren.
Lynn wurde immer nervöser, denn das bedeutete, dass John die Brücke überschritten hatte, dass er nicht mehr weit war. Wann würden ihre Schwestern endlich kommen, damit sie sie vor der unmittelbar drohenden Gefahr warnen konnte?

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Langsam und vorsichtig bahnten John und Marcel sich ihren Weg, versuchten, sich möglichst lautlos fortzubewegen, um nicht von einer als Posten aufgestellten Wächterin entdeckt zu werden. Marcel fiel das leicht; ohne hinzusehen vermied er es, auf trockene Äste oder raschelndes Laub zu treten, aber John verursachte seiner Meinung nach unnötig viel Lärm.
„Lass mich vorgehen“, raunte er John zu. „Ich kann sie überraschen, wenn welche da sind, bevor sie mich bemerken können.“

Marcel sagte John nicht, dass er genau wusste, wie weit sie noch zu gehen hatten, denn er spürte, wo sich jene befanden, die sie suchten.
Es war eine Gabe, die er gerade erst entdeckt hatte: Ein Lebewesen, dessen Witterung er schon einmal aufgenommen hatte, konnte sich vor ihm nicht mehr verstecken. Ohne Spuren zu sehen, Fährten aufzunehmen, konnte er instinktiv sagen, welche Richtung es eingeschlagen hatte. Und je näher er ihm kam, umso genauer konnte er den Standort bestimmen.

Und endlich, nach einer Wegstrecke, die John mehr als weit erschienen war, obwohl er sich nicht sicher war, ob auch diese Empfindung auf einer Täuschung beruhte, fanden sie die Siedlung der Wächterinnen.
Automatisch zogen sie sich sofort in dichtes Unterholz zurück, um auch durch einen zufälligen Blick nicht entdeckt zu werden.
Zufrieden grinste John, als er seinen Blick über den Talkessel wandern ließ. Zelte, nur Zelte, und ein einzelnes Holzhaus – wo wollten diese ungeliebten Bewohnerinnen der Zwischenwelt sich jetzt noch verschanzen? Aber wo war jener, den er unbedingt finden musste?

Marcel kauerte unter einem Busch, wie eine Raubkatze, die sich auf den Sprung vorbereitete. Alle seine Sinne waren aufnahmebereit, er horchte, witterte und beobachtete. Cynthia fand er schnell, nicht weil er sie sehen konnte, sondern weil er sie spürte. War sie seinem ersten Eindruck nach noch in dem Holzhaus gewesen, befand sie sich nun außerhalb, etwas weiter entfernt. Und dort war auch Marc.
Aber wo war die andere, jene, die er als einzige ein wenig fürchtete? Sie konnte nicht in dieser Siedlung sein, dann hätte er sie wahrgenommen.
Immer wieder blickte er in alle Richtungen, so weit er das Tal überblicken konnte, aber noch hatte er sie nicht ausmachen können. Trotzdem war er sich sicher, dass er sie finden würde, denn wenn Marc hier war, konnte sie sich nicht weit von ihm entfernt haben.
Er musste also warten, denn er wollte sich erst aller drei sicher sein, bevor er angriff. Johns Anwesenheit nahm er nur noch am Rande wahr; er interessierte ihn nicht mehr, wurde ihm zunehmend lästig.

 
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Marc, Theoldin und Cynthia umrundeten den See, stiegen über ein paar umgestürzte Steinwände und blieben vor einem hüfthohen Sockel stehen, worin ein Becken eingelassen war. Es erinnerte Marc an ein Taufbecken und als er Theoldin danach fragte, bestätigte dieser ihm, dass er richtig geraten hatte. Marc betrachtete fasziniert die fremdartigen Gravuren auf der goldenen Außenseite des Beckens, dessen Innenseite glatt und aus Silber war.

Theoldin schob Marc ein wenig zur Seite „Entfernt euch ein Stück, denn Feuer kann gefährlich werden, selbst für einen Meister wie mich ist es manchmal nicht kontrollierbar."
Cynthia und Marc traten schnell ein paar Schritte zurück und beobachteten, wie Theoldin in einem kleinen Beutel wühlte. „Moment, ich habe es gleich“ murmelte er.
Mit einem Zischen loderte eine Flamme über dem Becken auf, die den Platz rotgolden erleuchtete. Mit jedem Luftzug wurde sie größer und in den heißen Wirren des Feuers sah Marc Büffel, die über die Steppe rannten, Vulkane, die Lava ausspuckten, unzählige Tiere waren zu sehen, die vor etwas Unbekanntem flohen, was umso unheimlicher und rätselhafter für denjenigen war, der das Schauspiel verfolgte.
Marc starrte in die Flammen, verfolgte gierig jedes Bild, ob grausam oder wunderschön, er konnte sich ihnen nicht entziehen.
Eine Gänsehaut überzog seinen Körper, als er die starke Hitze des Feuers spürte und ihm stockte der Atem, als die Flammen keine Tiere mehr preisgaben, sondern menschliche Augen ihn anstarrten, ein Mund sich zu einem Lächeln öffnete, schließlich jede Einzelheit eines Gesichtes zum Vorschein kam. Und da war noch mehr.

„Mum, Dad, Ellie“, flüsterte Marc heiser und ging einen Schritt auf sie zu, doch seine Mutter schüttelte, noch immer lächelnd, den Kopf.
Die Gesichter seiner Familie verblassten, ein Flur wurde sichtbar; sein Vater ging mit versteinerter Miene auf die Tür zu, umklammerte ein Päckchen und einen Brief. Er sah seine Frau an, flüsterte ein Wort und das Bild verschwand.
Marc kam sich vor, als schaue er einen Film oder würde selbst die Kamera führen.
Plötzlich sah er das brennende Haus, das seine Mutter so liebevoll eingerichtet hatte, worin er eine so schöne Kindheit gehabt hatte. Er hörte Feuer prasseln, Schreie, die aus den Zimmern gellten, berstendes Holzes, als das Dach einstürzte. Marc sah sich selbst, wie er von einer dunklen Gestalt aus dem brennenden Haus gezerrt und fortgeschleift wurde. Er erkannte diesen eigenartigen gebückten Gang wieder.
Unwillkürlich strich Marc über seine Schulter, wo die Narbe pochte. Krallen, es waren Krallen gewesen, die ihn aus dem Feuer gerettet hatten. Er hörte in seiner Erinnerung das Reißen des T-Shirts und den stechenden Schmerz in der Schulter, der ihn für einen Augenblick betäubt hatte, während sich die Flammen ihn zu umschließen drohten.

Marc schloss die Augen und als er sie zögerlich wieder öffnete, war tiefe Traurigkeit in den Augen seiner Familie. „Es tut mir so leid“, formte sein Vater lautlos die Worte.
„Ich liebe Euch“, flüsterte Marc, als die Gesichter verschwanden und das Prasseln des Feuers ihm ins Herz schnitt.

„Marc, Marc!“, hörte er eine ängstliche Stimme rufen. Langsam öffnete Marc die Augen und fand sich auf der Erde liegend wieder. Cynthia und Theoldin hatten sich über ihn gebeugt, sorgenvolle Gesichter schauten ihn an. „Was ist passiert?“, flüsterte Marc keuchend.
Erst jetzt erkannte er Theoldin angesengten Bart, und seine Robe war rußgeschwärzt.
„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, mein Junge“, grinste Theoldin. „Ich habe Jahre gebraucht, um das Feuer zu beherrschen, und du? Du hast es im Blut, würde ich sagen.“
„Habt ihr das auch gesehen?“, staunte Marc.
„Natürlich habe ich gesehen, wie du das Feuer entzündet hast, die Feuerzungen hast tanzen lassen, sodass sie meinen schönen Bart und meine beste Robe ansengen konnten. Sie haben gemacht, was sie wollten. Dann bist du auf einmal umgefallen“, grunzte Theoldin und fügte hinzu: “Doch ich habe vergessen, dir das Wichtigste zu erklären, wenn man eine Naturgewalt beherrschen will: Sie wird sich immer dagegen wehren zu tun, was du willst und hat nur ein Mittel, um dich daran zu hindern: Deine Gefühle. Sie versucht dich zu zwingen, alles, was dein Herz beschwert in dir aufbrechen zu lassen. So bekommt sie dich in ihre Gewalt. Du musst dich dagegen stellen, sonst könnte es deinen Tod bedeuten. In dem Moment, wo du die Kraft einsetzen willst, musst du dein Herz verschließen.“
„Ja, schon gut“, murmelte Marc wie benommen und stand mit wackeligen Beinen langsam auf. Er konnte sich jetzt nicht auf das konzentrieren, was Theoldin sagte, sondern dachte über seine Familie nach. Was wollten sie ihm bloß sagen? Ach, hätte er noch einmal ihre Stimme hören können! Er hatte Heimweh, obwohl es kein Heim mehr für ihn gab, wollte sich an seine Mutter kuscheln, Ellie trösten, wenn sie schlecht geschlafen hatte - er wollte einfach nur nach Hause.
Tränen traten Marc in die Augen und er senkte den Kopf, damit die anderen es nicht sahen. Er wollte vor ihnen nicht als Kleinkind dastehen.
„So, ich werde mich jetzt erstmal waschen und dann ein Nickerchen halten, unterrichten kann ich dich auch noch später. Und du, Cynthia, pass gut auf meinen Lehrling auf“, brummte Theoldin belustigt, nahm seinen Stock und humpelte langsam zu der kleinen Holzhütte am Ende des Gartens.

 
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Marc und Cynthia schauten dem humpelnden Alten hinterher, bis dieser in der Hütte verschwunden war. Fassungslos schüttelte Marc den Kopf, als ob er immer noch nicht glauben konnte, was eigentlich mit ihm passierte.
„Wollen wir zu der Versammlung zurückgehen?“, fragte Cynthia.
„Nein, ich muss erst noch über ein paar Dinge nachdenken." Marc fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. „In meinem Kopf herrscht ein solches Chaos, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.“
„Hast du etwas dagegen, wenn ich dir dabei Gesellschaft leiste?“ Cynthia schaute ihn erwartungsvoll an. Marc verneinte und liess sich im Schatten einer alten Eiche nieder. Cynthia setzt sich ihm gegenüber. Der Ausdruck von Schmerz und Ratlosigkeit, der sich auf Marcs Gesicht abzeichnete, schnürte ihr das Herz zusammen. Mit aufeinandergepressten Lippen starrte Marc vor sich hin. Sein Blick schien auf unendlich gerichtet. Eine Weile sassen sie nur schweigend da und so nutzte Cynthia die Gelegenheit, Marc etwas genauer zu betrachten. Er war schlank und muskulös, die Kleidung, die Lynn ihm gegeben hatte, war ihm etwas zu klein und spannte sichtlich. Leicht gewelltes, braunes Haar umrahmte ein gut geschnittenes Gesicht. Dunkelbraune Augen, eine leicht römisch wirkende Nase und volle Lippen rundeten das Bild eines gutaussehenden Teenagers ab. Die Schnittwunden in seinem Gesicht waren kaum noch zu erkennen und es würde auch nichts zurückbleiben, die Medizin der Wächterinnen hatte ihren Zweck erfüllt.

Cynthia konnte nicht aufhören, Marcs Gesicht zu betrachten, den bräunlichen Bartwuchs, der in den letzten Tagen noch stärker gewachsen war, die längliche Narbe, die sich über seiner linken Augenbraue befand. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie die Narbe gerne mit ihren Fingerspitzen berührt hätte und langsam an den Konturen seines Gesichts entlanggefahren wäre. Marc wirkte immer noch wie weggetreten, er schien überhaupt nicht zu bemerken, wie genau Cynthia ihn betrachtete.
„Was denkst du gerade?“, sprach sie ihn an.
„Marc, woran denkst du?“ Erst als sie die Frage wiederholte, blickte er sie direkt an.
„An meine Eltern und meine Schwester“, presste er hervor. „Ich habe sie vorhin im Feuer gesehen. Ich hörte ihre Schreie und sah die Flammen.“
„Oh Marc, es tut mir so leid!“ Zaghaft ergriff Cynthia Marcs Hand.
„Ich sah Dad, wie er einen Brief in der Hand hielt“, fuhr Marc fort. „ Jetzt erinnere ich mich, ein paar Tage, bevor das Haus abbrannte, ist dieser Brief angekommen. Dad brachte ihn ins Zimmer; ich weiss noch, er war kreidebleich und auch Mum wurde richtig nervös bei dem Anblick des Briefes. Sie haben auch irgendetwas gesagt, was ich nicht verstanden habe.“
Marc wurde sichtlich aufgeregt und richtete sich auf. „Ich muss mich konzentrieren, vielleicht kann ich herausfinden, was es war.“
Cynthia hielt noch immer Marcs Hand umfasst. Sie sah, wie er die Augen schloss und sein Gesicht einen angespannten Ausdruck annahm.
Plötzlich sprang er auf. „Ich hab´s“, rief er, „ich weiss es. ¨Die Zeit ist gekommen¨, hat Dad gesagt und Mum hat nur ¨John?¨ gefragt. Jetzt reime ich mir langsam alles zusammen. Wahrscheinlich hat Morton Mum und Dad einen Brief geschrieben, in dem er ihnen mitteilte, dass er mich zu sich nehmen wollte, weil er ja mit Hilfe meiner Gabe die restlichen Schriftrollen finden will. Wahrscheinlich haben meine Eltern sich aber gewehrt. Ich habe sie vor dem Brand oft diskutieren sehen und Mum hat sogar einmal geweint. Bestimmt hat John deshalb das Haus angezündet, um sie aus dem Weg zu räumen. Dieser Mistkerl, dieses Schwein, wenn ich den in die Finger ...“
„Marc!“ Cynthia umfasste seine Schultern. „Ich weiss, du hast viel durchgemacht und du hast Recht, John ist ein Mistkerl, aber lass uns das bitte regeln. Die Wächterinnen werden die bestmögliche Lösung finden, und glaube mir, Morton wird seine gerechte Strafe bekommen.“ Jetzt endlich strich sie mit den Fingerspitzen über sein Gesicht und sah ihm dabei fest in die Augen.
Marc erwiderte ihren Blick und zum ersten Mal fiel ihm auf, dass ihre Augen keine bestimmte Farbe hatten, sondern in sämtlichen Blau-, Grün-, Violett- und Brauntönen schimmerten. Ihr kleiner, herzförmiger Mund verzog sich zu einem Lächeln und auf ihren Wangen erschienen zwei Grübchen.
Als ob sich ein Zauber über Marc legen würde, konnte er nicht anders, als sich zu ihr hinunterzubeugen und sie zu küssen. Es war der unbeholfene Kuss eines Teenagers, der noch nicht viel Erfahrung hatte, und doch lag unendlich viel Wärme in der sanften Berührung ihrer Lippen. Cynthias Herz schlug wie wild, als sich schliesslich ihre Zungen berührten und miteinander spielten. Die beiden hielten sich noch eine ganze Weile umschlungen, bis Marcs Körper sich plötzlich versteifte. „Cynthia, ich habe ein ganz eigenartiges Gefühl. Irgendetwas Negatives wird passieren, in meinem Kopf tanzen ganz wirre Bilder durcheinander.“
Cynthia löste sich vorsichtig aus Marcs Umarmung. „Was siehst du?“, fragte sie.
„Da sind ein Mann und ein Junge, sie schleichen vorwärts, dann sehe ich die Versammlung der Wächterinnen, ich höre Schreie, Blut spritzt. Oh Gott!“ Marc fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. „Mein Kopf, ... Er tut so weh. Jetzt sind die Bilder verschwunden. Cyn, was hat das zu bedeuten?“
„Ich weiss es nicht, Marc, aber wir gehen besser und suchen Lynn. Sie wird wissen, was zu tun ist.“ Hand in Hand liefen die beiden zurück zur Siedlung.

 
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„Sie gehen zurück“, murmelte Marcel.
„Wer geht zurück?“ John beugte sich vor, um besser sehen zu können.
„Der Junge und die kleinere der beiden Wächterinnen, die bei ihm waren.“
„Und wohin gehen sie?“
„In Richtung der Siedlung. Nein, daran vorbei.“
„Dann sollten wir sie uns jetzt schnappen!“ John wollte schon aufstehen, aber Marcel griff nach seinem Arm und zog ihn grob zurück.
„Nein! Noch ist es zu früh, ich muss wissen, wo die Dritte ist!“
„Und wie willst du das herausfinden? Von hier aus sind sie kaum zu erkennen.“
„Ich werde es wissen. Außer den beiden sind alle in dem Holzhaus, nur die Dritte nicht. Wahrscheinlich wollen sie zu ihr, und dann haben wir sie alle!“ Unwillkürlich leckte er sich über die Lippen.
John lehnte sich wieder zurück; er konnte ohnehin niemanden sehen, die Entfernung war zu groß. Aber Marcel schien es zu können. Nachdenklich beobachtete er den Jungen. Gierig war er, und Mordlust sprach aus seinen Augen. Aber nicht nur das, da war noch mehr ... John überlief ein Schauder bei der Vorstellung, dass Marcel sich gegen ihn wenden könnte.
„Ich weiß jetzt, wohin sie gehen“, stellte Marcel fest. „Halte dich bereit!“
Von ferne, aus der Richtung der Brücke, war ein heiseres Brüllen zu hören. John sah sich unbehaglich um, aber Marcel schien es nicht wahrgenommen zu haben.

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„Lynn!“ Cynthia beschleunigte ihre Schritte und zog Marc mit sich. Ihr Ziel war eine kleine Gruppe von Bäumen mit eigenartigem Wuchs. Diese wirkten eher wie übergroß geratene Pilze, da ihre äußerst dicken, gelblichen Stämme nur knapp einen Meter hoch waren und mächtige, runde Kronen aus blaugrünen Blättern darauf ruhten.
„Lynn, wo bist du?“ Keine Spur war von der Älteren zu sehen.
„Hier drinnen!“ Ihre Stimme klang verzerrt. Cynthia hielt kurz inne, lauschte den Worten und nickte Marc zu. Zielstrebig ging sie weiter, Marc im Schlepptau. Die beiden Suchenden erreichten den See und umrundeten den größten der Bäume. Marc staunte nicht schlecht, als er dabei unvermutet in eine Art Höhle blickte. Die kugelförmige, seitlich offene Baumkrone sah aus wie ein ausgehöhlter Kürbis. Im Zentrum dieses seltsamen Gewächses saß Lynn, ungefähr auf Kopfhöhe und winkte ihnen zu. Erfreut, sie gefunden zu haben, traten sie näher. Marcs Augen mussten sich erst an das Halbdunkel, das im Inneren des `Hauses´ herrschte, gewöhnen. Im hinteren Teil bemerkte er große, aus Schilf geformte Körbe, die mit Früchten gefüllt waren, die er bereits schätzen gelernt hatte. Offenbar handelte es sich hierbei um einen Lagerraum der Wächterinnen - allesamt Vegetarierinnen.
Lynn sprang behände auf und näherte sich den beiden. Sie hielt etwas in der rechten Hand, das sie Marc entgegenstreckte. Es handelte sich dabei um einen kunstvoll geflochtenen Gürtel aus dünnen Lianen.
„Hier nimm!“ Sie zwinkerte ihm zu. „Hab´ ich für dich gemacht. Für den Fall, dass dir die Schwestern eine neue Hose nähen.“ Dabei grinste sie von einem Ohr zum anderen. Marc nahm das Geschenk verlegen errötend an und bedankte sich artig, während Cynthia versuchte, unbeteiligt daneben zu stehen. Sie ließ möglichst unauffällig Marcs linke Hand los.
„Hey Cyn! Ist der Rat zur Besinnung gekommen, oder was ist los?“ Lynn tat so, als hätte sie nichts davon mitbekommen und legte einen Arm um die Jüngere.
Cynthia berichtete, was es an Neuigkeiten gab.
„Verdammt! Irgend etwas stinkt gewaltig.“ Lynn runzelte die Stirn. „Ich kann es förmlich riechen. Und diese Horde von Schafen“, dabei deutete sie in Richtung Siedlung, „hat keine Ahnung von dem, was da auf sie zukommt.“ Cynthia und Marc nickten.
„Nun gut. Ich bin ja nicht nachtragend.“ Ihre Stimme zitterte leicht. Einen kurzen Moment lang schien sie zu zögern, hatte sich jedoch gleich wieder in der Gewalt. „Ich denke, wir sollten zum Versammlungshaus gehen. Besser, wir sind alle auf einem Haufen, als getrennt voneinander unterwegs.“ Wiederum Nicken der zwei.
Lynn löste sich von Cynthia, atmete tief durch und richtete ihren Blick auf den See, als hätte er eine Antwort auf ihre unausgesprochenen Fragen parat. Hatte er nicht.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzten sich die drei in Bewegung.

 

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„Ich denke, es ist soweit“, murmelte Marcel halblaut. „Sie sind zusammen.“
„Wer ist zusammen? Rede nicht immer in Rätseln!“ John war deutlich ungeduldig.
Marcel drehte sich nicht einmal zu ihm um. „Der Junge und die kleinere Wächterin, sie sind zu der dritten gegangen, und jetzt kommen sie gemeinsam zurück zu der Siedlung.“
„Dann wird es Zeit für uns, das ist ideal!“ John stand auf, klopfte die trockene Erde von seiner Hose und griff nach den Waffen.
„Nicht so schnell!“, erwiderte Marcel. „Ich will erst sehen, wohin sie wollen.“
Einige Minuten später richtete er sich auf. „Wenn ich mich nicht irre, gehen sie zu dem Holzhaus, in dem alle anderen sind. Da erwischen wir gleich alle!“
John schrak zurück, als Marcel sich umwandte und ihn ansah, denn seine Augen glitzerten drohend und sein halbgeöffneter Mund ließ die Spitzen seiner Fangzähne sehen. „Willst du denn alle töten? Ich will nur diese beiden Wächterinnen aus dem Weg haben; der Junge muss am Leben bleiben!“
„Ja, ja, dem wird schon nichts passieren.“
Aber John war sich nicht sicher, ob Marcel sich wirklich würde zurückhalten können.
Vorsichtig und leise bewegten sie sich den Abhang hinunter, jede Deckung ausnutzend, aber niemand sah den Hügel hinauf.

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Die letzte leichte Anhöhe vor Augen fiel Lynn immer weiter zurück. In Gedanken versunken trottete sie hinter Marc und Cynthia her, die angeregt miteinander plauderten. Wie nur konnte sie die Versammlung dazu bringen, ihren Warnungen Glauben zu schenken? Streng genommen durfte sie dort gar nicht erscheinen. Welcher Grund war plausibel genug, die Weisungen des Rates zu ignorieren? Marcs Vision anzuführen wäre einer Argumentation wenig dienlich, da Gwen ihr eine Beeinflussung durch sich selbst unterstellen würde. Verdammt! Fieberhaft suchte sie nach einem Vorwand, sich unauffällig Zutritt zum Holzhaus zu verschaffen und, was noch wichtiger war, einen Grund für einen längeren Aufenthalt zu finden. Sie blieb kurz stehen, um sich zu sammeln. Ihr Blick fiel auf Marc und blieb an dem Gürtel haften, den er als Schmuck um seinen Bauch gebunden hatte. Einem spontanen Einfall zufolge machte sich das für sie so typische Grinsen in ihrer Mimik breit. Ja, das könnte klappen...


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Marc, Cynthia und Lynn betraten den Hauptsaal, was unruhiges Gemurmel unter den Frauen auslöste. Gwendolyn unterbrach ihre Stickerei, erhob sich von ihrem Hocker und ging mit versteinerter Miene auf die drei zu. Lynn verneigte sich demutsvoll.
„Ich bitte darum, mein ungebührliches Verhalten zu entschuldigen.“
„Du hier, Lynntrionaneansáidaíthí? Was hat dich bewogen, das Baumhaus zu verlassen?“ Gwendolyns Gesichtsausdruck signalisierte Misstrauen.
„Die Langeweile.“ Lynn gelang es, unverbindlich zu lächeln. Mit einem Seitenblick auf Marc fügte sie hinzu: „Aber nicht nur. Ich habe beschlossen, diesem Herrn hier unsere Gastfreundschaft zu beweisen, indem ich ihm eine neue, bequemere Hose nähe.“ Sie deutete auf sein offensichtlich zu enges Beinkleid, was einige der Schwestern kichern ließ und Marc einmal mehr die Schamesröte ins Gesicht trieb.
„Du willst nähen?“ Gwendolyn schüttelte ungläubig den Kopf. „Das hast du doch noch nie leiden können.“
„Dass ich diese Art von Tätigkeit nicht liebe, bedeutet nicht, dass ich mich davor drücke. Außerdem wird mir Cyn dabei helfen.“ Nun war es an Cynthia zu erröten.
„Mir fehlen im Baumhaus die Mittel für ein solches Unterfangen. Das müsste selbst der Rat einsehen.“
Sie spähte an der sprachlosen Gwendolyn vorbei in den hinteren Bereich des Raumes, wo mehrere Truhen an der Wand standen.
"Ach, ja und außerdem haben wir etwas Wichtiges zu berichten." Neugierig geworden, kamen mehrere Wächterinnen herbeigeeilt.
"Wenn es wieder mit euren angeblichen Verfolgern zu tun hat, will ich es nicht hören. Wir haben einstimmig beschlossen, dass in letzter Zeit genug Gewalt geschehen ist, und dass endlich wieder Ruhe und Frieden in unsere Gemeinschaft einkehren muss." Gwendolyn deutete auf zwei Frauen, die schräg hinter ihr standen.
"Ronaldiana und Orphelia werden diesen John Morton aufsuchen und versuchen, die Sache friedlich zu regeln. Und was Marc betrifft", an dieser Stelle wurde Cynthia hellhörig, "haben wir auch eine Entscheidung getroffen."
"Was soll mit ihm geschehen?", fragte Cynthia und griff nach seiner Hand.
"Wir haben beschlossen, dass Marc..." Weiter kam sie nicht.

 
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Während Theoldin sich entkleidete, musste er ständig an den Jungen denken. Marc hatte soviel Energien in sich und so viele Gaben, wie er es noch nie bei jemandem gesehen hatte. Theoldin schüttelte den Kopf „Niemals…niemals hätte ich gedacht, dass ich das noch erleben dürfte“, brummelte er belustigt vor sich hin, während er mit einer Kelle Wasser aus dem Trog schöpfte und sie in die Waschschale kippte. Theoldin benetzte sein Gesicht mit der kühlen Flüssigkeit, während er ein uraltes, magisches Lied summte.

Erst als er in den Spiegel schaute, wurde ihm bewusst, dass sich das Wasser auf seinem Gesicht in Blut verwandelt hatte. Rote Rinnsale bahnten sich den Weg über sein Gesicht und als Theoldin erschreckt die Luft einsog, verformte sich sein Gesicht im Spiegelbild in ein Ungeheuer, das ihn anblickte, die Lefzen verzog und ihn hämisch angrinste. Das Untier wich zurück, schwarze Wolken wurden hinter ihm sichtbar, worin sich unzählige Blitze entluden. Und plötzlich sah Theoldin nur noch sein eigenes Spiegelbild. Schwer atmend tastete er nach seinem Stock, um sich in seinen Sessel zu setzen.

Schon seit Tagen hatte er ein ungutes Gefühl, ohne das der Grund sich ihm offenbaren wollte. Doch jetzt wusste er, sie waren zu nahe, als das er noch was dagegen hätte tun können. Kein Bann und kein Amulett würden mehr helfen, um die Eindringlinge aufzuhalten. Schwer stützte er sich auf seinen Stock, nahm seinen Umhang unter den Arm und ging zur Tür. Er konnte sie noch warnen, versuchen die Gemeinschaft zu beschützen. Koste es, was es wolle. Doch als er durch die Tür trat, krampfte sich sein Herz zusammen und keuchend hielt sich Theoldin die Brust. Wellenförmige Schmerzen breiteten sich in seinem ganzen Körper aus, versuchten ihn zu verzehren, ihn sich untertan zu machen. Theoldin merkte, wie sein Kopf immer schwerer wurde. Böse Mächte waren am Werke und wäre Theoldin nicht so ausgepumpt gewesen, von seinen Lehrstunden, hätte er es bekämpfen können.
Doch nun der Macht des Untieres ausgeliefert, ließ Theoldin seinen Stock fallen, sank auf die Knie und bot verzweifelt seine ganze Kraft auf, der Macht die ihn wahnsinnig machen wollte, zu trotzen.

 
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Lautes Klopfen an der Tür des Hauptsaales unterbrach Gwens angefangenen Satz. Sie richtete wie alle Anwesenden ihre Aufmerksamkeit unverzüglich auf die Quelle des Geräusches, irritiert über diese hier unübliche Weise, Einlass zu begehren, da das Haus von den Mitgliedern der Schwesternschaft grundsätzlich ohne akustische Vorankündigung betreten wurde.
„Herein!“, rief sie nach kurzem Zögern und bewegte sich, flankiert von Ronaldiana und Orphelia, ein paar Schritte auf den Eingang zu, in dessen Nähe sie erwartungsvoll stehen blieb.
Die Klinke wurde nach unten gedrückt, woraufhin die Tür aufschwang. Lynn glaubte ihren Augen nicht zu trauen: John und sein Begleiter standen auf der mit Intarsien ausgelegten Schwelle und ließen ihre Blicke über die eingefroren wirkende Szene schweifen. Die meisten Frauen schienen auf Kommando erstarrt zu sein, wie Beiwerk in einem Stilleben.
„Gwen, das ist John!“, schrie Lynn aufgebracht und deutete mit zitterndem Zeigefinger auf Morton.
„Sei still, Lynn!“ Gwens dominanter Ton signalisierte, dass sie im Moment nicht mit sich debattieren lassen würde. Freundlich wandte sie sich an den älteren der `Gäste`.
„Ich heiße Sie im Namen der Vulkanierinnen willkommen.“ Sie verneigte sich anmutig. „Was ist der Grund für Ihren Besuch?“ Die Männer traten ein und schlossen sorgsam die Tür hinter sich.
„Nun, wir sind auf der Durchreise.“, säuselte John mit gezwungen sanfter Stimme. Er deutete auf Marcel, dessen Fangzähne bereits auf die Unterlippe drückten. „Mein Freund und ich sind Forscher, die auf der Suche nach besonderen Pflänzchen zufällig den Weg hierher fanden.“ Sein süffisantes Lächeln, verbunden mit einem gezielten Seitenblick auf Marc, Cynthia und Lynn gaben einen Hinweis auf die `Pflänzchen` seiner Begierde. Marc wurde aschfahl.
„Der Kerl lügt! Glaub´ ihm kein Wort!“ Lynns Stimme drohte, Purzelbäume zu schlagen. "Sehen so harmlose Forscher aus?" Sie deutete auf Marcels Gestalt.
Marcel reagierte auf ihren Vorwurf mit traurigem, mitleiderregendem Kopfschütteln.
„Ich fürchte, unsere Anwesenheit ist nicht erwünscht.“ Johns Mimik wechselte zu theatralischer Betroffenheit, die auf Lynn alles andere als komisch wirkte.
„Es reicht jetzt!“, herrschte Gwen die jüngere mit strengem Gesichtsausdruck an.
„Gwen, bitte!“, flehend machte Lynn einen Schritt in Richtung Tür, wurde jedoch sofort von Cynthia, die sich an Marc klammerte, mitten in der Bewegung festgehalten. Marcel begann, unruhig zu werden, was sich durch unablässiges Öffnen und Schließen der klauenbewehrten Pranken äußerte. Marc, dem dies nicht entging, schob sich schützend vor Cynthia.
„Hier scheint ein Missverständnis vorzuliegen, meine Herren“, sagte Gwen entschuldigend, „lassen Sie uns ein wenig plaudern.“ Auf ihr Zeichen hin traten Orphelia und Ronaldiana an die Seite der Männer und wollten ihnen als Geste der Höflichkeit eine Hand auf den Unterarm legen.

Marcels Reflex auf die Berührung kam so schnell, dass Orphelia gar nicht mitbekam, wie der Schlag seiner Faust ihr den Kopf von den Schultern riss. Eine Fontäne grünlichen, fluoreszierenden Blutes sprudelte aus ihrem Hals, der Körper glitt wie in Zeitlupe zu Boden. Nahezu zeitgleich hatte John seine Waffen gezogen und zuerst Gwendolyn, dann Ronaldiana mit Kopfschüssen exekutiert, bevor er sich anderen Zielen widmete. Die Geschosse seiner Pistolen dezimierten schnell und präzise die Anzahl der Wächterinnen, während Marcel wahllos unter ihnen wütete. Seine Klauen schnitten Körperteile ab, als wären sie aus Wachs, drangen in Organe, zerfetzten sie. Nachdem die Schwesternschaft aus ihrem Schockzustand erwacht war, brach das Chaos los. Die noch unverletzten Frauen besannen sich auf ihre Gaben und fingen an, Feuerbälle entstehen zu lassen, die sie den Angreifern entgegensetzten. Mehr als einmal verrieten Zischen und der Geruch verbrannter Körperhaare, dass sie zumindest kleine Erfolge erzielt hatten. Allein ihrer Wendigkeit und ihrem ausgeprägten Instinkt verdankten die beiden Männer, dass sie relativ ungeschoren davonkamen.
Lynn hatte für einen kurzen Moment daran gedacht, ihr `Wuttier` einzusetzen, dies aber angesichts des heillosen Durcheinanders und Lärms sofort wieder verworfen. Zwei Angriffe waren fehlgeschlagen und so suchten Marc, Lynn und Cynthia verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit, aber weitere Ausgänge gab es nicht, Fenster, durch die man hätte klettern können, befanden sich in dem Gebäude unerreichbar hoch. Die drei standen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand, eine rasende Bestie vor sich, die ihnen den Weg abschnitt.

Marcel kam immer näher, reine Mordlust in den gelblichen Raubtieraugen, die auf Cynthia gerichtet waren. „Nicht sie!“, flüsterte Lynn, setzte alles auf eine Karte und rannte wild entschlossen auf ihn zu. Sie wollte ihren Gegner mit einem Sprung gegen den Oberkörper aus dem Gleichgewicht bringen und dann versuchen, an einen empfindlichen Punkt seines Kopfbereiches zu gelangen. Bevor sie ihn jedoch erreicht hatte, rutschte sie auf einer Blutspur aus und knallte mit dem Kopf gegen einen eisernen Ofen. Stark blutend fiel sie zu Boden, wo sie wie eine verdrehte Gliederpuppe liegen blieb. Cynthia, die Zeugin der Szene geworden war, löste sich aus Marcs Schatten, eilte zu der offensichtlich Leblosen - und wurde von Marcel abgefangen. Marc, der ihr folgen wollte, fühlte den Lauf einer Waffe an seinem Hals. Abgelenkt von dem Geschehen vor ihm, hatte er nicht bemerkt, wie sich John angeschlichen hatte. Ihm stockte der Atem. Mit ansehen zu müssen, wie diese Bestie seine Freundin tötete, war ein unerträglicher Gedanke. Er fühlte, wie sich sein Gebiss zu verändern begann, wie die aufkeimende Wut in seinen Händen schmerzte, als sich dolchartige Krallen aus seinem Nagelbett schoben.
Cynthia wehrte sich verzweifelt, doch kam sie gegen die ungeheuren Kräfte, die sie bändigten nicht an. Ihre Gegenwehr schien Marcel auf seltsame Art zu erregen. Er drückte sie an sich und fuhr mit einer Pranke über ihre goldenen Locken. Beinahe zärtlich entblößte er seine furchterregenden Zähne und näherte sich damit ihrem Gesicht. John, der abwechselnd die beiden Kontrahenten beobachtet hatte, reagierte auf eine neue Eingebung. Mit drei, vier behenden Sätzen sprang John zu Marcel und hielt eine Waffe an den Kopf seines Partners.
„Eine falsche Bewegung und es gibt dich nicht mehr. Wir werden sie mitnehmen. Lass sie los.“ Unwillig knurrend löste Marcel seinen Griff und übergab Cynthia an John, der sie am Handgelenk packte. John richtete den Lauf nun auf Cynthia und sagte zu Marc:
„Versuch´ ja keine Tricks, sonst leg´ ich sie um.“ Marc nickte. John warf einen letzten Blick über die Schulter auf die Abgeschlachteten.
„Los jetzt! Raus hier, bevor mir schlecht wird.“

 
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Keuchend hielt sich Theoldin am Pfosten der kleinen Veranda fest. Der Schmerz in seiner Brust wurde unerträglich und Theoldin wusste, das es nicht dasselbe Wesen war, welcher ihm in dem Spiegel siegesgewiss entgegen gegrinst hatte. Er hatte darin Marcel erkannt, der seine Verwandlung fast perfekt vollzogen hatte, doch dieser Versuch des Magieentzuges und der Schmerz kam von jemand anderem.

Theoldin versuchte unter starken Schmerzen einen klaren Gedanken zu fassen und vor seinem inneren Auge sah er eine Gestalt, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Ismael“, stöhnte er laut und konnte es nicht fassen, das dieses Monster überlebt hatte. „Oh mein Gott“, krächzte Theoldin wieder, als er erkannte, in welcher Gefahr sich Marc und die anderen befanden. Er umklammerte das ovale Amulett noch fester. Sein Verstand drohte zu schwinden, angesichts dieses Schocks. Ismael, der Wächter der jenseitigen Welt, hatte sie aufgespürt.

Theoldin riss sich das Amulett vom Hals und rieb es zwischen den Händen, bis es anfing zu glühen, während er Formeln sprach um sich zu befreien und Ismael auf eine andere Fährte zu locken. Laut murmelnd drehte er sich zur Sonne und nahm ihre Energie in sich auf.
Er sah Ismael, wie er witternd stehen blieb, sich um die eigene Achse drehte und sich schließlich brüllend niederlegte, als die Sonne ihre Strahlen auf ihn richtete. Sie versengten sein weißes Fell und mit einem wütenden Brüllen setzte Ismael über ein paar Felsen und glitt in das kühle Wasser, das ihn mit sich trug. Nachdem sich sein Körper wieder auf die richtige Temperatur herunter gekühlt hatte, lief Ismael wieder ans Ufer und hielt witternd seine Nase in den Wind. Theoldin sprach eine kurze Formel, drehte somit den Wind und ließ Ismael nach Osten statt nach Süden ziehen. Er hatte ihn getäuscht.

Erschöpft ließ sich Theoldin auf den Stufen der Veranda nieder und ihm wurde bewusst, dass er keine Stimmen aus dem Versammlungshaus vernahm. Sie waren gekommen und Ismael hatte ihn so lange abgelenkt. Schnell nahm er den Stock an sich und humpelte innerlich zerrüttet zum Versammlungshaus.

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Marc starrte erst auf die Waffe, dann auf Morton und Cynthia. Was konnte er anderes tun, als sich zu fügen? Er wusste, machte er eine falsche Bewegung, war Cyn tot.
Marcel bückte sich und riss an Gwendolyns Gürtel. Sie lag auf dem Bauch und als er mit einem ungeduldigen Fluchen an dem Leder zerrte, rollte sie herum und Cynthia schluchzte auf, als sie Gwens entstelltes Gesicht sah, das die Kugel zerfetzt hatte. Marcel leckte sich die Lippen, biss den Gürtel entzwei und band Marc die Hände auf den Rücken. Dasselbe machte er mit Cyn und zufrieden knurrend er blickte noch einmal auf die tote Wächterin und sein Verlangen seine Klauen und Zähne in das noch warme Fleisch zu schlagen war fast unerträglich. Doch er beließ es bei diesem Gedanken, denn die Zeit drängte.
Während er Marc vorwärts stieß, ließ er seine Krallen ausfahren und erfreute sich an den roten Blutspuren, die er auf Marcs Rücken hinterließ.

Die vier verließen das Gebäude und Marcel und John stießen die beiden Gefesselten vor sich her. Marc und Cynthia hatten keine Gelegenheit sich zu verständigen, geschweige sich auszuruhen. Erschöpft und müde, ohne Essen und mit nur ein paar Schlucken Wasser versorgt, trotteten sie vor ihren beiden Peinigern her, die sie mit groben Mitteln zur Eile antrieben. Marcel und John unterhielten sich angeregt über belanglose Dinge, ohne das man ihnen jegliche Art von Erschöpfung anmerkte.

 
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Das Versammlungshaus wirkte auf den ersten Blick so idyllisch wie immer, und doch fühlte Theoldin, der einen Steinwurf davon entfernt mit beiden Händen auf seinen Stock gestützt nach Atem rang, die Ausläufer der grauenvollen Energien, die sich dort ausgetobt hatten. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung, näherte sich zögernd, Schritt für Schritt der Wirklichkeit, die hinter der hellgrünen Fassade erbarmungslos auf sein Eintreffen wartete. Zitternd und vor Anstrengung keuchend, erreichte er die Tür, schloss für einen Moment die Augen, um das Chaos der auf ihn einstürmenden Gefühle unter Kontrolle zu bringen und nahm alle Kraft zusammen. Er öffnete die Tür, trat ein und wankte unter der Wucht des Bildes, das sich ihm bot.

Welch gewaltige Kräfte des Bösen mussten hier gewütet haben! Das Ausmaß der Zerstörung war unfassbar. Der früher so schön dekorierte Hauptsaal glich einem Schlachtfeld. Kein Teil der Einrichtung war unversehrt geblieben, keine Wand ohne Spuren der vor Kurzem noch entfesselten Gewalt. Sämtliche kreativen Zeugnisse der Schwesternschaft waren zerfetzt oder mit Blut benetzt; überall lagen tote, verstümmelte Frauen und dazwischen, wimmernd ein paar verletzte Überlebende. Der Alte „rief“ nach den Heilerinnen, die unvermittelt erschienen, ausschwärmten und sogleich ihre Arbeit aufnahmen, doch in den meisten Fällen kamen sie zu spät.

Theoldin schleppte sich an den „Grauen“ vorbei, um eine Ahnung vom Ablauf des Geschehens zu bekommen. Ständig lief er Gefahr, auf verstreut liegende Körperteile zu treten. Manche der Toten waren so grauenvoll entstellt, dass der Alte nicht hätte sagen können, um welche der Wächterinnen es sich im Einzelnen handelte. Von tiefer Trauer blind, wäre er beinahe über eine Gestalt gestolpert, die da vor ihm auf dem Boden lag. Dieser Körper, dessen Gliedmaßen grotesk verdreht wirkten, schien ohne Leben zu sein und – er gehörte Lynn! Theoldin beugte sich zu ihr hinab, kniete sich neben sie und legte nach eventuell verbliebener Lebensenergie suchend, eine Hand auf ihren Bauch. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Ganz schwache Schwingungen gingen von ihrem Zentrum aus, aber sie lebte noch.

Auf einen Wink des Meisters hin, formierten sich mehrere Heilerinnen in einem Halbkreis um die Liegende. Völlig lautlos bildeten sie eine Einheit, die zu dem allgegenwärtigen Strom des Lebens eine Leitung legte. Nach einer schier endlos dauernden Minute zeigte sich ein minimaler Erfolg: Lynn bewegte sich.

 
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„Wie weit willst Du eigentlich noch laufen?“, knurrte Marcel an John gewandt. „Jetzt rennen wir bereits zwei Stunden durch die Gegend!“
„Bist du sicher, dass diese eine Wächterin tot ist, die Marc bisher geholfen hat? Und die anderen? Und was ist mit diesem alten Lehrer? Wenn wir gleich gewechselt wären, könnten sie uns aufspüren, daher will ich erst etwas Abstand zwischen uns und sie bringen! Aber vielleicht hast Du Recht, und wir können es jetzt wagen.“ Er sah Marc und Cynthia finster an. „Versucht nicht, euch dem Wechsel zu widersetzen!“ Er wies auf Cynthia. „Sie würde sofort sterben, und das willst du doch nicht, oder?“ Trotz seiner Skrupellosigkeit und Brutalität hatte er erkannt, dass Cynthia für Marc mehr bedeutete, als nur irgendeine der Wächterinnen, und er würde keine Sekunde zögern, dieses Wissen zu seinem Vorteil zu verwenden.
„Nun gut.“ Er fasste Marc am Arm. „Marcel, halte das Mädchen fest und folge mir!“
Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatten sie die Zwischenwelt verlassen und fanden sich im Hof eines großen Bauernhofes wieder.
Marcel sah sich irritiert um. „Und wie sollen wir von hier aus weiterkommen?“
John grinste. „Ein Hof bedeutet Menschen, und Menschen bedeuten normalerweise ein Fahrzeug. Lass uns den Bewohnern einen Besuch abstatten!“
Sehr schnell hatten sie die Küche gefunden, in der zwei Kinder, deren Mutter am Herd das Abendessen zubereitete, ihre Schularbeiten erledigten,. Der Anblick der auf sie und die Kinder gerichteten Waffen ließ sie sofort die Autoschlüssel übergeben.
Marc atmete auf; er hatte weiteres Blutvergießen befürchtet, aber als John mit ihm und Cynthia die Küche schon verlassen hatte, drehte Marcel sich noch einmal um und mähte die kleine Familie mit einer Salve seiner halbautomatischen Waffe nieder.
„Warum hast du das gemacht?“, herrschte John Marcel an. „Musste das sein?“
Marcel zuckte nur mit den Schultern. „Ich denke schon. Sie hätten uns sehr genau beschreiben können.“
John atmete tief durch. „Nun gut. Wir fahren jetzt zu mir, und dann werden wir sehen, ob Marc meine Fragen beantworten kann.“

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Erleichtert beobachtete Theoldin, dass Lynns Gesicht allmählich wieder Farbe annahm und ihr Atem kräftiger und gleichmäßiger wurde. Ganz zart strich er mit seiner faltigen Hand über ihre Wange. „Lynn! Du musst aufwachen!“
Endlich flatterten ihre Lider, um sich zögernd zu öffnen. Ausdruckslos und benommen starrte Lynn den alten Mann an, aber sehr schnell klärte sich ihr Blick. „Theoldin, was ist ...“ Sie brach ab, als sie zur Seite sah und das Ausmaß des von John und Marcel angerichteten Gemetzels erkannte. „Nein! Was haben sie getan? Wo ist Cyn? Und Marc?“
„Ganz ruhig, meine Liebe, die beiden leben, aber diese Fremden haben sie mitgenommen.“
„Sind sie gewechselt?“
Theoldin nickte. „Ja. Und Ismael sucht sie.“
„Ismael? Was will er tun?“
„Er weiß, dass diese beiden nicht existieren dürfen, in keiner der Welten, und er trachtet danach, sie zu vernichten. Es ist seine Pflicht, dadurch die Ordnung wiederherzustellen. Aber du musst Marc retten, bevor der andere ihn vernichtet – es kann nur einen von ihnen geben, und wenn Marc verliert, werden alle Welten im Chaos untergehen! Vielleicht wirst du Ismaels Hilfe brauchen.“
Lynn wurde bleich bei den letzten Worten. „Aber ich kann nicht ...“
„Doch, du kannst!“, schnitt der Lehrer ihr das Wort ab. „Hast du vergessen, wer du bist? Hast du vergessen, welche Fähigkeiten du dein Eigen nennst? Du wirst sie brauchen, du wirst alles brauchen, was du jemals erfahren und gelernt hast! Du wirst schnell handeln müssen, und du wirst Ismael mitnehmen!“
„Warum?“
„Weil selbst du alleine zu schwach sein wirst. Dieser andere Junge – er wird sehr bald erkennen, dass er Marc vernichten muss, um die Macht zu erlangen, und er wird nicht zögern. Lynn, eile dich! Und denke daran, was du mitnehmen musst!“
Vorsichtig setzte die Wächterin sich auf, aber die Heilerinnen hatten ganze Arbeit geleistet, sie hatte keine Schmerzen. „Wo finde ich Ismael?“
„Er wird dich finden. Geh jetzt! Bringe Marc zu mir, damit ich ihm den Weg in die jenseitige Welt weisen kann!“
Tränen schossen ihr in die Augen, als sie sich zur Tür wandte. War bereits alles zerstört? Konnte sie überhaupt noch etwas ausrichten, noch etwas retten? Sie wusste es nicht, aber sie würde es versuchen.
Ohne einen Blick zurück verließ sie das Schlachthaus, zu dem dieser einst heitere und besinnliche Ort geworden war, und aufsteigende Wut verdrängte ihre Trauer. Sie würde handeln, und sie wusste auch, was sie dafür benötigte. Entschlossen strebte sie dem Zelt zu, in dem Marc sich hatte ausruhen können.

Erschöpft schloss Theoldin die Augen. Er fühlte sich verantwortlich für all das, was geschehen war. Er hatte einen Fehler gemacht, in lange zurückliegenden Zeiten, und vielleicht hatte er nur deshalb so lange gelebt, um ihn wieder korrigieren zu können.
Er betete, dass Lynn sich an ihre Stärken erinnern möge.

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Es war bereits zwei Uhr morgens, als sie in Johns Büro eintrafen.
Mit vor Aufregung zitternden Händen öffnete John seinen Tresor, in dem er das alte Schriftstück verwahrte, und hielt es Marc hin. „Nimm es, und sage mir, was du darüber weißt! Versuche nicht, mich anzulügen, es würde deine Freundin das Leben kosten!“
Als Marc auf die verblassten, mit einer Feder geschriebenen Buchstaben starrte, entstanden Bilder in seinem Kopf: Er sah ein Kloster, er sah Mönche, aber da war noch etwas ... Undeutlich vermeinte er, Theoldins Gesicht zu erkennen, der warnend den Kopf schüttelte, aber was hatte der alte Lehrer mit all dem zu tun? Er versuchte sich zu konzentrieren, aber seine bleierne Müdigkeit lähmte ihn, hinderte ihn, einen klaren Gedanken zu fassen und sich zu konzentrieren.
„Ich kann nicht, ich bin einfach zu müde. Ich muss erst etwas schlafen!“
Ein kehliges Knurren war von Marcel zu hören und mit einer kurzen, schnellen Bewegung fuhr seine Pranke über Marcs Gesicht, vier blutige Striemen hinterlassend. „Was soll das? Streng dich gefälligst an!“
Marc sah auf, und zum ersten Mal traf sein Blick auf den Marcels. Wie hypnotisiert starrten sie sich an und mit einem Schlag wusste Marc, dass er hier seinen eigentlichen Widersacher vor sich hatte. Nicht John war es, der gefährlich war, es war Marcel. Er spürte, dass sich etwas in ihm veränderte, es waren nicht nur die Klauen, die sich wieder zeigten. Tief in ihm erwuchs eine Kraft, die er nicht kannte, die er nicht einschätzen konnte, aber ihm war klar, dass er sie nutzen musste – bald schon.
Ein tiefes Grollen entrang sich ihm. „Nicht jetzt!“, verwies er Marcel. „Auch du wirst warten müssen!“
Verständnislos sah John von einem zum anderen. Ihm war nicht klar, was zwischen den beiden vorging, aber er spürte, dass da etwas war.
„Also gut“, durchbrach er die atemlose Stille. „Dann schlaf erst. Aber vergiss nicht: Ich will Antworten hören!“
Nur ungern sperrte er Marc und Cynthia zusammen in ein Zimmer, aber es war das einzige, das ihm sicher genug erschien.
„Was war das eben?“, fragte er Marcel, als er zurückkehrte.
Marcel wandte den Kopf ab. „Er soll sagen, was er weiß, und dann werde ich ihn töten! Und das Mädchen.“ Er wollte John nicht merken lassen, dass er zum ersten Mal jemanden gesehen hatte, der ihm vielleicht ebenbürtig war.

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Es gab nicht viel, was Lynn mitnehmen wollte. Aus Cynthias Zelt holte sie den Rosenkranz von Bruder Markus, aus ihrem eigenen ein kleines, aber erstaunlich scharfes Messer. Nervös drehte sie es in ihren Händen, als sie zur Chimafelida trat. „Wirst du mir helfen?“, fragte sie geradeheraus.
Sachte bewegten sich einige der pelzigen Blätter und Lynn atmete erleichtert auf. Vorsichtig umfasste sie einen der Stängel und durchtrennte ihn mit einem sauberen Schnitt, um das sich immer noch bewegende Blatt sorgfältig aufzurollen und unter ihre Jacke zu stecken.
„Ich danke dir!“, sagte sie leise, für weitere Worte fehlte ihr die Zeit. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf Marc und Cynthia. Sie würde spüren, wo in der menschlichen Welt sie sich befanden, und würde an der richtigen Stelle wechseln können.

Als Ismael die starken geistigen Schwingungen wahrnahm, welche Lynn aussandte, kehrte er sofort um und eilte zur Siedlung der Wächterinnen zurück. Er wusste, dass jene, die er suchte, gewechselt hatten, und alleine konnte er ihnen nicht folgen. Diese eine Wächterin aber würde ihn mitnehmen können!

Die dumpfen Erschütterungen des Bodens rissen Lynn aus ihrer Konzentration: Sie wusste, wodurch sie ausgelöst wurden, und sie hatte gehofft, sie nie wieder vernehmen zu müssen. Aber ihr blieb keine Wahl, denn Theoldin hatte sicher Recht, wenn er sagte, dass sie Ismaels Hilfe brauchen würde.
Sie straffte sich und erwartete die Ankunft jenes Wesens, welches sie in ihrem Leben mehr als jedes andere gefürchtet hatte.
Ismael blieb stehen und wiegte seinen mächtigen Schädel langsam von einer zur anderen Seite, bis er sicher war, dass Lynn die richtige war, die vor ihm stand.
Lynn konnte ihn nicht mit Worten ansprechen, da er sie nicht hätte erwidern können, aber sie war imstande, seine Gefühle und Absichten zu erkennen, so wie er es umgekehrt konnte. Schneller, als es durch langwierige Diskussionen möglich gewesen wäre, hatten die beiden so unterschiedlichen Bewohner verschiedener Welten sich verständigt und brachen auf, um die kurz bevorstehende Katastrophe noch abzuwenden.

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Mutlos ließ Cynthia sich auf das schmale Bett fallen, nachdem die Tür sich hinter ihr und Marc geschlossen hatte und das Knirschen des Schlüssels ihnen verriet, dass sie eingesperrt waren. „Was sollen wir jetzt tun?“
Marc setzte sich neben sie und legte sanft den Arm um ihre Schultern. „Ich weiß noch nicht genau, was John von mir wissen will – ich bin zu müde, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Aber Marcel will uns töten, das konnte ich klar erkennen. Keine Angst, ich werde es nicht zulassen!“
„Sie sind zu zweit, sie sind bewaffnet, und Marcel ist sehr stark. Er hat viel aus der jenseitigen Welt!“
Normalerweise hätte Marc nachgefragt, was es mit dieser Welt auf sich hatte, aber im Moment war er nur noch müde und erschöpft. „Lass uns schlafen“, sagte er leise. „Morgen sehen wir weiter.“

Kurz nach Sonnenaufgang wurden sie von John aus dem Schlaf gerissen. „Jetzt will ich Antworten hören!“, sagte er und drückte Marc erneut das alte Schriftstück in die Hand.
Schon bei der ersten Berührung entstanden Bilder in Marcs Kopf: Er erkannte Bruder Markus wieder, sah ihn beim Niederschreiben seiner Erlebnisse. Wie in rasendem Zeitraffer begleitete er ihn auf seinen ersten Ausflügen in die Zwischenwelt, er erlebte mit, wie er seine Klosterbrüder ebenfalls dazu überredete, er sah, wie jeder einzelne einen Teil dessen aufschrieb, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Er wusste nun auch, wo die übrigen Schriften verborgen worden waren, aber er hatte noch etwas anderes erkannt: Dass all jene Erlebnisse von Bruder Markus auf sehr viel älteren Aufzeichnungen beruhten, und dass John keinesfalls von diesen erfahren durfte. Wieder erschien ihm Theoldins Gesicht, aber plötzlich verschwamm alles um ihn herum und für die Dauer eines Lidschlages befand er sich in einer fremden, einer im ersten Moment unfassbaren Welt. Aber bevor er sie genauer wahrnehmen konnte, war er zurück.
Er ließ das Blatt fallen, als hätte er sich daran verbrannt und schüttelte den Kopf. „Ich weiß jetzt, was du wissen willst“, sagte er langsam und sah John offen an, „aber ich kann es dir nicht sagen.“
Mit einem wütenden Knurren sprang Marcel vor und riss Cynthia hoch, schlang seinen rechten Arm um ihren Hals und setzte die Klauen seiner linken Hand an ihre Kehle. „Und sie soll sterben?“, fragte er drohend. „Ist es das wert? Denn das wird sie, wenn du nicht redest!“
In diesem Moment vergaß Marc John, vergaß seine Umgebung, dachte nicht mehr an Lynn oder die Zwischenwelt, er sah nur noch das rötliche Funkeln in Marcels Augen und erkannte, dass er nur noch ein einziges Ziel haben durfte: Marcel zu vernichten. Langsam stand er auf und trat dicht an seinen Gegner heran. Er wusste, dass seine Klauen sichtbar geworden waren, er spürte, wie seine Zähne sich verlängerten, seine sich spannende Kleidung verriet ihm, dass er nochmals an Größe zunahm.
„Du wirst sie nicht töten“, sagte er ganz ruhig und schlug mit einer blitzartigen Bewegung Marcels Arm zur Seite.
Wie zwei Duellanten standen sie sich gegenüber und starrten sich an. Marc spürte eine drängende Kraft in sich, wie einen Kloß im Hals, den er ausspeien wollte. Er nahm nicht wahr, wie sehr die Luft um ihn herum sich erhitzte, er sah weder John, der zur Tür zurückwich, noch Cynthia, die hinter ihn trat. Immer mehr seiner nur noch mühsam gebändigten Kraft verschaffte sich freie Bahn, wogte auf Marcel zu um ihn zu versengen, auszulöschen aus dieser und allen anderen Welten.
Aber Marcel war nicht unbewaffnet, und was er Marc zurückschleuderte erschien wie eine lebende Mauer aus tödlicher Kälte, die alles erstarren lassen würde, wenn sie ihr Ziel erreichte.
Wieder verschwamm die Umgebung um Marc, er sah nur noch Marcel und aus dem Augenwinkel erkannte er, dass sie beide sich an einem anderen Ort befanden, so fremd, so unbegreiflich, dass es ihn für einen Moment verwirrte.

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Lynn spürte, dass sie und Ismael die richtige Stelle erreicht hatten; wenn sie wechselten, würden sie Marc und Cynthia sehr nahe sein, aber nicht nur ihnen. Sie war sich nicht sicher, ob sie diesem Wesen aus der jenseitigen Welt trauen konnte, oder ob es in seiner Raserei auch jene töten würde, die es zu retten galt, aber sie hatte keine Wahl. Noch einmal holte sie tief Luft.
Im nächsten Moment befanden sie sich in einer noch menschenleeren Straße, es begann gerade zu dämmern. Sie sah sich nur kurz um. „Dieses Haus muss es sein!“, sagte sie und deutete auf einen aus Glas und Stahl bestehenden Gebäudekomplex.
Ismael brüllte auf und setzte seinen wuchtigen Körper in Bewegung, durchbrach mühelos die verriegelte Glastür und stürmte weiter, während die Splitter in einem glitzernden Regen zu Boden fielen. Beklommen folgte Lynn ihm; sie wusste, dass sie vor dieses Wesen gelangen musste, um Schlimmeres zu verhüten.

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Wie aus weiter Entfernung vernahm Marc ein grauenhaftes Aufbrüllen, sah wieder das Zimmer um sich, in welchem er seinem Feind gegenüberstand. Wieder ertönte das Brüllen, aber näher, sehr viel näher als zuvor.
„Nicht hier!“, hörte er eine junge, klare und sehr vertraute Stimme hinter sich.
„Lynn!“, schluchzte Cynthia auf und wollte zu ihrer Gefährtin stürzen, aber Lynn hob sofort die Hand. „Bleib stehen, Cyn! Marc, tritt zurück!“
Marc wusste nicht, was sie beabsichtigte, aber vorsichtig trat er einige Schritte zurück, ohne Marcel dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Gerade noch rechtzeitig, denn Ismael stürmte herein. Seine gewaltigen Schultern rissen den Türstock heraus, Teile der Mauer brachen ein.
Marcel reagierte sofort, von einem Moment zum nächsten war er verschwunden, war zurückgewechselt in die Zwischenwelt, aber John blieb keine Zeit mehr, um in irgendeiner Form zu reagieren. Nur kurz fasste das Wesen ihn ins Auge, bevor es sich auf ihn stürzte. Schaudernd wandten alle drei sich ab, hörten nur noch das Knirschen brechender Knochen, das Reißen von Muskelfleisch und die schrillen, alles übertönenden Schreie von John.
Marc drückte Cynthia an sich, die ihren Kopf an seiner Schulter verbarg. „Warum wechseln wir nicht auch?“, zischte er Lynn an. „Muss sie das miterleben?“
„Wir können nicht“, gab Lynn bemüht ruhig zurück. „Oder soll ich ihn vielleicht hier lassen? Er kann nur mit mir gemeinsam wieder wechseln!“
Obwohl es kaum eine Minute währte, erschien es ihnen wie eine Ewigkeit, bis Stille einkehrte. Marc hörte Ismaels dumpfes, etwas atemloses Grollen, aber er drehte sich nicht um. Nicht nur die Wände waren blutbespritzt, auch Lynn und er selbst hatten mehr als nur ein paar Spritzer abbekommen.
„Jetzt wechseln wir“, bestimmte Lynn. „Wir müssen zu Theoldin, er wird dir alles erklären – hoffe ich. Und du wirst Marcel vernichten müssen!“
Marc nickte stumm, zu sehr von Entsetzen erfüllt, um etwas sagen zu können.
„Aber du musst noch etwas mitnehmen“, fuhr Lynn fort und deutete auf das in einer Blutlache am Boden liegende Schriftstück. „Das, und es muss noch etwas hier sein, was nicht hierher gehört! Wir müssen es finden!“
„Aber was?“
Lynn deutete auf die Pranken von Ismael. „Er verlor mehr als nur eine Kralle, und wir müssen die Knochen finden. Sonst findet es nie ein Ende.“
Marc sah sich ratlos um. „Wo soll ich denn suchen?“
„Hier.“ Lynn griff unter ihre Jacke und reichte ihm den Rosenkranz. „Vielleicht hilft er.“
Aber in diesem Moment brüllte Ismael erneut und setzte sich in Bewegung.
„Was tut er?“, fragte Marc.
„Ich nehme an, er weiß, wo wir suchen müssen. Wir sollten ihm nachgehen.“
Marc hörte bald auf, die Türen zu zählen, die das Wesen durchbrach, als es sich seinen Weg durch den Laborkomplex suchte, er folgte nur noch und stützte Cynthia, die sich angsterfüllt an ihn klammerte.
Vor einer Stahltür blieb Ismael stehen und hieb wütend mit seinen Pranken gegen das matt schimmernde Metall, aber es widerstand.
„Wie sollen wir da jetzt hineinkommen?“, fragte Marc. „Ich sehe keine Möglichkeit!“
„Aber ich vielleicht“, entgegnete Lynn und holte das Blatt der Cimafelida aus ihrer Jacke. Behutsam streichelte sie es, berührte es sanft mit ihren Lippen, bis es reagierte und sich langsam entrollte. „Jetzt hilf uns!“, flüsterte sie und legte das Blatt über das Schloss der Tür. Wie von Magneten gehalten haftete es an dem blanken Metall.
„Und jetzt?“, fragte Marc ungeduldig. „Was hilft uns das?“
„Warte ab!“
Ein lauter werdendes Zischen war zu hören, feine Rauchschwaden drangen hinter dem Blatt empor, unerträglicher Gestank erfüllte die Luft. Plötzlich löste das Blatt sich und fiel zu Boden, aber es löste sich in feines Pulver auf, bevor es ihn erreichte.
Da, wo es an dem Stahl gehangen hatte, klaffte ein Loch in der Tür, das Schloss war verschwunden.
„Jetzt können wir hinein“, sagte Lynn und griff hindurch, um die Tür zu öffnen. Sie hatte gerade noch Zeit, um zur Seite zu treten, als das Wesen schon hineindrängte.
Ein Kabinett des Grauens eröffnete sich ihnen: Glasvitrinen voller drachenähnlicher Mäusebabies, missgestaltete menschliche Föten in unterschiedlichen Entwicklungsstadien – Marc wandte sich ab, als er erkannte, was John getan hatte.
Ismael zerstörte jeden einzelnen Glaskasten und verschlang deren Inhalt.
„Muss das sein?“ Marc verstand nicht, was er sah.
„Ja, es muss sein, er muss es alles zurückbringen in die jenseitige Welt, das ist seine Aufgabe!“
In der letzten Vitrine befand sich nur ein sehr kleines Stück Knochen und Ismael brüllte dröhnend auf, als er es entdeckte. Sekunden später war es zwischen seinen mächtigen Kiefern verschwunden. Suchend sah er sich um, bis sein Blick auf Marc fiel.
„Nein!“, rief Lynn laut und stellte sich vor den Jungen. „Ihn nicht! Denke an den anderen – er muss vernichtet werden! Du weißt, was sonst geschehen wird.“
Zwar verstand das Wesen ihre Worte nicht, aber ihre Absichten und schloss langsam seinen aufgerissenen Rachen.
Erleichtert atmete Lynn tief durch und deutete auf die Akten in den Wandregalen. „Wir sollten das alles verbrennen! Das ist deine Aufgabe, Marc!“ Sie fasste nach Cynthias Arm und zog das zitternde Mädchen mit sich zur Tür. Nur kurz drehte sie sich noch einmal um und bedeutete Ismael, mit ihnen zu kommen.
"Hier", sagte sie zu ihm vor der Tür und griff in ihre Jacke. "Das gehörte dir, und du solltest es zurückerhalten!" Damit hielt sie ihm die Kralle hin, welche sie immer als Talisman bei sich getragen hatte.
Ein seltsames Grunzen war von Ismael zu hören, bevor er langsam seinen Kopf vorstreckte und mit seinem gewaltigen Maul vorsichtig das Relikt von Lynns Hand nahm. Nur kurz hörte sie ein Knirschen, dann war auch diese Erinnerung an eine lange zurückliegende Zeit verschwunden.

Marc ließ seinen Blick schweifen über das Chaos, welches sich ihm bot, und wieder stieg Wut in ihm auf: Wut über das, was John verbrochen hatte, über den Tod seiner Eltern, über das, was John aus ihm selbst gemacht hatte, und wieder entwickelte sich die alles verbrennende Hitze. Nur kurz strich er mit seinen Händen über die Aktenordner, als sie auch schon in Flammen aufgingen. Schnell wandte er sich ab und folgte Lynn.
„Wir müssen sofort wechseln“, sagte er draußen. „Hier wird bald die Feuerwehr auftauchen!“
„Ja. Und wir müssen zu Theoldin. Marcel darf uns nicht entkommen!“

 
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Grelle Lichtpunkte tanzten vor Marcels Augen, bevor er nach einigen Blinzeln wieder klar sehen konnte. Der Wechsel war zu schnell vonstatten gegangen und er fühlte sich einen Augenblick lang benommen. Er stand inmitten hoher Tannen auf einem kleinen Pfad, der sich einen Hügel hinauf schlängelte. „Gibt’s doch nicht“, zischte Marcel wütend, als ihm bewusst wurde, dass er sich immer noch in der Menschenwelt befand. Nur wo? Wieso hatte die Schlampe von Wächterin überlebt? Und was war das für ein Biest gewesen, das ihn angreifen wollte? Marcel lief ein paar Schritte den Hügel hinab und blieb weiter grübelnd, stehen.
Wie konnte es sein, das er in der gleichen Welt gewechselt hatte? Einfach nur an einen anderen Ort. So etwas war ihm nie passiert. Was konnte nur der Anlass gewesen sein, das er nicht in der Zwischenwelt gelandet war?
Ohne dass er wusste wo er sich befand, konnte er nicht wechseln.
Missmutig drehte sich Marcel um und stieg den Hügel hinauf, in der Hoffnung, auf der Kuppe erkennen zu können, wo er sich aufhielt. Schwer atmend kam er schließlich am höchsten Punkt des kleinen Berges an.

Fassungslos blieb er stehen und ein tiefes hämisches Lachen entrang sich seiner Kehle. Um sich zu überzeugen, das er wirklich an der Stelle stand, wo er nie geglaubt hatte, sie überhaupt zu finden, ließ er seine Krallen ausfahren und fuhr damit über den hüfthohen, grauen Stein der wohl ein Teil eines Tores gewesen war.

Seine Krallen hinterließen tiefe Rillen und nach mehrmaligem Kratzen brach der Stein auseinander. Marcel bückte sich, steckte seine Nase in den gespaltenen Stein, atmete tief den Geruch der vergangenen Jahrhunderte ein. Marcel erhob sich und brüllte triumphierend.

Es war ihm, als sehe er durch die Steine in das Erdreich, wo sich unter ihm die Katakomben erstreckten. Mit gezielten Schritten ging er auf eine größere noch stehende Wand zu und fing an zu graben. Marcel fragte sich nicht mehr, wie er hierher gekommen war. In ihm brannte nur die Frage: Würde er hier unter der Klosterruine die Schriftrollen finden?

Energien pulsierten durch seinen Körper und Marcel grub schneller, als jedes Tier es vermochte. Nach wenigen Minuten hatte er ein so tiefes Loch gegraben, dass sein Oberkörper darin verschwand. Er schnupperte und buddelte hektisch weiter. Weder kleine spitze Steine, noch der Sand der ihm ins Gesicht flogen, machten ihm etwas aus und als er schließlich mit geballter Faust in die Mulde stieß, bröckelte die Erde unter seinen Händen weg, und es entstand ein kleines Loch.
Bald war das Loch groß genug, dass er sich hindurch zwängen konnte. Mit einem dumpfen Aufprall landete er auf dem Steinboden der dunklen Katakomben.

Marcel blieb eine Weile stehen, um sich an das gedämpfte Licht zu gewöhnen. Die Iris seiner Augen wichen dem ausgeprägtem Sehvermögen einer Raubkatze. Er befand sich in einem Kreuzgang und nahm den erstbesten Weg, um ihn zu erkunden. Viele Wände waren eingestürzt, Türen hingen schräg in den Angeln und überall lagen Steinbrocken im Weg. Marcel begann die Räume zu untersuchen.
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Obwohl ihm weder eine Lampe noch eine brennende Fackel ein wenig Licht spendeten, sah er doch sämtliche Umrisse klar und deutlich vor sich. Immer tiefer drang er in die Kellergewölbe der Klosterruine vor. Die Wände wurden feuchter und ab und zu kreuzte eine Ratte seinen Weg. Schliesslich gelangte er in einen Raum, der wohl zur Vorratshaltung genutzt worden war. In die Steinwände waren Regale geschlagen, auf denen ein paar zerbrochene Tonkrüge standen, rechts neben dem Regal konnte man die Überreste von alten, halb zerrotteten Hozfässern erkennen.
Plötzlich nahm Marcel eine Witterung auf. Er drehte seinen Kopf in die Richtung , aus welcher der Geruch kam und blähte seine Nasenflügel auf. Wie durch einen Magneten angezogen, bewegte er sich vorwärts. Je intensiver der Geruch wurde, um so stärker wurde auch Marcels Verlangen, die Quelle der Verursachung aufzuspüren.
Zwei Gewölbe weiter wurde er schliesslich fündig. In einer der hinteren Ecken des Raumes lag eine undefinierbare, dunkelbraune Masse.
Gierig sog Marcel den moderigen Gestank in sich auf, schlug seine Krallen in das ekelerregende Etwas und zog es vom Boden hoch. Zuerst dachte er, dass es sich um einen alten Sack handelte, doch dann erkannte er, dass es eine Mönchskutte sein musste, denn das braune Gebilde aus Leinenstoff hatte zwei Ärmel und eine Halsöffnung. Obwohl sie feucht und halb verschimmelt war, steckte Marcel seine Nase in die Überreste der Kutte und atmete tief ein. Er merkte nur noch, wie ihm auf einmal schwarz vor Augen wurde, dann wusste er nichts mehr.

Als er wieder zu sich kam, befand er sich noch immer in dem Gewölbe. Doch die alte Mönchskutte war verschwunden, stattdessen stand dort ein Holztisch und an der Wand war eine brennende Fackel befestigt. Gerade als Marcel sich aufrichten wollte, betrat ein Mönch den Raum, er ging geradewegs auf ihn zu, nahm ohne ihn zu beachten die Fackel und verliess den Keller wieder.
Er muss mich doch gesehen haben, dachte Marcel, warum hat er nichts gesagt? Marcel wurde neugierig und beschloss, dem Klosterbruder zu folgen. Dieser war bereits am anderen Ende des Ganges angelangt und bog nach links ab. Als Marcel ihn einholte, sah er, dass dieser eine schmale Steintreppe nach oben stieg. Wie er bald darauf herausfand, mündete die Treppe in der Klosterküche. Ein Mönch stand an einer offenen Feuerstelle, über einen grossen Kessel gebeugt, aus welchem weisse Rauchschwaden emporstiegen.
Marcel beschloss, es einfach drauf ankommen zu lassen und folgte dem Pater durch die Küche. Und wieder passierte nichts, der Klosterbruder, der am Kessel stand, wurde nicht auf ihn aufmerksam, geschweige denn, richtete er das Wort an ihn, obwohl er mehr als einmal in seine Richtung schaute.
Sie können mich nicht sehen, ich existiere für sie gar nicht, triumphierte Marcel innerlich. Ein hämisches Grinsen zog seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und liess einen der Fangzähne aufblitzen.

Der nächste Raum, in den er dem Mönch folgte, musste das Refektorium, der Speiseraum sein. Lange Holztische und Bänke waren entlang der Wand aufgestellt, und der Pater gesellte sich zu fünf anderen Brüder, die sich dort bereits schweigend gegenüber sasssen, ein jeder einen Teller und einen Becher vor sich stehend. Ein grosser Tonkrug und ein Korb mit grobgeschnittenen Brotscheiben standen in der Mitte des Tisches. Einer der Brüder begann mit einer Singsangstimme Psalme vorzutragen.
Marcel verspürte plötzlich ein Hungergefühl und machte sich einen Spass daraus, ein Stück Brot vom Tisch zu nehmen, wohlwissend, dass niemand ihn davon abhalten würde. Er setzte sich an das Ende der Sitzbank und begann, die Mönche etwas genauer zu betrachten. Er beobachtete, wie sie die Suppe, die ihnen der Bruder aus der Küche in die Holzschalen schöpfte, auslöffelten und wie sie hin und wieder einen Schluck Wein aus den Bechern tranken.
Und dann fiel es ihm auf. Er registrierte die langen schmalen mit starkem Haarwuchs bewachsenen Hände der Mönche mit den krallenartig verformten Fingernägeln, die schlanken, sehnigen Körper, die unter den Kutten und Skalupieren zu erahnen waren und die langen spitzen Zähne, die hier und dort aus ihren Mündern hervorblitzten. Diese Erkenntnis bestärkte Marcel entgültig in der Annahme, dass er sich genau zu der Zeit im Kloster befand, als Pater Markus bereits mit den sechs verbliebenen Brüdern, den auf der Schriftrolle beschriebenen Trank ausprobiert hatte. Sie waren zu Zwischenwesen mutiert. Marcel frohlockte, nun würde es ein Leichtes für ihn sein, herauszufinden, wo die sieben Schriftrollen versteckt waren. Oder vielleicht konnte er sogar die Mönche dabei beobachten, wie sie ihre Erfahrungen niederschrieben und wo sie die Rollen verbargen.
Allerdings begann er sich auch zu fragen, wie er es wohl anstellen würde, wieder in die Gegenwart zurückzukehren.

Nach dem Gottesdienst zur Non, begaben sich die sieben Mönche ins Scriptorium. Dort setzten sie sich ein jeder an ein Schreibpult, und begannen, auf den vor ihnen liegenden Pergamenten zu schreiben. Marcel, der ihnen gefolgt war, ging von Pult zu Pult und versuchte das Geschriebene zu entziffern. Es war jedoch eine Schrift, die er noch nie zuvor gesehen hatte.
„Liebe Brüder“, sagte schliesslich einer der Mönche, Pater Markus, wie Marcel richtig vermutete, nachdem die Schreibenden ihre Federn niedergelegt hatten.
„Es ist vollbracht. Doch nun müssen wir unser zu Papier gebrachtes Wissen vor der Menschheit bewahren. Nie darf eine Menschenseele einen Blick auf diese Schriftrollen werfen, sonst wird grosses Unheil geschehen.“ Die anderen Klosterbrüder nickten zustimmend.
„Lasst sie uns in den Katakomben verbergen“, schlug einer vor.
„Doch nicht zusammen“, bemerkte ein Zweiter, „jedes Schriftstück muss an einer anderen Stelle aufbewahrt werden.“

Nachdem die Brüder die Pergamente zusammen gerollt und versiegelt hatten, begaben sie sich in die Bibliothek, wo zwei der Mönche ein schweres Bürcherregal beiseite schoben. Dahinter befand sich eine schmale Tür, die sich nun laut knarrend öffnete.
Einer nach dem anderen verschwanden die Klosterbrüder in dem dunklen Loch, die Schriftrollen fest an sich gedrückt und auch Marcel zwängte sich hindurch, bevor sich die Tür, wie durch Geisterhand betrieben, wieder schloss. Eine Treppe führt nach unten in das Kellergewölbe, wo sich jeder der Mönche mit einer Kerze bewaffnete. Sie gingen durch einen langen Felsengang, bis sie erneut vor einer Holztür haltmachten. Pater Markus griff unter sein Skapulier und zog einen schmiedeeisernen Schlüssel hervor. Er öffnete die Tür und die Klosterbrüder folgten ihm in den engen, niedrigen Raum. Marcel blieb an der Tür stehen und beobachtete, was die Mönche nun vorhatten. Er sah, wie Bruder Markus einen Stein aus der Wand zog und diesen neben sich auf den Boden legte.
„Bruder Paulus, Eure Rolle bitte.“ Der jüngste der Mönche trat vor und überreichte Pater Markus sein Pergament, welches dieser in die Wandnische schob. Dann hob er den Stein vom Boden auf und verschloss die Öffnung wieder.

So gingen die Büder von Raum zu Raum und versteckten die Schriftrollen an verschiedenen Orten, auf das sie nie wieder ein menschliches, neugieriges Auge erblickte.

Marcel rieb sich indessen lachend die Hände. Sobald sich die Mönche nach der letzten Messe zur nächtlichen Ruhe in ihre Zellen begeben würden, würde er in die Katakomben hinabsteigen und die Schrifrollen an sich bringen.

 
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Nach zwei Stunden des Wartens gingen die Brüder schließlich jeder in ihre Zellen und Marcel machte sich auf den Weg zur Bibliothek.
Gemächlich ging er zielstrebig auf eines der vielen Bücherregale zu, schob ihn beiseite und stand vor der Geheimtür.
Er suchte eine ganze Weile, bis er schließlich einen kleinen Hebel hinter einem schweren Vorhang fand. Die Tür öffnete sich geräuschlos und er schlüpfte hindurch.
Er bemerkte, dass sich die Tür nicht wieder von alleine schloss, doch es kümmerte ihn nicht. Bis die Mönche zur Morgenmesse aufstanden, hatte er viel Zeit.

Er hätte Brüllen können vor Freude angesichts des nahen Zieles und des Ruhmes welches er erringen würde. Während er die Gänge entlang ging, träumte er davon, was für eine Macht diese Rollen wohl in seinen Händen vollbringen würden.

Fast rannte Marcel durch die Gänge und drang in die einzelnen Kammern ein um sich die Schriftrollen zu holen. Doch dadurch, dass er die Mönche begleitet hatte, fiel es ihm schwer die richtigen Räume zu finden, denn er hatte sich nur darauf konzentriert, wo in den Räumen die Rollen versteckt worden waren.

Nach einigem Suchen fand er schließlich in einem Zimmer den Stein, unter dem der Mönch das erste Schriftstück versteckt hatte. Schnell hob er ihn heraus und angelte nach der Rolle. Er langte mit dem gesamten Arm hinein, doch konnte er sie nicht fassen. Immer wieder rutschte er mit seinen Fingerspitzen an der glatten Oberfläche des Schatzes ab. Schließlich ließ er seine Krallen ausfahren, spießte die wertvolle Schriftrolle auf und zog sie heraus.

Nach einiger Zeit fand er auch endlich den richtigen Kreuzgang, in dem er die Nische fand, in der ein Holzkreuz hing. Er riss das Kreuz von der Wand, brach es auseinander und war im Besitz der zweiten Rolle. Noch vier Rollen fand er unter ähnlichen Bedingungen und schüttelte den Kopf über die Dummheit der Mönche, sich so leichte Verstecke auszudenken. Er war sich sicher, wäre er in seiner Zeit hierher gekommen, hätte er sie leicht gefunden. Die Suche und das ergattern der sechs Schriftrollen hatte Marcel viel Zeit gekostet. Ungeduldig hetzte er nun durch die Räume, konnte es kaum abwarten die siebente und Letzte endlich an sich zu nehmen.

Als er sich verschwitzt und abgehetzt an eine Wand lehnte, sah er eine Tür, die sich so nahtlos in die restliche Wand einfügte, dass er sie beinahe übersehen hätte. Mit einem erleichterten Seufzer stieß Marcel sie auf. In der Mitte des Raumes stand eine alte, schwere Truhe, die er mit seiner ganzen Kraft zur Seite schob. Nachdem er Stroh, das überall herumlag, beseitigt hatte, kam darunter eine steinerne Platte zum Vorschein, die mit einem großen Eisenring versehen war.
Marcel bückte sich und ergriff den schweren Eisenring, drehte ihn bis es klickte und zog, um die Klappe auf zu stoßen. Doch irgendwie musste sich der Verschluss verkeilt haben, denn nichts rührte sich. Wütend ging Marcel um die Bodenplatte herum, bis ihm auffiel, dass auf der Luke ein kreisförmiges, filigranes Zeichen aufgemalt war. Er strich mit der Hand darüber, verwischte die eigenartigen Zeichen, die sich sogleich in ganz andere Symbole verwandelten. Marcel fuhr wütend immer wieder über die Luke, doch das erstgesehene Muster kam nicht mehr zum Vorschein.

Er grübelte darüber nach, warum er nicht bemerkt hatte, dass einer von den Brüdern etwas darauf geschrieben hatte. Aber das war nun einerlei, er musste an diese Rolle herankommen. Doch wie er die Zeichen auch verwischte, er konnte die Luke nicht öffnen. Ihm wurde klar, dass nur Magie dahinter stecken konnte und kratzte wütend über den Stein, bis ihm klar wurde, dass er den Code so nicht knacken konnte.

Stimmen wurden laut und Marcel schrak auf. Er lief ein paar Schritte zur Tür, um sie zu schließen, überlegte es sich aber anders und blieb wartend mitten im Raum stehen.
Das Gemurmel wurde lauter und schnelle Schritte näherten sich. Marcel konnte nur verstehen, dass sich alle Brüder verteilen und die Räume absuchen sollten. Dann trat Bruder Marcus mit einem anderen Mönch durch die Tür.
„Hier muss jemand gewesen sein! Ich weiß genau, dass ich die Tür, sowie die Geheimwand wieder geschlossen habe. Gut das wir durch die Bibliothek zur Messe gehen wollten, sonst hätten wir es nicht bemerkt.“
„Meint ihr, es hat uns jemand belauscht und will die Rollen nun an sich nehmen?“, flüsterte der andere bestürzt und erkundete schnell den Raum, bevor er zu der Bodenluke trat.
„Ich weiß es nicht Bruder Raphael. Wir sind hier im Kloster unter uns und ich kann mir nicht vorstellen, dass einer hier uns verraten würde. Dafür steht für jeden Einzelnen zu viel auf dem Spiel“, brummte Bruder Marcus und versuchte seine Unruhe zu verbergen.
Mit einem Aufschrei ließ sich Bruder Raphael auf den Boden fallen und starrte erschreckt auf die Luke. „Oh seht doch, man hat versucht das magische Siegel zu brechen“, stöhnte er und blickte Bruder Marcus ängstlich fragend an.
Dieser trat sogleich zur Luke und trotz seiner verschlossenen Miene sah man, wie sich seine Wangenmuskeln spannten. „Ich weiß nicht. Wir müssen nachsehen, ob die Rolle noch da ist“

Marcels Blickfeld auf die Luke war von Bruder Raphael verdeckt und schnell trat er ein paar Schritte auf die Luke zu, um zu sehen, welches magische Siegel der Schlüssel zu letzten Schriftrolle war.

Doch bevor Bruder Marcus die Bodenplatte berührte, ertönten entrüstete Schreie durch die Gänge und er und Bruder Raphael sprangen auf. Zwei Mönche rannten durch die Tür und einer rief entsetzt: „Die Schriftrollen sind fort. Alle sind sie fort. Wir hätten sie besser verstecken müssen. Was sollen wir denn jetzt nur tun, um das Unheil aufzuhalten.“

„Ruhe bewahren“, bemühte sich Bruder Marcus ruhig zu sagen. „Wenn es ein Dieb war, so ist er über alle Berge. Ich frage mich nur, wer konnte von den Verstecken wissen, geschweige denn von den Schriftrollen, die wir gerade erst geschrieben haben?“
„Ich weiß schon, wer es hätte sein können“, meinte der mürrische Bruder Ralph und blickte kurz zu Bruder Festus hinüber. Bruder Festus spuckte aus und sagte böse: „Warum hätte ich das tun sollen. Was sollte mir das bringen?“
„Das weißt du ganz genau. Du hast früher im Gefängnis gesessen, weil du nicht genug Geld und Macht in der Politik haben konntest. Wieso sollte man dann nicht annehmen, dass du es warst? Du bist nur zu uns gekommen, weil man es dir befohlen hatte“, erzürnte sich Bruder Ralph weiter, während die anderen, die durch die Tür drängten, laut zustimmten.

„Haltet ein, meine Brüder. Vorerst wird kein Urteil gefällt, sofern es nicht bewiesen ist“, versuchte Bruder Marcus zu beschwichtigen. Doch es war schon zu spät. Mit einem Aufschrei stürzte sich Bruder Festus auf Ralph und begann ihn zu würgen. Wilde Rufe wurden laut und der Rest stürzte sich wütend auf die beiden. Gerangel entstand und obwohl Bruder Marcus immer wieder versuchte die wilde Meute auseinander zu reißen und mit ruhigen Worten dem Tumult ein Ende zu bereiten, hatte er damit keinen Erfolg.

Marcel stand mit verschränkten Armen im Raum und genoss die Szene. Er hätte es sich nicht schöner ausmalen können, als das sich fromme, brave Mönche an den Hals gingen.
Plötzlich klirrte es und eine der Öllampen ging zu Bruch. Die Brüder kümmerten sich nicht darum, schienen es gar nicht zu bemerken, während sich das Stroh auf dem Boden entzündete.

Erst nach einer Weile bemerkten die Mönche die durch das Feuer drohende Gefahr und versuchten in wilder Panik, gleichzeitig durch die Tür zu stürzen.
Wie ein Pulk hingen sie in der Tür, knufften, drückten und hieben voller Panik aufeinander ein, während die Flammen sich schnell ausbreiteten. Die Panik hatte den Höhepunkt erreicht, als die Kutten zweier Brüder in die Flammten gerieten, sich entzündeten und die Träger schreiend wie lebendige Fackeln durch den Raum irrten um dem Feuer zu entkommen. Von den beiden Mönchen hörte man bald nur noch ein hohes Quietschen, bis sie sich schließlich dem Feuer ergaben und in sich zusammen sanken. Marcel atmete den Duft des verbrannten Fleisches tief ein und sein Magen knurrte.

Die Gruppe an der Tür löste sich auf und die Mönche hetzten in allen Richtungen davon.

Wo Marcel eben noch Kühle gespürt hatte, obwohl die Hitze des Feuers ihn hätte verbrennen müssen, bemerkte er, dass er nicht so unverwundbar war, wie er geglaubt hatte. Ein heißer Schwall drang durch seine Kleidung und er wusste, er war ebenso in Gefahr, wie die Mönche.

Die sechs Schriftrollen unter seiner Jacke fest an sich gedrückt lief Marcel durch die Gänge und suchte verzweifelt nach den rettenden Treppenstufen, die ihn zur Geheimtür bringen würde. Er hatte das Gefühl er laufe nur im Kreis. Der Rauch verdichtete sich in den Katakomben und hustend hetzte er weiter. Er konnte die Mönche schreien hören, doch die Stimmen hallten wider, so dass er nicht wusste, woher sie kamen.
Schließlich sah er weit hinten einen Kuttenzipfel um die Ecke wehen und machte so große Sätze wie möglich, diese einzuholen.
Doch als er den Bruder eingeholt hatte, saß der zusammengekrümmt in einer Sackgasse und nur ein klägliches Wimmern war zu hören.

Durch die Panik hatten sich selbst die Mönche verlaufen und fanden nicht mehr zurück in die Bibliothek. Bald waren keine Schreie mehr zu hören und Marcel war hier alleine gefangen, wusste nicht wohin er noch gehen sollte. Er versuchte zu wechseln, vermochte es aber nicht, da er nicht wusste in welchem Zustand er eigentlich war und keinen Anhaltspunkt fand.

Er versuchte ruhig zu atmen und seinen wilden Gedanken Einhalt zu gebieten. Er öffnete eine Schriftrolle in der Hoffnung, von ihr die Lösung offenbart zu bekommen, doch ihm prangten nur fremde Schriftzeichen und Symbole entgegen.

Marcel raste innerlich vor Wut. Er hatte endlich die Rollen und konnte doch nichts damit anfangen. Er hatte das Gefühl, das die siebente Rolle etwas anderes barg als die anderen. In dieser lag womöglich der wirkliche Schlüssel. Doch erstmal musste er versuchen, diesem Gefängnis zu entkommen.

Die Flammen fraßen sich durch alles, was sie fanden und der Rauch verdichtete sich. Türen fingen Feuer, Fässer zerbarsten und der Boden brannte. Die tragenden Balken aus Holz ächzten unter der Wut des Feuers und einer nach dem anderen wurde morsch und brach.
Wände stürzten ein und Marcel konnte sich in den Irrwegen mehrmals nur mit einem Hechtsprung retten.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, fand er endlich die rettende Tür. Schnell erklomm er die Stufen, rutschte aus, richtete sich wieder auf, hetzte weiter. Den auf ihn zustürzenden Balken sah er erst, als es zu spät war und er verlor das Bewusstsein mit einem letzten Blick auf die offene Tür, die zwei Schritte von ihm entfernt war.

 
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