-------------------------------
„Wie weit willst Du eigentlich noch laufen?“, knurrte Marcel an John gewandt. „Jetzt rennen wir bereits zwei Stunden durch die Gegend!“
„Bist du sicher, dass diese eine Wächterin tot ist, die Marc bisher geholfen hat? Und die anderen? Und was ist mit diesem alten Lehrer? Wenn wir gleich gewechselt wären, könnten sie uns aufspüren, daher will ich erst etwas Abstand zwischen uns und sie bringen! Aber vielleicht hast Du Recht, und wir können es jetzt wagen.“ Er sah Marc und Cynthia finster an. „Versucht nicht, euch dem Wechsel zu widersetzen!“ Er wies auf Cynthia. „Sie würde sofort sterben, und das willst du doch nicht, oder?“ Trotz seiner Skrupellosigkeit und Brutalität hatte er erkannt, dass Cynthia für Marc mehr bedeutete, als nur irgendeine der Wächterinnen, und er würde keine Sekunde zögern, dieses Wissen zu seinem Vorteil zu verwenden.
„Nun gut.“ Er fasste Marc am Arm. „Marcel, halte das Mädchen fest und folge mir!“
Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatten sie die Zwischenwelt verlassen und fanden sich im Hof eines großen Bauernhofes wieder.
Marcel sah sich irritiert um. „Und wie sollen wir von hier aus weiterkommen?“
John grinste. „Ein Hof bedeutet Menschen, und Menschen bedeuten normalerweise ein Fahrzeug. Lass uns den Bewohnern einen Besuch abstatten!“
Sehr schnell hatten sie die Küche gefunden, in der zwei Kinder, deren Mutter am Herd das Abendessen zubereitete, ihre Schularbeiten erledigten,. Der Anblick der auf sie und die Kinder gerichteten Waffen ließ sie sofort die Autoschlüssel übergeben.
Marc atmete auf; er hatte weiteres Blutvergießen befürchtet, aber als John mit ihm und Cynthia die Küche schon verlassen hatte, drehte Marcel sich noch einmal um und mähte die kleine Familie mit einer Salve seiner halbautomatischen Waffe nieder.
„Warum hast du das gemacht?“, herrschte John Marcel an. „Musste das sein?“
Marcel zuckte nur mit den Schultern. „Ich denke schon. Sie hätten uns sehr genau beschreiben können.“
John atmete tief durch. „Nun gut. Wir fahren jetzt zu mir, und dann werden wir sehen, ob Marc meine Fragen beantworten kann.“
------------------------------------------
Erleichtert beobachtete Theoldin, dass Lynns Gesicht allmählich wieder Farbe annahm und ihr Atem kräftiger und gleichmäßiger wurde. Ganz zart strich er mit seiner faltigen Hand über ihre Wange. „Lynn! Du musst aufwachen!“
Endlich flatterten ihre Lider, um sich zögernd zu öffnen. Ausdruckslos und benommen starrte Lynn den alten Mann an, aber sehr schnell klärte sich ihr Blick. „Theoldin, was ist ...“ Sie brach ab, als sie zur Seite sah und das Ausmaß des von John und Marcel angerichteten Gemetzels erkannte. „Nein! Was haben sie getan? Wo ist Cyn? Und Marc?“
„Ganz ruhig, meine Liebe, die beiden leben, aber diese Fremden haben sie mitgenommen.“
„Sind sie gewechselt?“
Theoldin nickte. „Ja. Und Ismael sucht sie.“
„Ismael? Was will er tun?“
„Er weiß, dass diese beiden nicht existieren dürfen, in keiner der Welten, und er trachtet danach, sie zu vernichten. Es ist seine Pflicht, dadurch die Ordnung wiederherzustellen. Aber du musst Marc retten, bevor der andere ihn vernichtet – es kann nur einen von ihnen geben, und wenn Marc verliert, werden alle Welten im Chaos untergehen! Vielleicht wirst du Ismaels Hilfe brauchen.“
Lynn wurde bleich bei den letzten Worten. „Aber ich kann nicht ...“
„Doch, du kannst!“, schnitt der Lehrer ihr das Wort ab. „Hast du vergessen, wer du bist? Hast du vergessen, welche Fähigkeiten du dein Eigen nennst? Du wirst sie brauchen, du wirst alles brauchen, was du jemals erfahren und gelernt hast! Du wirst schnell handeln müssen, und du wirst Ismael mitnehmen!“
„Warum?“
„Weil selbst du alleine zu schwach sein wirst. Dieser andere Junge – er wird sehr bald erkennen, dass er Marc vernichten muss, um die Macht zu erlangen, und er wird nicht zögern. Lynn, eile dich! Und denke daran, was du mitnehmen musst!“
Vorsichtig setzte die Wächterin sich auf, aber die Heilerinnen hatten ganze Arbeit geleistet, sie hatte keine Schmerzen. „Wo finde ich Ismael?“
„Er wird dich finden. Geh jetzt! Bringe Marc zu mir, damit ich ihm den Weg in die jenseitige Welt weisen kann!“
Tränen schossen ihr in die Augen, als sie sich zur Tür wandte. War bereits alles zerstört? Konnte sie überhaupt noch etwas ausrichten, noch etwas retten? Sie wusste es nicht, aber sie würde es versuchen.
Ohne einen Blick zurück verließ sie das Schlachthaus, zu dem dieser einst heitere und besinnliche Ort geworden war, und aufsteigende Wut verdrängte ihre Trauer. Sie würde handeln, und sie wusste auch, was sie dafür benötigte. Entschlossen strebte sie dem Zelt zu, in dem Marc sich hatte ausruhen können.
Erschöpft schloss Theoldin die Augen. Er fühlte sich verantwortlich für all das, was geschehen war. Er hatte einen Fehler gemacht, in lange zurückliegenden Zeiten, und vielleicht hatte er nur deshalb so lange gelebt, um ihn wieder korrigieren zu können.
Er betete, dass Lynn sich an ihre Stärken erinnern möge.
---------------------------------------
Es war bereits zwei Uhr morgens, als sie in Johns Büro eintrafen.
Mit vor Aufregung zitternden Händen öffnete John seinen Tresor, in dem er das alte Schriftstück verwahrte, und hielt es Marc hin. „Nimm es, und sage mir, was du darüber weißt! Versuche nicht, mich anzulügen, es würde deine Freundin das Leben kosten!“
Als Marc auf die verblassten, mit einer Feder geschriebenen Buchstaben starrte, entstanden Bilder in seinem Kopf: Er sah ein Kloster, er sah Mönche, aber da war noch etwas ... Undeutlich vermeinte er, Theoldins Gesicht zu erkennen, der warnend den Kopf schüttelte, aber was hatte der alte Lehrer mit all dem zu tun? Er versuchte sich zu konzentrieren, aber seine bleierne Müdigkeit lähmte ihn, hinderte ihn, einen klaren Gedanken zu fassen und sich zu konzentrieren.
„Ich kann nicht, ich bin einfach zu müde. Ich muss erst etwas schlafen!“
Ein kehliges Knurren war von Marcel zu hören und mit einer kurzen, schnellen Bewegung fuhr seine Pranke über Marcs Gesicht, vier blutige Striemen hinterlassend. „Was soll das? Streng dich gefälligst an!“
Marc sah auf, und zum ersten Mal traf sein Blick auf den Marcels. Wie hypnotisiert starrten sie sich an und mit einem Schlag wusste Marc, dass er hier seinen eigentlichen Widersacher vor sich hatte. Nicht John war es, der gefährlich war, es war Marcel. Er spürte, dass sich etwas in ihm veränderte, es waren nicht nur die Klauen, die sich wieder zeigten. Tief in ihm erwuchs eine Kraft, die er nicht kannte, die er nicht einschätzen konnte, aber ihm war klar, dass er sie nutzen musste – bald schon.
Ein tiefes Grollen entrang sich ihm. „Nicht jetzt!“, verwies er Marcel. „Auch du wirst warten müssen!“
Verständnislos sah John von einem zum anderen. Ihm war nicht klar, was zwischen den beiden vorging, aber er spürte, dass da etwas war.
„Also gut“, durchbrach er die atemlose Stille. „Dann schlaf erst. Aber vergiss nicht: Ich will Antworten hören!“
Nur ungern sperrte er Marc und Cynthia zusammen in ein Zimmer, aber es war das einzige, das ihm sicher genug erschien.
„Was war das eben?“, fragte er Marcel, als er zurückkehrte.
Marcel wandte den Kopf ab. „Er soll sagen, was er weiß, und dann werde ich ihn töten! Und das Mädchen.“ Er wollte John nicht merken lassen, dass er zum ersten Mal jemanden gesehen hatte, der ihm vielleicht ebenbürtig war.
---------------------------------------
Es gab nicht viel, was Lynn mitnehmen wollte. Aus Cynthias Zelt holte sie den Rosenkranz von Bruder Markus, aus ihrem eigenen ein kleines, aber erstaunlich scharfes Messer. Nervös drehte sie es in ihren Händen, als sie zur Chimafelida trat. „Wirst du mir helfen?“, fragte sie geradeheraus.
Sachte bewegten sich einige der pelzigen Blätter und Lynn atmete erleichtert auf. Vorsichtig umfasste sie einen der Stängel und durchtrennte ihn mit einem sauberen Schnitt, um das sich immer noch bewegende Blatt sorgfältig aufzurollen und unter ihre Jacke zu stecken.
„Ich danke dir!“, sagte sie leise, für weitere Worte fehlte ihr die Zeit. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf Marc und Cynthia. Sie würde spüren, wo in der menschlichen Welt sie sich befanden, und würde an der richtigen Stelle wechseln können.
Als Ismael die starken geistigen Schwingungen wahrnahm, welche Lynn aussandte, kehrte er sofort um und eilte zur Siedlung der Wächterinnen zurück. Er wusste, dass jene, die er suchte, gewechselt hatten, und alleine konnte er ihnen nicht folgen. Diese eine Wächterin aber würde ihn mitnehmen können!
Die dumpfen Erschütterungen des Bodens rissen Lynn aus ihrer Konzentration: Sie wusste, wodurch sie ausgelöst wurden, und sie hatte gehofft, sie nie wieder vernehmen zu müssen. Aber ihr blieb keine Wahl, denn Theoldin hatte sicher Recht, wenn er sagte, dass sie Ismaels Hilfe brauchen würde.
Sie straffte sich und erwartete die Ankunft jenes Wesens, welches sie in ihrem Leben mehr als jedes andere gefürchtet hatte.
Ismael blieb stehen und wiegte seinen mächtigen Schädel langsam von einer zur anderen Seite, bis er sicher war, dass Lynn die richtige war, die vor ihm stand.
Lynn konnte ihn nicht mit Worten ansprechen, da er sie nicht hätte erwidern können, aber sie war imstande, seine Gefühle und Absichten zu erkennen, so wie er es umgekehrt konnte. Schneller, als es durch langwierige Diskussionen möglich gewesen wäre, hatten die beiden so unterschiedlichen Bewohner verschiedener Welten sich verständigt und brachen auf, um die kurz bevorstehende Katastrophe noch abzuwenden.
------------------------------------
Mutlos ließ Cynthia sich auf das schmale Bett fallen, nachdem die Tür sich hinter ihr und Marc geschlossen hatte und das Knirschen des Schlüssels ihnen verriet, dass sie eingesperrt waren. „Was sollen wir jetzt tun?“
Marc setzte sich neben sie und legte sanft den Arm um ihre Schultern. „Ich weiß noch nicht genau, was John von mir wissen will – ich bin zu müde, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Aber Marcel will uns töten, das konnte ich klar erkennen. Keine Angst, ich werde es nicht zulassen!“
„Sie sind zu zweit, sie sind bewaffnet, und Marcel ist sehr stark. Er hat viel aus der jenseitigen Welt!“
Normalerweise hätte Marc nachgefragt, was es mit dieser Welt auf sich hatte, aber im Moment war er nur noch müde und erschöpft. „Lass uns schlafen“, sagte er leise. „Morgen sehen wir weiter.“
Kurz nach Sonnenaufgang wurden sie von John aus dem Schlaf gerissen. „Jetzt will ich Antworten hören!“, sagte er und drückte Marc erneut das alte Schriftstück in die Hand.
Schon bei der ersten Berührung entstanden Bilder in Marcs Kopf: Er erkannte Bruder Markus wieder, sah ihn beim Niederschreiben seiner Erlebnisse. Wie in rasendem Zeitraffer begleitete er ihn auf seinen ersten Ausflügen in die Zwischenwelt, er erlebte mit, wie er seine Klosterbrüder ebenfalls dazu überredete, er sah, wie jeder einzelne einen Teil dessen aufschrieb, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Er wusste nun auch, wo die übrigen Schriften verborgen worden waren, aber er hatte noch etwas anderes erkannt: Dass all jene Erlebnisse von Bruder Markus auf sehr viel älteren Aufzeichnungen beruhten, und dass John keinesfalls von diesen erfahren durfte. Wieder erschien ihm Theoldins Gesicht, aber plötzlich verschwamm alles um ihn herum und für die Dauer eines Lidschlages befand er sich in einer fremden, einer im ersten Moment unfassbaren Welt. Aber bevor er sie genauer wahrnehmen konnte, war er zurück.
Er ließ das Blatt fallen, als hätte er sich daran verbrannt und schüttelte den Kopf. „Ich weiß jetzt, was du wissen willst“, sagte er langsam und sah John offen an, „aber ich kann es dir nicht sagen.“
Mit einem wütenden Knurren sprang Marcel vor und riss Cynthia hoch, schlang seinen rechten Arm um ihren Hals und setzte die Klauen seiner linken Hand an ihre Kehle. „Und sie soll sterben?“, fragte er drohend. „Ist es das wert? Denn das wird sie, wenn du nicht redest!“
In diesem Moment vergaß Marc John, vergaß seine Umgebung, dachte nicht mehr an Lynn oder die Zwischenwelt, er sah nur noch das rötliche Funkeln in Marcels Augen und erkannte, dass er nur noch ein einziges Ziel haben durfte: Marcel zu vernichten. Langsam stand er auf und trat dicht an seinen Gegner heran. Er wusste, dass seine Klauen sichtbar geworden waren, er spürte, wie seine Zähne sich verlängerten, seine sich spannende Kleidung verriet ihm, dass er nochmals an Größe zunahm.
„Du wirst sie nicht töten“, sagte er ganz ruhig und schlug mit einer blitzartigen Bewegung Marcels Arm zur Seite.
Wie zwei Duellanten standen sie sich gegenüber und starrten sich an. Marc spürte eine drängende Kraft in sich, wie einen Kloß im Hals, den er ausspeien wollte. Er nahm nicht wahr, wie sehr die Luft um ihn herum sich erhitzte, er sah weder John, der zur Tür zurückwich, noch Cynthia, die hinter ihn trat. Immer mehr seiner nur noch mühsam gebändigten Kraft verschaffte sich freie Bahn, wogte auf Marcel zu um ihn zu versengen, auszulöschen aus dieser und allen anderen Welten.
Aber Marcel war nicht unbewaffnet, und was er Marc zurückschleuderte erschien wie eine lebende Mauer aus tödlicher Kälte, die alles erstarren lassen würde, wenn sie ihr Ziel erreichte.
Wieder verschwamm die Umgebung um Marc, er sah nur noch Marcel und aus dem Augenwinkel erkannte er, dass sie beide sich an einem anderen Ort befanden, so fremd, so unbegreiflich, dass es ihn für einen Moment verwirrte.
---------------------------------------
Lynn spürte, dass sie und Ismael die richtige Stelle erreicht hatten; wenn sie wechselten, würden sie Marc und Cynthia sehr nahe sein, aber nicht nur ihnen. Sie war sich nicht sicher, ob sie diesem Wesen aus der jenseitigen Welt trauen konnte, oder ob es in seiner Raserei auch jene töten würde, die es zu retten galt, aber sie hatte keine Wahl. Noch einmal holte sie tief Luft.
Im nächsten Moment befanden sie sich in einer noch menschenleeren Straße, es begann gerade zu dämmern. Sie sah sich nur kurz um. „Dieses Haus muss es sein!“, sagte sie und deutete auf einen aus Glas und Stahl bestehenden Gebäudekomplex.
Ismael brüllte auf und setzte seinen wuchtigen Körper in Bewegung, durchbrach mühelos die verriegelte Glastür und stürmte weiter, während die Splitter in einem glitzernden Regen zu Boden fielen. Beklommen folgte Lynn ihm; sie wusste, dass sie vor dieses Wesen gelangen musste, um Schlimmeres zu verhüten.
--------------------------------------
Wie aus weiter Entfernung vernahm Marc ein grauenhaftes Aufbrüllen, sah wieder das Zimmer um sich, in welchem er seinem Feind gegenüberstand. Wieder ertönte das Brüllen, aber näher, sehr viel näher als zuvor.
„Nicht hier!“, hörte er eine junge, klare und sehr vertraute Stimme hinter sich.
„Lynn!“, schluchzte Cynthia auf und wollte zu ihrer Gefährtin stürzen, aber Lynn hob sofort die Hand. „Bleib stehen, Cyn! Marc, tritt zurück!“
Marc wusste nicht, was sie beabsichtigte, aber vorsichtig trat er einige Schritte zurück, ohne Marcel dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Gerade noch rechtzeitig, denn Ismael stürmte herein. Seine gewaltigen Schultern rissen den Türstock heraus, Teile der Mauer brachen ein.
Marcel reagierte sofort, von einem Moment zum nächsten war er verschwunden, war zurückgewechselt in die Zwischenwelt, aber John blieb keine Zeit mehr, um in irgendeiner Form zu reagieren. Nur kurz fasste das Wesen ihn ins Auge, bevor es sich auf ihn stürzte. Schaudernd wandten alle drei sich ab, hörten nur noch das Knirschen brechender Knochen, das Reißen von Muskelfleisch und die schrillen, alles übertönenden Schreie von John.
Marc drückte Cynthia an sich, die ihren Kopf an seiner Schulter verbarg. „Warum wechseln wir nicht auch?“, zischte er Lynn an. „Muss sie das miterleben?“
„Wir können nicht“, gab Lynn bemüht ruhig zurück. „Oder soll ich ihn vielleicht hier lassen? Er kann nur mit mir gemeinsam wieder wechseln!“
Obwohl es kaum eine Minute währte, erschien es ihnen wie eine Ewigkeit, bis Stille einkehrte. Marc hörte Ismaels dumpfes, etwas atemloses Grollen, aber er drehte sich nicht um. Nicht nur die Wände waren blutbespritzt, auch Lynn und er selbst hatten mehr als nur ein paar Spritzer abbekommen.
„Jetzt wechseln wir“, bestimmte Lynn. „Wir müssen zu Theoldin, er wird dir alles erklären – hoffe ich. Und du wirst Marcel vernichten müssen!“
Marc nickte stumm, zu sehr von Entsetzen erfüllt, um etwas sagen zu können.
„Aber du musst noch etwas mitnehmen“, fuhr Lynn fort und deutete auf das in einer Blutlache am Boden liegende Schriftstück. „Das, und es muss noch etwas hier sein, was nicht hierher gehört! Wir müssen es finden!“
„Aber was?“
Lynn deutete auf die Pranken von Ismael. „Er verlor mehr als nur eine Kralle, und wir müssen die Knochen finden. Sonst findet es nie ein Ende.“
Marc sah sich ratlos um. „Wo soll ich denn suchen?“
„Hier.“ Lynn griff unter ihre Jacke und reichte ihm den Rosenkranz. „Vielleicht hilft er.“
Aber in diesem Moment brüllte Ismael erneut und setzte sich in Bewegung.
„Was tut er?“, fragte Marc.
„Ich nehme an, er weiß, wo wir suchen müssen. Wir sollten ihm nachgehen.“
Marc hörte bald auf, die Türen zu zählen, die das Wesen durchbrach, als es sich seinen Weg durch den Laborkomplex suchte, er folgte nur noch und stützte Cynthia, die sich angsterfüllt an ihn klammerte.
Vor einer Stahltür blieb Ismael stehen und hieb wütend mit seinen Pranken gegen das matt schimmernde Metall, aber es widerstand.
„Wie sollen wir da jetzt hineinkommen?“, fragte Marc. „Ich sehe keine Möglichkeit!“
„Aber ich vielleicht“, entgegnete Lynn und holte das Blatt der Cimafelida aus ihrer Jacke. Behutsam streichelte sie es, berührte es sanft mit ihren Lippen, bis es reagierte und sich langsam entrollte. „Jetzt hilf uns!“, flüsterte sie und legte das Blatt über das Schloss der Tür. Wie von Magneten gehalten haftete es an dem blanken Metall.
„Und jetzt?“, fragte Marc ungeduldig. „Was hilft uns das?“
„Warte ab!“
Ein lauter werdendes Zischen war zu hören, feine Rauchschwaden drangen hinter dem Blatt empor, unerträglicher Gestank erfüllte die Luft. Plötzlich löste das Blatt sich und fiel zu Boden, aber es löste sich in feines Pulver auf, bevor es ihn erreichte.
Da, wo es an dem Stahl gehangen hatte, klaffte ein Loch in der Tür, das Schloss war verschwunden.
„Jetzt können wir hinein“, sagte Lynn und griff hindurch, um die Tür zu öffnen. Sie hatte gerade noch Zeit, um zur Seite zu treten, als das Wesen schon hineindrängte.
Ein Kabinett des Grauens eröffnete sich ihnen: Glasvitrinen voller drachenähnlicher Mäusebabies, missgestaltete menschliche Föten in unterschiedlichen Entwicklungsstadien – Marc wandte sich ab, als er erkannte, was John getan hatte.
Ismael zerstörte jeden einzelnen Glaskasten und verschlang deren Inhalt.
„Muss das sein?“ Marc verstand nicht, was er sah.
„Ja, es muss sein, er muss es alles zurückbringen in die jenseitige Welt, das ist seine Aufgabe!“
In der letzten Vitrine befand sich nur ein sehr kleines Stück Knochen und Ismael brüllte dröhnend auf, als er es entdeckte. Sekunden später war es zwischen seinen mächtigen Kiefern verschwunden. Suchend sah er sich um, bis sein Blick auf Marc fiel.
„Nein!“, rief Lynn laut und stellte sich vor den Jungen. „Ihn nicht! Denke an den anderen – er muss vernichtet werden! Du weißt, was sonst geschehen wird.“
Zwar verstand das Wesen ihre Worte nicht, aber ihre Absichten und schloss langsam seinen aufgerissenen Rachen.
Erleichtert atmete Lynn tief durch und deutete auf die Akten in den Wandregalen. „Wir sollten das alles verbrennen! Das ist deine Aufgabe, Marc!“ Sie fasste nach Cynthias Arm und zog das zitternde Mädchen mit sich zur Tür. Nur kurz drehte sie sich noch einmal um und bedeutete Ismael, mit ihnen zu kommen.
"Hier", sagte sie zu ihm vor der Tür und griff in ihre Jacke. "Das gehörte dir, und du solltest es zurückerhalten!" Damit hielt sie ihm die Kralle hin, welche sie immer als Talisman bei sich getragen hatte.
Ein seltsames Grunzen war von Ismael zu hören, bevor er langsam seinen Kopf vorstreckte und mit seinem gewaltigen Maul vorsichtig das Relikt von Lynns Hand nahm. Nur kurz hörte sie ein Knirschen, dann war auch diese Erinnerung an eine lange zurückliegende Zeit verschwunden.
Marc ließ seinen Blick schweifen über das Chaos, welches sich ihm bot, und wieder stieg Wut in ihm auf: Wut über das, was John verbrochen hatte, über den Tod seiner Eltern, über das, was John aus ihm selbst gemacht hatte, und wieder entwickelte sich die alles verbrennende Hitze. Nur kurz strich er mit seinen Händen über die Aktenordner, als sie auch schon in Flammen aufgingen. Schnell wandte er sich ab und folgte Lynn.
„Wir müssen sofort wechseln“, sagte er draußen. „Hier wird bald die Feuerwehr auftauchen!“
„Ja. Und wir müssen zu Theoldin. Marcel darf uns nicht entkommen!“