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Atlantische Winde

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04.04.2014
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Atlantische Winde

Atlantische Winde

Montag, 6. Juli 1896

Zwei Schornsteine qualmen, hinterlassen graue Wolken, die vom Wind umhergewirbelt werden und sich im atlantischen Himmel verlieren. Eine kräftige Schraube schiebt das Schiff monoton und gleichmäßig westwärts der Stadt New York entgegen.

Karl steht an der Reling und schaut in die Ferne. Der Atlantik vollführt seinen immerwährenden Kampf gegen jedes Schiff, das den Versuch wagt, ihn herauszufordern. Jede Welle dieses unendlichen Meeres beweist sich selbst seine Kraft, indem es ein Schiff wie die stolze "Havel"hebt und wieder senkt. Ein starker Wind weht über das Deck, was ihm aber nichts ausmacht, denn er kennt alle Wetterlagen von seiner Arbeit auf dem Feld her. Er ist alleine an Deck und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Die Wellen heben und senken das Schiff, das er mit seinem Schicksal vergleicht und dessen Bewegungen seinen eigenen Gemütsschwankungen entsprechen.

Karl lässt alles zurück, was ihm bis jetzt etwas bedeutet hat. Sein Heimatdorf, seine Verwandten, Freunde, alles wird im Hier und Jetzt zu Bruchstücken seiner Vergangenheit. Er ist am Scheideweg, fühlt sich innerlich verlassen. Und dann auch noch Lena. Die Trennung von ihr hat ihm am meisten Schmerzen bereitet. Jetzt hat er auch die Zeit, diese Momente, die ganz alleine ihm gehören, trotz des Abschiedsschmerzes zu genießen, sich an seinem eigenen Leid etwas zu weiden und seinen Gedanken nachzugehen.

Wie aus dem Nichts kommend gesellt sich ein älterer Herr zu ihm an die Reling.
"Kennen Sie die Geschichte vom Klabautermann?"
"Nein."
"Na, egal. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Hinrich Clevermann, Kapitän zur See. Aber außer Dienst."
"Karl Hämmerle, Arbeiter und Bauer."
"Ah, sehr angenehm. Unter all diesen Herrschaften hier mal jemand mit einem anderen Hintergrund kennen zu lernen, ist schön. Wissen Sie, ich bin ein Mann der Tat und sehe hier nur Kaufleute, Doktoren und Adelige, also Menschen, die nicht körperlich arbeiten müssen. Da komme ich mir sehr einsam vor."
"Na, mir geht es da ganz ähnlich", meint Karl recht einsilbig.
"Kann ich mir denken", entgegnet ihm der alte Herr.
"Sie sind zur See gefahren?", fragt Karl nach einer Weile, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Seine Zigarette ist abgebrannt, er wirft den Stummel über die Bordkante. Unablässig zieht der Dampfer weiter, New York entgegen.
"Ja. Auf der Südamerika-Route. Erst Frachter, später Passagierschiffe. Anfangs natürlich unter Segeln. Das war manchmal sehr abenteuerlich, und auch nicht ganz ungefährlich. Caracas, Trinidad, Bahía, Rio de Janeiro, Montevideo, die Westindischen Inseln, Zwischenstation auf Madeira zum Bunkern. Natürlich bin ich auch um Kap Hoorn mit seinen Stürmen und Tücken bis nach Valparaiso an der chilenischen Pazifikküste gefahren. Es kam vor, dass wir nordwestlich des Kaps drei Wochen im Kreis gefahren sind, weil es der Klabautermann so wollte. Der treibt so seine Späßchen mit Seeleuten."
"Der Klabautermann?"
"Das sagt man so, wenn Dinge passieren, die man sich nicht erklären kann. Erscheinungen, die man sieht und für real erachtet. Winde heulen um das Schiff, sodass man meint, Stimmen zu hören, die freilich nicht existieren können. Besonders befremdlich ist es, wenn man für Stunden im Ausguck steht und allein mit sich und seinen Gedanken ist."
"Ich glaube, auf See kann die Zeit lang werden", meint Karl, als er sich die nächste Zigarette anzündet.
"Warum sagen sie das?", fragt der alte Herr und schmaucht an seiner Pfeife.
"Weil die Zeit doch eigentlich nicht messbar ist, besonders in Momenten voll Liebe oder Schmerz." Karl denkt mit Wehmut zurück. Lena. Sie hatte ihn die letzten Wochen in Stuttgart begleitet.
"Sie beziehen Ihre Bemerkung auf ein Mädchen?" Hinrich Clevermann schaut Karl schmunzelnd an.
"Sie heißt Lena."
"Aha. Und jetzt wandern Sie aus?"
"Zunächst einmal nach New York. Wann ich weiter ziehe, weiß ich noch nicht. Ich plane, nach Norden zu gehen, und zwar nach Alaska."
"Da ist jetzt die Hölle los. Das Gold lockt alle."
"Ja, aber mich lockt da weniger das Gold. Das ist etwas für Glücksritter. Die Menschen dort brauchen auch andere Dinge. Lebensmittel, Material. Diese Sachen müssen irgendwie dorthin gebracht werden. Ich arbeitete in einer Maschinenfabrik und ich glaube, dass ich in Alaska sehr viel Arbeit haben werde."
"Sehr vernünftig und gut, ihr Gedanke. Man braucht Eisenbahnen, Strassen und alles, was dem Transport dient. Außerdem Reparaturwerkstätten aller Art. Aber was ist mit Lena? Abschied für immer?"
"Das ist nicht so geplant. Lena ist ein besonderes Mädchen. Sie hat ihren eigenen Kopf und möchte Medizin studieren. Frauen sind ja bei uns höchstens als Gasthörerinnen auf den Universitäten zugelassen, sie dürfen sich nicht immatrikulieren. Aber Lena steckt voller Ideen und hat die Kraft, sich durchzusetzen."
"So ein starkes Mädchen lässt man nicht ziehen, glauben Sie mir. Liebe und Schmerz, das kenne ich sehr gut. Man sieht das Mädchen noch am Kai stehen, sieht sie winken. Dann schließt man die Augen, öffnet sie wieder und sieht als nächstes nur noch Wasser. Man schließt die Augen nochmals und spürt nur noch das Wasser darin. Bilder werden zu Erinnerungen, von Tränen verwischt."
"Wird man als Seemann zum Philosoph?"
"Nicht unbedingt. Das Nachdenken wird natürlich zu einer ständigen Übung, wenn man lange einsam ist."

Minuten des Schweigens folgen. Karl lehnt wieder an der Reling, die See hat sich etwas beruhigt. Delfine umspielen das Schiff, er beobachtet sie lange, als seien es Wesen einer anderen Welt. Ist es die Wirkung der Zigaretten, oder eher doch des Wellengangs, leichter Schwindel ergreift von Karl Besitz. Als er sich nach Hinrich Clevermann umdreht, wird er gewahr, dass dieser nicht mehr bei ihm ist. Genauso unauffällig, wie er die Szenerie betrat, ist er ihr wieder entschwunden. Karl denkt an den Klabautermann. Welch ein Mysterium.

Zwölftausendfünfhundert PS treiben dieses elegante Schiff westwärts.

Nur wenige Stufen trennen auf diesem Schiff Himmel und Hölle. Karl möchte diesen Weg einmal wagen, möchte erkunden, wem es letztendlich zu verdanken ist, dass sich dieser Himmel auf Erden so elegant und scheinbar mühelos in wenigen Tagen von Europa nach Amerika bewegt. Allein die Himmelsleiter, die er in umgekehrter Richtung nimmt, ist gar nicht so einfach zu finden. So kämpft er sich von Tür zu Tür nach unten, und von Tür zu Tür verstärkt sich auch der Lärm und die Wärme. Die Wärme wird zu Hitze, zu Glut. Er hört Stimmen. Rauhe, agressive Stimmen. Plötzlich ein Schrei, Tumult. Karl trennt nur noch eine schwarz verschmierte, heiße Tür von der Hölle. Er traut sich nicht hinein.
Die Tür wird aufgerissen, drei Männer stürmen an ihm vorbei. Karl wird regelrecht niedergerannt. „Aus dem Weg, Kerl, aus dem Weg! Wir müssen zum Arzt!“ Karl, mehr liegend als stehend, schaut erstaunt in die Seele der Hölle. Es riecht stark nach verbranntem Fleisch. Das Gesicht des mittleren Mannes, der schrie, war keines mehr. Eine schwarze Masse unterhalb seiner Stirn verriet, dass ihm Schlimmes widerfahren war. Männer, russgeschwärzt, schauen ihn an, wiederum aggressiv. Sie umringen ihn. Das Gelächter, das plötzlich und unerwartet einsetzt, gleicht mehr einem Grölen als einem herzhaften Lachen menschlicher Wesen. Höllenhunde. Das sind sie. Männer mit Schubkarren laufen und transportieren die Kohlen aus den Bunkern vor die Heizer. Die Heizer werfen mit ihren Schaufeln die Kohlen in die Schlünde der allesfressenden Brennkammern. Klappe auf, Kohlen rein, Klappe zu. Karl findet Halt an der offenen Tür. Zwei von den Männern helfen ihm. Kohle, Asche, Funken, beinahe glühender Stahl. Strenger Geruch und die Hitze rauben ihm fast den Atem.
„Zwei Mark und wir lassen dich hier wieder raus.“ Ein jüngerer Kerl packt ihn am Arm und blickt ihn ernst an. „zwei Mark, das ist für dich nicht viel.“
„Lass mich los!“, brüllt Karl.
Die beiden Männer, die ihm geholfen haben, packen ihn jetzt wieder und ziehen ihn ganz langsam an die Brennkammer heran. Schweiß tropft Karl von der Stirn.
„Mal nicht so derb.“ Auf einer Art Balkon über den Kesseln steht ein etwas besser gekleideter Mann, offenbar einer der Ingenieure, von denen Karl bereits gehört hatte.
„Das ist hier die Regel.", brüllt der Mann von oben runter. "Die Männer hier unten haben Besuch nicht so gern, es sei denn, er lässt ihnen ein Trinkgeld oder eine Flasche Whisky da.“ Der Ingenieur lehnt an der Brüstung. „Aber jetzt ist genug, Jungs, lasst ihn los.“

Kein Tageslicht, keine saubere Luft. Nur harte Arbeit, und nur knochenharte Kerle halten das hier unten aus, bei Temperaturen von fast siebzig Grad. Klappe auf, Kohlen hinein geschaufelt, Klappe wieder zu. Hier unten trinkt keiner ein Glas in Ruhe. Hier werden sie erzeugt, diese zwölftausendfünfhundert PS. Klappe auf, Klappe zu. Geatmet wird nur russhaltige, ölige Luft. Keine frische Brise, kein Salzgeschmack auf den Lippen. Zwölftausendfünfhundert PS. Wofür? Auch diese Männer wollen ihren Spaß haben.

„Zwei Mark!“, denkt Karl bei sich. „In Gottes Namen“, ruft er den Männern durch den Lärm der Maschinen zu und gibt ihnen das geforderte Geld, froh, endlich die Hölle wieder verlassen zu dürfen.

Vier Stunden schaufeln, zwei Stunden ruhen. Vier Stunden schaufeln, zwei Stunden ruhen. Vier Stunden schaufeln, dann acht Stunden schlafen. Dann fängt es wieder von vorne an. Hier arbeiten die Höllenhunde, von denen in den Kabinen der ersten und der zweiten Klasse niemand etwas weiß. Tag oder Nacht, das ist hier alles eins. Der Atlantik führt zwar seinen unablässigen Kampf gegen alle, die ihn bezwingen wollen, aber hier unten merkt man nichts von der Dramatik. Hier unten muss man einfach nur funktionieren. Klappe auf, schaufeln, Klappe zu. Klappe auf, schaufeln, Klappe zu. und Klappe halten.

Ein Schiff, eintausendzweihundert Passagiere, erster Klasse, zweiter Klasse und auf dem Zwischendeck, das den Auswanderern vorbehalten ist. Darüber legt sich allmählich eine Stille, eine gefühlvolle, fast andächtige Ruhe, aber nur für die Personen, die sich in den Kabinen, Gesellschaftsräumen oder auf den Decks befinden.

Der Abend senkt sich über den Atlantik, der sich in den letzten Stunden beruhigt hat. Der Wind hat nachgelassen, trotzdem ist es frisch. Viele Passagiere genießen die letzten Minuten des Tageslichts auf Deck, Paare stehen nebeneinander und unterhalten sich leise. Walzerklänge wehen herüber aus den Gesellschaftsräumen der ersten Klasse. Manch einer hält ein Glas in der Hand und träumt, in sich versunken. Das letzte Licht der untergehenden Sonne spiegelt sich auf dem Meer, lässt Wellen in weiter Ferne erkennen. Sie liegt über dem Ziel Amerika und schickt ihre letzten Strahlen nach Europa. Es ist dies ein stimmungsvoller Abschied.

Dienstag, 7. Juli 1896
Karl steht auf der Reling, es ist kurz vor sechs Uhr am Morgen. Nebel liegt tief über dem Meer. Unablässig kämpft die "Havel" gegen den Atlantik. Längst hatten sich die letzten Küstenstreifen Europas von ihnen verabschiedet.
Jemand steht vorne am Bug und bewegt langsam die Arme in Richtung Westen, wo der Dampfer hinfährt. Eine Frau. Ihr langer Rock flattert im Wind. Es ist eine junge Frau, die er hier noch nie gesehen hat. Ihr Gesicht ist nur schemenhaft zu erkennen. Karl kennt sie, allerdings nicht hier vom Schiff.
Lena. Er glaubt seinen Augen nicht, ruft sie bei Ihrem Namen. Für Bruchteile von Sekunden kämpft sich ein Strahl der aufgehenden Sonne durch die graue Nebelwand, lässt sie hell, beinahe silbern schimmern. Ihr blondes Haar leuchtet. Er ruft sie lauter, immer lauter, schließlich schreit er. Endlich senkt sie ganz langsam, wie in Trance, ihre Arme und dreht sich zu ihm. Sie lächelt ihn an. Wie vom Blitz getroffen erschrickt er. Für Bruchteile von Sekunden hat er ihr Gesicht gesehen. Ihr wunderschönes Gesicht. Erst allmählich wird ihm voller Grauen bewusst, dass statt ihrer blaugrünen Augen schwarze Brandlöcher ihr Gesicht entstellen. Er hält das nicht aus, muss wegschauen, sieht die Tautropfen, die der Nebel auf der Reling hinterlässt, sich im Fahrtwind bewegen. Als er wieder nach vorne blickt, hat sich der Nebel gelichtet.
Lena. Erst allmählich wird er gewahr, dass da nichts mehr ist. Kein Mensch außer ihm.

Karl wird weiß vor Augen, Schweiß bricht ihm aus. Mühsam hält er sich am Geländer. Jemand stützt ihn von hinten. Hinrich Clevermann.
„Da bin ich ja gerade rechtzeitig gekommen, mein Lieber.“
„Ich habe sie gesehen.“ Karl ist weiß im Gesicht.
„Wen gesehen?“
„Lena!“
„Das kann doch nicht sein! Wo haben Sie sie gesehen?“
„Da vorne!“ Karl weist auf das Bug zu.
Hinrich Clevermann lacht. „Friederike, kommst du mal, ich möchte dir Herrn Karl Hämmerle vorstellen!“ Er wendet sich Karl zu. „Wissen Sie, Herr Hämmerle, meine Frau dreht jeden Morgen ihre Runde über das Deck. Vorne ist ihr Lieblingsplatz. Aber Sie sehen aus, als könnten Sie noch etwas Ruhe vertragen.“ Karl nickt gedankenverloren, schüttelt Frau Clevermann die Hand und begibt sich nochmals in seine Kabine. Die letzten Tage mit all ihren Veränderungen waren wohl etwas zuviel für ihn.

Zwölftausendfünfhundert PS kämpfen sich unentwegt weiter, bewegen tausende von Tonnen Stahl über den Atlantik, New York entgegen. Heizer schaufeln Kohle in der unerträglich dunklen, stickigen Hitze im Bauch dieses Stahlkolosses. Menschen, gut angezogen, trinken vornehm ihren Frühstückskaffee im exquisit in dunklem Nussbaumholz gestalteten Salon erster Klasse, während der Atlantik sich immer noch verzweifelt dagegen wehrt, dass Schiffe ihn bezwingen.

 

Hallo jeanmarie malte

Willkommen hier im Forum.

Deine Erste hier habe ich mit Interesse gelesen. Es ist eine sehr lineare und ruhige Geschichte, mit ihren Klabautermann-Auftritten etwas an altem Seemannsgarn rührend, um dann in einer unerwarteten und quergestellten Pointe zu enden. Ich fand sie nicht leid erzählt, doch auch nicht mitreissend. Grundsätzlich ist immer etwas heikel, wenn eine Geschichte sich als Traum auflöst, nicht schlicht unmöglich, doch müsste die Pointe als solches sich dann mit einer völlig unerwarteten Wendung erfüllen.

Was eine Geschichte von andern Textformen unterscheidet, ist nicht einfach, dass darin eine Handlung abläuft, sondern eine klare Wende eintritt, ein Ereignis, das die Ausgangslage quasi auf den Kopf stellt. Ganz so dramatisch muss es ja nicht sein, doch sollte es konfliktbesetzte Momente aufweisen, Ungewissheiten einbinden, um dann zu einem überraschenden Ende zu gelangen. Mit diesen Stilmitteln wird Spannung aufgebaut, der Leser durchschaut den Ausgang nicht, wird letztlich überrascht. Manche Elemente davon hast Du drin, andere wiederum kaum. So kann ich keine Wende ausmachen, in der der Protagonist sich einer ganz andern Situation wiederfindet als zu Beginn. Da es als Traum erzählt ist, erhebt der anschliessende Wachzustand, in der der Protagonist sich real erlebt, kein Anspruch auf eigentliche Gegensätzlichkeit. Das ist mir als Leser zu wenig. Wenn die Geschichte weiterginge, wäre vielleicht ein Spiel mit Parallelen möglich, könnte zu überraschenden Reaktionen und Ereignissen führen, die eine Wendung auslösen. Aber auch im vorliegenden Stoff sind da Ansätze, die dies erlauben würden, sie herauszuarbeiten.

Ein paar Kleinigkeiten lösten mir beim Lesen ein stutzen aus:

Es ist stürmisch, was Karl aber nichts ausmacht. Er kennt den Wind von seiner Arbeit auf dem Feld her.

Bei stürmischer See an einer Reling zu stehen, dünkt mich eine nicht vergleichbare Situation als bei starkem Wind in einem Feld zu arbeiten. Der Unterschied ist der Untergrund, ein auf und ab schwankendes Schiff tangiert den Gleichgewichtssinn, während der starke Wind im Feld einzig am Körper zerrt.

Seine Zigarette ist verraucht, er wirft den Stummel über die Bordkante.

Das verraucht klingt mir in diesem Bezug ungewöhnlich, obwohl wenn ich es mir bildlich vorstelle, nicht ganz unreal wirkt. Dennoch wäre etwa abgebrannt die stimmigere Form, wenngleich weniger poesiebesetzt.

Lena ist ein besonderes Mädchen. Sie hat ihren eigenen Kopf und möchte Medizin studieren, kann das aber in Deutschland natürlich nicht.

Hier sind es zwei Dinge, die mein Zögern begründeten. Karl ist Arbeiter und Bauer, Lena hingegen plant eine akademische Laufbahn. Diese Ausgangssituation ist im Prinzip nicht unmöglich, doch in der Regel eher heikel, da Interessen und soziale Identifikationen kollisionsgefährdet sind. Handkehrum gäbe dies eine Chance für Konfliktstoff in der Geschichte, was sich nutzen liesse, ohne dass es schief gehen muss. Das Andere ist, es bleibt offen, warum Lena nicht in Deutschland studieren kann. – Man darf in einer Geschichte durchaus Lücken lassen, wenn sie sich aus dem Gesamten erklären lassen. Hier ist jedoch eine der Stellen, die sich im Kontext nicht erklärt.

Man sieht das Mädchen noch am Kai stehen, sieht sie winken. Dann schlägt man die Augen zu, wieder auf und sieht als nächstes nur noch Wasser. Dann schlägt man die Augen wieder zu und spürt nur noch das Wasser in den Augen. Bilder werden zu Erinnerungen, von Tränen verwischt."

Das ist eine sehr schöne Passage, der Kapitän hat wirklich eine philosophische Ader.
Eine Kleinigkeit irritiert mich dennoch, das zuschlagen der Augen. Mir dünkte es eleganter, wenn es lautete, die Augen zumachen oder zuklappen, um sie dann wieder aufzuschlagen. Aber das ist natürlich persönliches Empfinden.

Es ist eine junge Frau, die er hier noch nie gesehen hat. Ihr Gesicht ist nur schemenhaft zu erkennen. Aber Karl kennt sie, allerdings nicht hier vom Schiff.
Lena.

Hier bin ich mir uneins, ob diese Darlegung mich so anspricht. Einerseits ist es einer dieser schemenhaften Momente, die das Unwirkliche durchaus erlauben. Anderseits ist der Widerspruch in den einander folgenden Sätzen zu krass, um es zu übersehen. Präzis stört mich das „aber“. Das ihr Gesicht vorgehend nur schemenhaft erkennbar ist scheint mir nachvollziehbar, dann folgt jedoch erkennen, das mit dem „aber“ jedoch nicht so ausgedrückt ist.


Erst allmählich wird ihm voller Grauen bewusst, dass statt ihrer blaugrünen Augen schwarze Brandlöcher ihr Gesicht entstellen.

Dies ist auch einer dieser Stellen, die bei mir als Leser eine Lücke auftun, die ich nicht füllen kann. Ich kann den Bezug dieser Brandlöcher zu nichts zuordnen. Möglicherweise hat Karl einen inneren Konflikt, der ihm diese Vision auslöst, doch es wird nicht transparent weshalb.

Hinrich Clevermann ist so einer, der diesen Kampf führt.

Er stellte sich als Kapitän a. D. vor, es wäre folgerichtig so, dass er diesen Kampf führte, für ihn aber vorbei ist. Dass er gar nicht existiert, spielt hierbei für die Zeitform keine Rolle.

Trotz meiner kritischen Worte habe ich die Unvollendete gern gelesen. Vielleicht wagst Du Dich ja, an der Vollendung noch zu arbeiten. ;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 
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Servus jeanmarie malte,
willkommen hier.

Spätestens an dieser Stelle:

Sie lächelt ihn an. Wie vom Blitz getroffen erschrickt er. Für Bruchteile von Sekunden hat er ihr Gesicht gesehen. Ihr wunderschönes Gesicht. Erst allmählich wird ihm voller Grauen bewusst, dass statt ihrer blaugrünen Augen schwarze Brandlöcher ihr Gesicht entstellen.

ahnte ich, worauf die Sache hinausläuft. Und tatsächlich sah ich am Ende der Geschichte meine Befürchtung bestätigt: Alles, was ich bisher las, war nur ein Traum des Protagonisten. Als Leser finde ich es einfach furchtbar unbefriedigend, wenn sich ein Autor auf solch billige Weise aus der Geschichte stiehlt. Umso bedauerlicher finde ich es in diesem Fall, weil die Geschichte wirklich vielversprechend beginnt. Sowohl das Setting als auch die etwas betuliche Sprache, insbesondere bei dem Dialog zwischen Karl und Hinrich, erinnerte mich auf sympathische Weise an Joseph Conrad. Die Erwähnung des Klabautermannes, die Beschreibung der Hölle des Maschineraums, das sind alles so Sachen, wo es dir gelingt, eine tolle Atmosphäre zu erzeugen und zu vermitteln, man fühlt sich als Leser gepackt und eingestimmt auf so ein richtiges Emigrantenepos, tja, und dann verläuft das einfach so im Sand. Ist wirklich schade. Diese Art, eine Geschichte, die einem über den Kopf zu wachsen droht, zu beenden, ist halt gerade bei Schreibanfängern sehr beliebt und wird entsprechend inflationär gebraucht. Aber irgendwann findet man das als Leser einfach nicht mehr witzig.
Obendrein stellte sich mir nachträglich die Frage, aus welcher Perspektive die Beschreibung des Maschinenraumes erfolgt. Träumt das auch der Karl? Oder ist das nicht vielmehr arglistige Lesertäuschung?
Ob und was du aus diesem Geschichtenanfang (viel mehr ist es für mich nicht), noch machen könntest, weiß ich nicht. In der jetzigen Form ist es mir, obwohl es echt vielversprechend beginnt und gut geschrieben ist, auf jeden Fall zu dürftig.

Ein paar Kleinigkeiten noch:

Jede Welle dieses unendlichen Meeres beweist sich selber [selbst] seine Kraft,

und seinen Gedanken nach zu gehen. [nachzugehen]

hier mal jemand mit einem anderen Hintergrund kennen zu lernen, [kennenzulernen]

Karl steht auf [an] der Reling,

Jemand steht vorne am Bug und bewegt schemenhaft die Arme in Richtung Westen, wo der Dampfer hinfährt. Eine Frau. Ihr langer Rock flattert im Wind. Es ist eine junge Frau, die er hier noch nie gesehen hat. Ihr Gesicht ist nur schemenhaft zu erkennen.

Ein so prägnantes Wort würde ich nicht so kurz hintereinander noch mal verwenden.

Ich wünsche dir noch viel Spaß hier.

offshore

PS
Aufgrund der konsequenten Nichtverwendung des ß hielt ich dich natürlich für einen Schweizer, jetzt allerdings las ich das in deinem Profil:
geboren 1.7.1957 in Aachen, seit 1964 in der Region Stuttgart.
Äh, bist du Schweizer nicht von Geburt, sondern aus Überzeugung?

 

Hallo Ernst Offshore,

auch Dir vielen Dank für die Willkommensgrüsse und Deine konstruktive Kritik.

Ich bin tatsächlich kein Schweizer, benutze aber trotzdem das "ß" derzeit nicht. Ich arbeite viel mit einem Tablet, wenn ich unterwegs bin, und dies sieht leider kein ß vor. Da ich mich aber Zeit meines Lebens als Suchender begreife, werde ich vielleicht daran noch etwas arbeiten. Auf jeden Fall danke ich auch für diesen Hinweis.

Die Brandlöcher in den Augen sollte ich tatsächlich noch etwas erläutern, werde dies aber in Form einer Korrekturbearbeitung an der Geschichte durchführen, das gleiche gilt auch für die Doppelungen.

Viele Grüsse
jeanmarie malté

 
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Hallo Anakreon,

vielen Dank für die Willkommensgrüsse und die konstruktive Kritik. Tatsächlich arbeite ich derzeit an einem historischen Roman, der die Auswanderung aus Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts behandelt. Dies erfordert natürlich einiges an Recherche. Ich möchte, dass sich der Leser in die Zeit hineinfühlen kann, etwas über die politischen und sozialen Hintergründe erfährt und natürlich unterhalten wird. Er soll sich möglichst weit in die Zeit hineinfühlen können. Ein Teil dieser Vergangenheit sind die unterschiedlichen beruflichen und sozialen Möglichkeiten für Männer und Frauen in dieser Zeit. Frauen war es tatsächlich in Baden (Freiburg) erst 1899, in Bayern 1903, in Württemberg (Tübingen) 1904 möglich zu studieren. In der Schweiz (Zürich) war es schon 1867 möglich. Deutschland spielte hier eine recht unrühmliche Rolle als eines der Schlusslichter in Europa.

Die anderen Punkte werde ich nach und nach überarbeiten.

Viele Grüsse
jeanmarie malté

 
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Hallo und willkommen jeanmarie malte

Eine Geschichte, die gut in die Kategorie Historik passt. Stellenweise wirkt sie etwas unsicher erzählt. Zum Beispiel:

Der Atlantik tobt seinen immerwährenden Kampf gegen jedes Schiff, das den Versuch wagt, ihn herauszufordern.

Das erscheint mir eher umständlich. Es ginge auch: Der Atlantik tobt wie immer gegen jedes Schiff, das ihn herausfordert.

Wie aus dem Nichts kommend, gesellt sich jemand zu ihm an die Reling.

Das wirkt unnötig vage. Man könnte auch gleich sagen, dass besagter Jemand ein Mann war, der (zum Beispiel) über die Treppe des Vordecks hochkam.

Ein Schiff, eintausendzweihundert Passagiere, erster Klasse, zweiter Klasse, aber auch auf dem Zwischendeck, das den Auswanderern vorbehalten ist.

Da fehlt doch etwas. Der Satz holpert. Vielleicht so: Ein Schiff, eintausendzweihundert Passagiere, erster Klasse, zweiter Klasse, aber auch dritter Klasse auf dem Zwischendeck, das den Auswanderern vorbehalten ist.

Ich vermute, dass das Schiff die Gesellschaft wiederspiegelt, in der dieser Mann lebt. Ganz unten schuften diejenigen, die trotz härtester Arbeit wahrscheinlich nie aus ihren widrigen Lebensumständen hinausgelangen werden. Der Auswanderer auf dem Zwischendeck hat dagegen einen Plan, den Mut und – so hoffe ich zumindest für ihn! – das Glück einem derart harten Schicksal zu entgehen. Leider machst du am Schluss aber nicht ganz klar, ob er erreichte, was er wollte. Man könnte sogar denken, dass die ganze Schiffsreise tatsächlich nur geträumt war, dass er nie eine solche wagte. Ich hingegen denke mir die Geschichte so zu Ende: Der Traum spiegelt den Lebensweg des besagten Mannes wieder. Und nachdem er in Alaska zu verdientem Wohlstand gelangte, konnte er seine Lena heiraten und in eines dieser schicken Appartements von New York ziehen, wo er eines Morgens nach einer traumschweren Nacht erwachte und sich doppelt und dreifach seines Glücks erfreute, weil er im Traum noch einmal gesehen hatte, was ihm sonst beschieden gewesen wäre. – Aber damit deute ich wohl viel zu viel so, wie ich es gerne sehen würde.

Karl und Lena fahren heute in den Urlaub, dem Atlantik entgegen.

Es wäre schon vieles klarer, wenn man am Schluss wüsste, ob sie zuletzt in Europa oder Nordamerika wohnen. Fahren sie dem Atlantik entgegen nach Osten oder nach Westen?

Gruß teoma

 

Hallo teoma,

auch Dir herzlichen Dank für die Willkommensgrüsse und deine konstruktiven Anregungen.

Der Gedanke, dass das Schiff die Gesellschaft widerspiegeln könnte, ist durchaus berechtigt. Tatsächlich waren die örtlichen Gegebenheiten auf diesem Schiff, das viele Jahre die Nordatlantikroute zwischen Bremerhaven und New York befuhr, derartig aufgebaut. Einzig die Schlafräume der Heizer befanden sich über der Wasserlinie.

Ich werde die Geschichte noch überarbeiten.

Viele Grüsse
jeanmarie malté

 

Hallo Anakreon,

hier nun meine Korrekturen an der Geschichte.

Thema Wind: Du hast recht, ich habe jetzt den Sturm etwas abgeschwächt und in einen starken Wind verwandelt. So kann Karl sich doch noch gut festhalten. Auch habe ich noch etwas auf seine eigene Vergangenzeit Bezug genommen, um seine Gefühlswelt etwas zu gestalten, insbesondere in Bezug auf Lena. Da dies Figuren aus meinem Romanentwurf sind, könnte ich hier tatsächlich noch viel mehr schreiben, möchte hier aber doch bei der Kurzgeschichte bleiben.

Die Zigarette ist jetzt tatsächlich abgebrannt. Danke.

Was den Zwiespalt zwischen Karl als Bauer und Fabrikarbeiter einerseits und seiner Freundin Lena als Mädchen mit höherem Schulabschluss und Ambitionen auf einen Studienplatz anbetrifft, so gehe ich hier bewusst ein Experiment ein. Bei der Recherche nach Auswanderern sind mir aber tatsächlich eine Vielzahl anderer Schicksale bekannt geworden, sodass es mir tatsächlich nicht als vollkommen unmöglich vorkommt. Zum Thema Frauenstudium habe ich ja bereits geschrieben. Die Erläuterung habe ich jetzt doch noch im Text eingearbeitet.

Die Augen lasse ich jetzt sich schliessen und wieder öffnen. Das erscheint mir jetzt noch etwas passender.

Die Sache mit den Brandlöchern habe ich etwas dargestellt. Karl war am Tag vorher ein schrecklich zugerichteter Heizer mit einem Brandloch statt einem Auge auf dem Gang begegnet. Deshalb auch dieser Vergleich.

Hinrich Clevermann führte natürlich diesen Kampf.

Ansonsten lasse ich die Geschichte gerne unvollendet.

Viele Grüsse
jeanmarie malté

 

Hallo ernst offshore,

dass sich deine Befürchtung eines Traumes am Ende bestätigt, tut mir leid. Ich habe mich bei der Geschichte aber mittlerweile schon zu weit aus dem Fenster gelehnt, als dass ich sie in Bezug auf ihre Gesamtstruktur nochmals ändern möchte. Ich wollte wirklich hiermit Diskussionsstoff liefern. Dass ich auch ohne Traum-Ende eine Geschichte erzählen kann, möchte ich bei nächster Gelegenheit beweisen.

Die "Kleinigkeiten" habe ich soweit geändert (soweit man Rechtschreibfehler als Kleinigkeit bezeichnen kann)

Die Arme lasse ich Lena jetzt langsam in Richtung Westen strecken.


Viele Grüsse
jeanmarie malté

 

Hallo teoma,

nochmals vielen Dank.

Atlantik tobt: Ich werde den Atlantik seinen Kampf führen lassen.

Aus dem Nichts kommend lasse ich einen älteren Herrn sich zu Karl an die Reling gesellen.

Die eintausendzweihundert Passagiere der ersten, zweiten Klasse und auf dem Zwischendeck ...

Den Schluss möchte ich jetzt einfach mal so stehenlassen, vielleicht als eine Art Cliffhanger.
Die Geschichte ist tatsächlich nicht zu Ende und es kann gut sein, dass ich sie fortsetzen werde.

Viele Grüsse
jeanmarie malté

 

Hallo jeanmarie malte,

Deine Geschichte hat mich mit den ersten Worten neugierig gemacht und in ihren Lesesog gezogen - dafür herzlichen Glückwunsch! Mehr noch, ich fühlte mich selbst an Deck und konnte nicht nur den Wind, sondern auch die Arbeit dieser - wieviel PS? - starken Maschinen unter den Füßen spüren. Dass ich dabei - auch bei der ersten Begegnung mit Lena am Bug - an "Titanic" denken musste, nimmst Du bitte nicht als ironischen Kommentar; ich musste nur schmunzeln, weil ich den Song von Dione gestern in der Klarinettenstunde gespielt habe. Mit E-Piano: einfach stimmungsvoll! Jedenfalls war die Atmosphäre samt dem Zeitkolorit hervorragend eingefangen und lässt eine gute Beherrschung des Themas erkennen!

"Zwölftausendfünfhundert PS treiben dieses elegante Schiff westwärts."

Bei diesem Satz dachte ich mir: etwas zu auktorial. Ob hier evtl. der Protagonist Karl mehr einbezogen werden könnte? Z.B. unter Bezugnahme auf die oben stehende Beschreibung Hinrich Clevermanns "Dann schlägt man die Augen wieder zu und spürt nur noch das Wasser in den Augen." Hier könnte sich - aber das ist nur meine spontane Idee - ein Satz anschließen, wonach Karl nachts in der Koje bzw. in der überfüllten Schlafunterkunft, im Stockbett, in der Hängematte, die Augen schließt und die Maschinen spürt, die das Schiff westwärts treiben. Zwölftausendfünfhundert PS.
Das würde m.E. noch eleganter zu der allgemeinen, auktorial gehaltenen Beschreibung des Schiffes, seiner Konstruktion und des Lebens an Bord mitsamt den klassengesellschaftlichen Unterschieden (auch hier wieder "Titanic" ;-)) überleiten. So gern ich diesen Absatz gelesen habe, fand ich ihn zumindest beim ersten Mal etwas zu weit vom Prot abgerückt. Im weiteren Verlauf der Geschichte stellte ich dann fest, dass diese Einschübe das schicksalhafte Gefühl dieser Fahrt noch verstärken.

Der Text baut auf diese Weise eine stetig wachsende Spannung auf - die wiederholte Nennung der 12500 PS (ich kürze mal im weiteren Verlauf mit Ziffern ab) ließ mich an Fontanes "John Maynard" denken: "Und noch 30/20/15 Minuten bis Buffalo". Die rätselhaften Begegnungen mit Lena, die Information, dass Hinrich Clevermann gar nicht auf der Passagierliste steht, das alles verdichtete sich zu einer immer unheimlicheren und rätselhafteren Atmosphäre. Aber der Schluss - hier muss ich mich Anakreon und den anderen anschließen: Er greift mir ein wenig zu kurz. Eine Traum-Auflösung steht hier wie eine Entschuldigung, dass eine dramatischere Wendung wohl nicht vorgesehen war. Gleichzeitig erweckt Dein Schlusssatz neue Erwartungen: Haben Karl und Lena eine haunted Urlaubsreise vor sich? Bringt der Atlantik das Paar mit einer schicksalsträchtigen Vergangenheit zusammen? Zu oft spukte der Klabautermann in Hinrichs Worten, zu unheimlich die Begegnungen mit Lena, als dass die Geschichte in dieser Weise regelrecht abreißen dürfte. Lenas Gesicht ist verbrannt... Was ist passiert? Was geschieht hier eigentlich?

Wie sich die Geschichte wenden lässt - wenn es Deine Intention ist - kann und möchte ich nicht gut sagen. Es ist ja Dein Text und Du kannst meine spontanen Einfälle auch grottenblöd finden. Ich sage nur, welche Fantasie - ob kreativ oder schlecht (ich bin nun selbst kein solcher Künstler in überraschenden Wendungen, wenn bei mir mal ein Leser mit irrem Grinsen hocken bleibt, ist der kurze, einsame Höhepunkt meiner Schreibkarriere erreicht) - mich beim Lesen unterschwellig begleitet hat: Ist vielleicht auch Karl in Wirklichkeit tot und begegnet in einer Zwischenwelt anderen Verstorbenen, darunter seiner Geliebten? Oder sind sie die einzigen Überlebenden einer Katastrophe, der ein Großteil der Passagiere samt dem Schiff (aber dann hätten wir schon wieder "Titanic") zum Opfer gefallen sind? Also, etwas in der Richtung von "The Others" geisterte da an mir vorüber. Das ist auf einer Schiffsreise wahrscheinlich schwieriger zu gestalten, weil das stationäre Moment eines Hauses jemanden leichter darüber hinweg täuscht, dass er längst tot ist. Aber ich bin sicher, Dir fällt etwas ein.

Ob der Atlantik sich verzweifelt wehrt? Ich würde das eher fatalistischer schildern, wie in Schillers Ballade von "Hero und Leander": Dort greifen die Götter mit letztlich unparteiischer Schicksalsstrenge ein, töten den Geliebten, der heimlich zur Priesterin Hero schwimmen muss, bei einem Seesturm, fügen den beiden Liebenden dennoch grausames Leid zu ("Strenge treibt ihr eure Rechte/ furchtbar, unerbittlich ein."). Die See als reine Naturgewalt: Das unterstreicht das schwierige Auswandererschicksal und die Gefahren der Überfahrt - nicht zuletzt ja auch durch Erkrankungen - wohl ebenso gut wie eine zu starke Vermenschlichung des Ozeans. Ich stelle mir vor, der Ozean - Okeanos - ist ein Gott: Die kennen keine Verzweiflung, zumindest nicht im menschlichen Sinn.

Auf jeden Fall eine atmosphärisch hervorragende Geschichte, mit Figuren, die Empathie wecken, menschlich-historisch eine hervorragende Kombination. Einen etwas knackigeren Schluss würde sie auch noch vertragen.

Mit viel Vergnügen und Spannung gelesen von
Roger

PS: Und inzwischen habe ich die Funktion "Zitat einfügen" wieder entdeckt, also künftig werde ich wieder richtig zitieren.

 

Hallo Roger,

Vielen Dank für deine Anmerkungen

leider habe ich die Funktion "Zitat einfügen" noch nicht entdeckt. Aber ich hab ja noch viel vor.

Die Geschichte ist eigentlich Teil von etwas grösserem, woran ich schon seit einiger Zeit arbeite. Da ich aber nicht recht vorankomme, und ich durch Zufall vorletzte Woche auf die "Wortkrieger" gestossen bin, habe ich die als meinen ersten Beitrag eingestellt. Die Gesamtgeschichte sollte eigentlich eine Auswanderung im Jahre 1896 nach Nordamerika darstellen, und ich muss gestehen, dass ich mich etwas zu sehr in Details der Recherche verbissen habe. Um weiterzukommen, habe ich schliesslich diese Geschichte als Teilstück der Überfahrt mal entwickelt. Fasziniert haben mich bei der Recherche wirklich die luxuriös ausgestatteten Schnelldampfer dieser Epoche. Sie waren in der ersten und zweiten Klasse wirklich schwimmende Paläste, während auf den Decks für die Auswanderer (deren Passage 15 Reichsmark kostete) schon qualvolle Enge herrschten. Die Arbeitsbedingungen der Heizer waren natürlich katastrophal. Aber mit diesen Schiffen konnte man fahrplanmässig in 10 Tagen von Bremerhaven nach New York reisen, und das erstmals in der Menschheitsgeschichte. Es sind sogar noch fast alle Passagier- und Mannschaftslisten aus dieser Zeit erhalten. Die Passagen in früheren Zeiten glichen eher ungeheuren, gefährlichen Abenteuern.

Die mehrfachen zwölftausendfünfhundert PS waren als Bruch, oder vielleicht als Teiler gedacht, so nach dem Motto "zurück zum Thema". Das möchte ich eigentlich auch zunächstmal so stehenlassen. Der Vergleich mit Buffalo ist durchaus angebracht. Ich habe trotzdem grinsen müssen: In einer anderen Version dieser Geschichte, die auf demselben Dampfer spielt, wandert eine junge Frau, Lena, nach Buffalo aus. "Aber das ist eine andere Geschichte".

Vielleicht geht die Reise auch dahin, dass ich die Passage als komplett eigenständige Geschichte, ggf. auch als Roman gestalte. Mal sehen, ob ich noch weiteres Potenzial entdecken kann.

Und keine Angst: "Grottenblöd" finde ich keine deiner Anmerkungen. Ich finde es im Gegenteil spannend und bereichernd, zu erfahren, wie andere Leute die Geschichte gestalten würden. Kritikloses Gutfinden finde ich nicht gut. Es kann allerdings auch passieren, dass ich das eine oder andere übernehme (und ich bitte, dies nicht als "abkupfern" zu betrachten).

Und ja, ich habe den Atlantik schon als "sich wehrend" empfunden, allerdings nur auf einer zweistündigen Überfahrt auf die Insel Ouessant, dem letzten Aussenposten Kontinentaleuropas mit bedeutenden Leuchtfeuern.

Die Atmosphäre lag mir besonders am Herzen. Da ich in der letzten Zeit ziemlich viel gelernt habe, auch die Tatsache, dass man die Szenen mit allen 5 Sinnen beschreiben muss. Aber auch da bin ich noch auf dem Weg.

Jetzt wollte ich heute eigentlich was anderes schreiben, und habe mich mal wieder wie so oft in den letzten Tagen bei den Wortkriegern verfangen.

Viele Grüsse
Jeanmarie Malté

 

Hi jeanmarie,
Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Die Beschreibungen wirken waren gut und die Personen wirkten aus Fleisch und Blut.
Es sind einige schöne Sätze dabei:

Klappe auf, schaufeln, Klappe zu. Klappe auf, schaufeln, Klappe zu. Und Klappe halten.

Natürlich bin ich auch um Kap Hoorn mit seinen Stürmen und Tücken bis nach Valparaiso an der chilenischen Pazifikküste gefahren.
Hier wirkt die direkte REde nicht glaubwürdig. Das klingt nach einer Erzählerstimme, nicht nach einem Seebären

Mit dem Ende bin ich dann nicht zufrieden.
Einmal steht der Traum nicht für mich nicht wirklich im Zusammenhang mit ihrem Urlaub, den sie in Amerika verbringen wollen - was ich eigenartig finde - sie müssten zu dieser Zeit schon sehr sehr reich gewesen sein. Oder die Zeit in der sie leben ist nicht 1896

Mit der Geschichte und der aufgebauten Spannung hättest du zum Ende durchaus etwas besseres ausdenken können, als den Traum. Vielleicht magst du sie ja noch umschreiben. Sicher fällt dir noch etwas ein.

lg
Bernhard

 

Hallo Bernhard, Anakreon, ernst offshore, teoma, roger!
Hier nun meine lange angekündigte Überarbeitung des Themas "Atlantische Winde." Ich habe nicht nur das Ende (Traum-Auflösung) herausgenommen, sondern habe auch noch das Thema "verbrannte Löcher" (Augen) etwas erläutert.

Ich bin gespannt und freue mich auf Eure Kritik.

Viele Grüsse
Jeanmarie Malté

 

Hallo Jeanmarie Malté

Besser, die Geschichte ist besser geworden. Ich kann mich zwar nicht mehr an den genauen Verlauf der ersten Fassung erinnern, aber insbesondere der Teil, der im Kesselraum des Dampfers handelt, ist ausführlicher und dadurch anschaulicher geworden. Auch der Unterschied zwischen den Heizern und den Fahrgästen war, soweit ich mich erinnern kann, vorher weniger deutlich. Der Schluss ist nun einfacher und klarer. Das mit den Brandlöchern kann ich nun auch verstehen. Ich mag aber nicht mutmassen, ob die Brandlöcher ein Hinweis auf die Zukunft sind. Dafür weiss ich zuwenig über die beiden Liebenden.
Das Überarbeiten hat sich gelohnt.

Das fiel mir noch auf:

Der Atlantik vollführt seinen immerwährenden Kampf gegen jedes Schiff, das den Versuch wagt, ihn herauszufordern.

Das ist noch immer umständlich geredet. Wie würde Karl erzählen? Er ist ein einfacher Mann. Würde er sagen: «Ich musste gegen das Heimweh kämpfen» oder «ich musste den Kampf gegen das Heimweh vollziehen.»

"Ah, sehr angenehm. Unter all diesen Herrschaften hier mal jemand mit einem anderen Hintergrund kennenzulernen, ist schön. Wissen Sie, ich bin ein Mann der Tat und sehe hier nur Kaufleute, Doktoren und Adelige, also Menschen, die nicht körperlich arbeiten müssen. Da komme ich mir sehr einsam vor."

Als Kapitän arbeitet er auch nicht körperlich. Er steht auf der Brücke, berechnet den Kurs und erteilt den Matrosen Befehle. Diesbezüglich gleicht er einem Doktoren eher als einem Arbeiter.

Gruß teoma

 

Hallo teoma,

schön, dass es dir jetzt besser gefällt. Es zeigt sich auch für mich einmal mehr, dass die Besprechung eines Themas Früchte tragen kann.:)
Nur zur Info: Die Tätigkeit der Heizer hatte ich in der Ursprungsversion nur am Rande erwähnt und nicht in die Handlung mit einbezogen.
Die Kapitäne zu dieser Zeit und unter diesen Umständen kann man m.E. nicht mit der heutigen Zeit vergleichen. Da war schon noch viel an der Luft und auch körperlich zu tun. Die Schnelldampfer waren selten länger als 20 Jahre unterwegs. Was nicht aus wirtschaftlichen Gründen verschrottet wurde, sank. Und viele Schiffe gingen unter, die Todesopfer gingen oft in die Hunderte. Geschwindigkeit war schon vorhanden, aber die Sicherheitstechnik von heute noch nicht einmal in Ansätzen. Schnelldampfer fuhren nach Sextant und: AUSGUCK:thdown:
Du siehst, das ist gerade mein Thema.
Den Kampf des Atlantik würde Karl so sehen, als dass ihm auf dem Weg nach Amerika noch manches Hindernis, mancher Brecher Widerstand leisten wird.

Viele Grüsse
Jeanmarie Malté

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Teoma,
Noch ein Nachtrag:
Hinrich Clevermann bezeichnet sich eigentlich selbst als Mann der Tat, was ja nicht unbedingt schwere Arbeit bedeuten muss. Was die Kapitäne zu jener Zeit tun mussten, war sicherlich nicht mehr zu vergleichen mit jenen, die unter Segeln gefahren sind. Trotzdem tut er etwas praktisches, er befehligt die Mannschaft und das Schiff, um Personen oder Güter zu befördern.
Was den kämpfenden Atlantik betrifft, so denkt Karl dabei an die Hindernisse bei der Auswanderung, die ihm widerfahren waren und in Amerika noch bevorstehen. Es ist also mehr im übertragenen Sinne zu verstehen. Er ist eigentlich das Schiff, die Umstände in Form der Wellen stellen sich ihm in den Weg. Den Text hab ich jetzt daraufhin nochmals etwas angepasst, und hoffe, dass mir keine Verschlimmbesserung gelungen ist.:)
Viele Grüsse
Jeanmarie Malté

 

Hallo Jeanmarie Malte,

Deine Erzählung erscheint mir inzwischen ein gutes Stück runder, noch flüssiger und auf jeden Fall sehr atmosphärisch, wobei ich finde, dass Du dies kaum noch überbieten konntest. Sicher kann man über manche Formulierungen streiten und Feinheiten überarbeiten. Sehr wichtig finde ich auch den Hinweis auf teomas Anmerkung, auf die Ausdrucksweise zu achten und sie etwa dem Bildungsstand des Protagonisten anzupassen. Das, glaube ich, können wir alle uns nicht oft genug neu hinter die Ohren schreiben ;). Aber die Richtung stimmt auf jeden Fall.

Gut finde ich, dass Du Karl in die Beschreibung unter Deck einbezogen hast und diese Szenen nun Teil einer durchgehenden Handlung sind. Karls Reaktion, sich nicht in den Heizraum hinein zu trauen, ist sehr verständlich. Etwas verwirrt hat mich, zugegeben, dann das Nachfolgende: Ein Heizer ist offensichtlich mit schwersten Gesichtsverletzungen geschlagen. Hierzu möchte ich aber erst einmal eine sprachliche Anmerkung machen:

Eine schwarze Masse unterhalb seiner Stirn verriet, dass ihm Schlimmes widerfahren war.

Den Konsekutivsatz würde ich lieber so formulieren: "..., wie schlimm es war." Dass dem Heizer etwas Schlimmes widerfahren ist, geht ja aus den vorangegangenen Sätzen hervor.

Das wesentliche, Inhaltliche ist aber für mich, dass die Reaktion der Heizer mich etwas stutzig gemacht hat - so anschaulich die Szene sprachlich auch geschrieben ist. Sperren die wirklich einen unbefugt eintretenden Passagier ein und lassen ihn erst für ein kleines Bestechungsgeld wieder frei? Wenn der daraufhin zum Kapitän geht und sich beschwert? Oder war das auf damaligen Auswandererschiffen tatsächlich so? Ich meine, in der Hölle des Schiffsbauches (sehr schön beschrieben, evtl. vielleicht das Wort "Hölle" ein bisschen zu oft verwendet) hat nun wirklich weder Kreti/Pleti noch HErr Astor persönlich was verloren. Ein verärgertes, unwirsches "Draußen bleiben" hätte ich hier eher erwartet.

Und dann reagieren die Maschinenleute und der Ingenieur für meinen Geschmack etwas zu humorig angesichts eines Unfalls, der einen von ihnen das Gesicht, wenn nicht das Leben kosten kann. Die Aufregung der Leute sollte m.E. noch mehr mit diesem vorangegangenen Unfall in Verbindung gebracht werden. Gar nicht mal sozialkritisch a la H.G. Wells - die Morlocks von morgen eifern gegen die dekadenten Schmarotzer, zu denen Karl aber auch nicht gehört - sondern einfach im Sinn einer Übersprungsreaktion. Möglicherweise hast Du aber etwas ganz anderes im Sinn. Ist es eher ein Blick in die Zukunft, ähnlich wie bei Lenas verbrannten Augen? Ich dachte mir auch: Vielleicht sind die Heizer in Wirklichkeit verdammte Seelen, zwei verschiedene Welt-Ebenen verschwimmen ineinander.

Hier sind also Fragen offen, aber das kann daran liegen, dass Dein Text eben Teil von etwas Größerem ist und die Erklärung noch verborgen liegt. Ich bin auf jeden Fall gespannt, wie es weitergeht!

Herzlichen Gruß vom Roger

 

Hallo Roger,

Danke für die Anmerkungen. Ja, die Heizer waren eine starke Gemeinschaft in sich mit einem ungeheuren Zusammenhalt. Da solche Unfälle mit glühenden Kohlen fast alltäglich waren, wohl aber nicht in dieser Intensität, ging man darüber hinweg. Aber seine Kollegen hatten dem Verunglückten ja geholfen und ihn zum Arzt gebracht. Das zu erwähnen, erscheint mir nicht notwendig, um die Dramatik nicht zu stören.
Jeder der Passagiere, der sich hineintraute, musste etwas mitbringen. Die Kerle konnten echt ärgerlich werden. Dass man ihn festhält, entspringt meiner Fantasie. Sie waren halt schlecht bezahlt. Trotzdem versuchte niemand, auch nur von ihren Vorgesetzten, sich gegen sie zu wenden. Das konnte wirklich übel ausgehen (Verletzungen, bis zum Tod.) Ein Offizier, der dies wagte, wurde tatsächlich nie mehr gesehen. Der Brennofen war gross. Und die Heizer hatten eine nicht zu unterschätzende Macht. Bei Streiks, die schon mal vorkamen, passierte es dann, dass Ersatzmannschaften aus Matrosen, Köchen o.ä. zusammengestellt wurden. Wegen deren mangelnder Erfahrung konnte so ein Schiff dann max. 2 Knoten machen statt der üblichen 13-14 Knoten, dass sich also die Fahrzeit versiebenfachte mit entsprechendem Kohlenverlust. Das konnte katastrophal enden. Dei Anzahl der Heizer auf so einem Dampfer berechnete ich aufgrund deren Kabinenaufteilung auf ca. 65 Personen.

Karl wollte sich das als unbedarfter Gutmensch mal anschauen. Naja, er zog seine Lehren daraus.

Viele Grüsse und ein sonniges und kreatives Wochenende (Ich für mein Teil bemühe mich darum)
;)
Jeanmarie Malté

 

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