Lieber jobär,
nachdem ich dir schon zu der Geschichte „Projekt ‚Wolke’“ meine ‚Systemkritik’, wie du es genannt hast, geschickt habe, habe ich mir heute einmal die ganze (bisherige) Serie durchgelesen. Du schreibst wirklich flüssig und man kann den Alltag des Seniorenheims sehr gut nachvollziehen.
Mir kam beim Lesen der letzten Geschichte aber der Gedanke, dass du vielleicht manchmal eine Chance vergibst.
Ich versuche mal an einem Beispiel zu zeigen, was ich meine:
Frau Holmen brauchte einige Zeit, das Gemurmel zu verstehen: 870170 war die Telefonnummer von Klaus Waller. Dann schaute sie Frau Waller an, die auf ihrem Stuhl immer kleiner zu werden schien: „Sie können nicht lesen?!“
„Nein, in der Volksschule habe ich Herbert kennengelernt, der hat mir immer geholfen. Aber ich habe es nie richtig verstanden.“ Frau Waller flüsterte nur noch.
„Nun, ich werde Ihnen mit den Briefen helfen. Aber ich werde auch ihren Sohn anrufen. Wir werden schon eine Lösung finden.“
Und schon war Frau Waller aus dem Zimmer gehuscht.
Ich bin natürlich nicht sicher, ob du das Problem ‚Analphabetismus’ noch einmal aufnimmst. Aber hier hätte meiner Meinung nach mehr dringesteckt. Für manche Menschen ist das Nichtlesen- und Nichtschreibenkönnen eine echte Tragödie, die sie leider ihr ganzes Leben begleitet. In sehr vielen Situationen müssen sie tricksen, weil sie ihr Defizit nicht zugeben wollen oder können. Stoff für eine ganz eigene Geschichte.
Auch mit der Person der Frau Kistner in der vorletzten Geschichte geht es mir so. Du lässt sie sagen:
"Ja, weil ich für jedes Wochenende ein eigenes Programm entwickle und meinen Kindern vorher zumaile. Man muss den jungen Leuten etwas mehr bieten als einige Stunden mit ihren nicht gerade heiß geliebten Angehörigen zu verbringen. Ich habe jahrelang Events geplant und organisiert, da habe ich genügend frische und ansprechende Ideen für meine Familie.“
Das ist doch eine sehr interessante Frau, über die der Leser gerne mehr erfahren würde.
Ich weiß nicht genau, inwieweit du dich in deinen Texten von der Realität lösen möchtest, aber dein Sewo bietet m.M.n. viele Möglichkeiten, einzelne Personen und ihre Eigenarten in den Fokus zu nehmen, nimm nur die beiden Frauen, die ich oben genannt habe. Du benennst oft eine Charaktereigenschaft der/des Heimbewohnerin/s, belässt es dann aber dabei. Der Leser kennt so immer nur einen Teil der Person, kann sich aber kein Gesamtbild von dieser Person machen. Eine Möglichkeit ist natürlich, dass du die Personen in den einzelnen Teilen der Serie weiter ausstattest und sie für den Leser ‚fassbarer’ machst. Ideal wäre es m.M.n., wenn der Leser sich letztendlich wie in den täglichen Soaps im Geflecht der Protagonisten auskennen würde und so mit ihnen Freud und Leid teilen könnte.
Das waren meine Gedanken beim Lesen deiner Geschichten und bei einer schönen Tasse Kaffee.
Ich wünsche dir ein schönes Wochenende.
Liebe Grüße
barnhelm
Ps: Ein paar Kleinigkeiten
Vergissmeinnicht 1
Regel 72: etwas Unerwartetes
Manchmal verlässt du das Präteritum und wechselst ins Perfekt:
Vergissmeinnicht 1
Wir haben dann unsere Kaffeetassen erhoben und einen lauten Jodler auf Frau Mühler ausgebracht
Wir brachten…
Projekt Wolke
Wir haben unsere Beobachtungen verglichen und waren uns im Ergebnis recht sicher
Wir verglichen…
So ein Ausflug
Wir haben uns noch einige Wochen köstlich amüsiert und dieser Tag zog noch mehr nach sich
Wir amüsierten uns ….