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Hugos kleine Reiseempfehlung

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21.04.2015
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Hugos kleine Reiseempfehlung

Paris schläft noch. Hugo sitzt auf einem der obersten Äste, lässt die Beine baumeln und sieht verträumt auf den Platz hinunter. Zu seiner Linken huschen nur vereinzelt müde Gesichter über das orange schimmernde Kopfsteinpflaster der Rue Saint-Julien-le-Pauvre. Er lächelt, schließt für einen kurzen Moment die Augen und saugt den Geruch des Sommermorgens auf. Lauscht dem tiefen Durchatmen dieser Stadt, die es nur in einem sehr kleinen Zeitfenster schafft, sich zu erholen, bevor Menschenmassen und hupende Autos sie Tag und Nacht aufs Neue überschwemmen.
Ein kräftiger Kaffeeduft steigt Hugo in die Nase. Gedankenverloren nimmt er einen großen Schluck aus dem Messingbecher, der neben ihm auf dem unebenen Holz steht. Schon oft ist dieser Becher durch Hugos Tagträumerei mehrere Meter nach unten gepurzelt. Deshalb ist er sicherheitshalber auf Messing umgestiegen, das ist robuster als Porzellan und hinterlässt keine Scherben. Einmal – vor der Umstellung - landete die Tasse nämlich auf dem Kopf einer englischen Touristin und Hugo hatte alle Hände voll zu tun, ihr überzeugend und gleichzeitig unbemerkt einzutrichtern, dass sie sich dieses unfassbar winzige Gefäß nur eingebildet hätte.
Der Schreck über das damalige Missgeschick jagt Hugos Puls noch immer schlagartig nach oben und er rutscht nervös hin und her. Sie dürfen unter keinen Umständen entdeckt werden, das würde alles ruinieren. Die Menschen – jedenfalls die meisten – haben die unangenehme Angewohnheit, etwas Besonderes nicht für sich behalten zu können. Nein, sie müssen darüber berichten, in allen möglichen Zeitungen, bis schließlich sogar die Buchstaben ihrer eigenen Geschichte überdrüssig werden und am liebsten gelangweilt vom Papier stolzieren würden. Dann kommen die Massen, schießen unzählige Fotos und man wird vor lauter Blitzlichtern fast blind. Die Ruhe ist dahin und am Ende des Tages liegt ein ehemals idyllischer Ort zitternd im Schatten der Nacht – bedeckt von Coladosen und Chipstüten.

Ein adrettes Fleckchen französische Hauptstadterde hat ihnen das Schicksal da zugeteilt. Der Square René-Viviani ist mit seinen wohlfrisierten Hecken, den strahlend grünen Rasenflächen, akkuraten Kieswegen und einladenden Bänken fast schon spießig ordentlich, aber wem das nicht gefällt, der kann ja weitergehen. Ab und zu verirren sich Touristen hierher – glücklicherweise nur die entspannten, nicht diese wahnsinnigen, die anstelle eines Kopfes eine Kamera oder ein Smartphone auf dem Hals zu tragen scheinen. Viel öfter jedoch machen es sich Einheimische auf den Bänken bequem und genießen den einmaligen Blick auf die mächtige Cathédrale Notre-Dame.
Hugo selbst wechselt jeden Tag die Perspektive, mal betrachtet er dieses riesige Bauwerk, mal den glitzernden Strom der Seine oder eine der vielen Straßen und Gassen, die sich um den Platz herumweben. Hier oben umgibt ihn Sicherheit, im Wipfel dieses über vierhundert Jahre alten Baumes, des ältesten Baumes in ganz Paris. Robinia pseudoacacia, allgemein als Robinie bekannt, wurde hier 1601 von ihrem Namensgeber Jean Robin gepflanzt - „und erblüht seitdem jedes Jahr wie eine jugendliche Schönheit“, denkt Hugo mit stolzgeschwellter Brust. Zwar wurden die höchsten Äste im ersten Weltkrieg von einer Granate weggerissen, aber die robuste Dame hat überlebt. Hugo senkt seinen Blick und betrachtet die beiden Krücken aus Beton, die den Stamm von zwei Seiten stützen und tief in der Erde verankert sind. Sieht nicht schön aus, erfüllt aber seinen Zweck.
Der Himmel färbt sich rosa und Hugo steht auf. Ganz sachte, um das schmerzhafte Knacken seiner Knie abzumildern. Ja, alter Knabe, vierhundert Jahre Arbeit gehen auch an dir nicht spurlos vorüber! Ein paar graue Haare hat er auch schon entdeckt, aber er ist nicht sonderlich eitel. Und hey, im Vergleich dazu, wie verbraucht manche Menschen bereits mit vierzig aussehen, ist er mit dem Zehnfachen auf dem Buckel noch immer topfit. Hier oben herrscht eben eine andere Zeit, sie altern mit dem Baum, langsam und gemächlich. So lange es die rüstige alte Madame Robine gibt, werden auch sie existieren, denn es ist ihre Aufgabe, sie zu beschützen und ihre Geschichte zu erzählen. Ihre und die dieses Platzes.
Die ersten Jahre waren verwirrend, als sie noch ein wenig ratlos und unbeholfen auf den Ästen und in den kleinen Höhlen des jungen Baumes heranwuchsen und versuchten zu verstehen, warum sie hier waren. Dann begann Madame, ihnen Botschaften zu senden, indem sie Buchstaben auf ihrer Rinde erscheinen ließ. So lernte das kleine Volk der Robinianer, dass sie dafür sorgen sollten, die Geschichte dieses Ortes zu bewahren, gute Menschen hierher zu führen, um sie daran teilhaben zu lassen, und schlechte Menschen fern zu halten.
Natürlich verirrten sich letztere dennoch ab und zu auf den Platz. Am schlimmsten waren diejenigen, die mit Taschenmessern dämliche Herzen in Madames Rinde ritzen wollten. Ihnen fehlte der Blick für die Schönheit. Sie trampelten achtlos über die Blumenwiese, die damals noch den Baum umgab, und rupften alles aus dem Boden, nur um es kurz zwischen den Fingern zu zwirbeln und es anschließend wieder wegzuwerfen. Doch die Robinianer hatten mit der Zeit ein gutes Verhältnis zu den Tauben in ihrer Nachbarschaft aufgebaut und so war immer eine in der Nähe, um auf Zuruf einem solchen Idioten mitten auf den Kopf zu scheißen.

„So, genug in Erinnerungen herumgedümpelt!“ Hugo betritt seine kleine Wohnung auf dem achten Stock und beginnt, sich für die Arbeit anzuziehen. Er hat heute die Flugschicht, Strecke Louvre-Tuileries-Place de la Concorde. „Da wird wieder einiges los sein“, murmelt er in seinen Bart. Hugo ist kein großer Freund der allseits bekannten Touristenattraktionen, jedoch hat er hier eine riesige Auswahl. Und sollte niemand dabei sein, der ihm passend erscheint, kann er immer noch nach links abbiegen und die Gassen jenseits der Seine nach einem Einheimischen absuchen. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass Besucher der Stadt empfänglicher für die Robinianer sind. Sie haben in der Regel keinen Zeitdruck und sind bereit, sich treiben zu lassen. Die Pariser Geschäftsfrau dagegen hetzt über die Straße, ohne Sinn für Träumereien.
Hugo greift nach seinem Brustpanzer, der in der Garderobe am Haken hängt. Sicherheit geht vor. Seit die Stadt immer größer und hektischer wurde, haben sie einstimmig beschlossen, bei den Flugschichten Schutzkleidung zu tragen. Man muss das Schicksal ja nicht unbedingt herausfordern. Nachdem er ihn festgeschnallt hat, streift er sich die Propellerapparatur über, die die raffinierten Kollegen aus der Technikabteilung über Jahrzehnte hinweg perfektioniert haben. Der Flug über die zahllosen Straßen von Paris läuft mittlerweile wirklich ohne jegliches Geruckel und auch Absinken, Aufsteigen und schnelles Kurvengefliege klappen tadellos. Hugo überprüft noch einmal den Tank, setzt seinen Helm auf und klettert auf den obersten Ast, wo sich ihr Start- und Landeplatz befindet. Die Sicht ist perfekt heute. Er zieht an den beiden Leinen rechts und links, der Motor auf seinem Rücken fängt an zu rattern und die rotierenden Propeller heben ihn sanft nach oben. Auf einer Höhe von etwa fünfzehn Metern gibt er Gas und fliegt gemächlich die Seine entlang, die unter der aufgehenden Sonne funkelt.
Verzückt beobachtet Hugo, wie Paris erwacht und es unter ihm immer hektischer wird. Er hat blendende Laune an diesem Morgen. Sein Bauch sagt ihm, dass irgendwo da unten ein perfekter neuer Zuhörer umherläuft und den wird er heute finden!
Eine Weile fliegt er über die Dächer und Gassen hinweg bis die prächtigen Bauten des Louvre sich unter ihm ausbreiten. Bei seinem Rundflug um die Pyramide schüttelt er – wie so oft – verständnislos den Kopf über die lange Schlange aus blitzenden Kameras auf Beinen, die sich bereits in dieser Herrgottsfrühe vor dem Eingang gebildet hat. „Warum wollen die Menschen bei strahlendem Sonnenschein durch dunkle Gänge irren und uralte Gemälde, Skulpturen oder Steine anglotzen?“, rätselt Hugo jedes Mal aufs Neue. „Würden sie durch die Sträßchen, Parks und über die Plätze dieser Stadt spazieren, könnten sie Geschichte erleben, atmen und sogar berühren – und nicht nur angaffen. Und einen gesunden Teint und glücklich müde Beine bekämen sie abends gratis sogar noch dazu!“
Lange hält sich der fliegende Robinianer jedoch nicht mit diesen Grübeleien auf, das hat er sich abgewöhnt. Man muss nicht alles verstehen und sich schon gar nicht über alles aufregen. Er saust über die Wiesen, Statuen und Kieswege des Jardin des Tuileries und genießt für ein paar Minuten die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht und das berauschende Gefühl des Fliegens. Doch als er die Spitze des Obelisken erblickt, reißt er sich zusammen, er ist schließlich zum Arbeiten hier! Er steigt ein paar Meter weiter nach oben und vor ihm breitet sich der größte Platz von ganz Paris aus.
Der Verkehr auf der Place de la Concorde ist wie immer gnadenlos laut. Wohin man blickt, hupende und wild blinkende Autos. Der erdrückende Gestank nach Abgasen steigt Hugo in die Nase und er verzieht angewidert das Gesicht. Naja, andererseits, besser als die herunter krachende Guillotine. Er hat lange genug gebraucht, um die umher rollenden Köpfe zu verdrängen, da schaut er sich lieber dieses Chaos an und erträgt ein paar Minuten lang die schlechte Luft.

Und da entdeckt er ihn. Ein junger Typ mit wilden, blonden Haaren und staunendem Blick. Hugo erkennt sofort, dass er es hier mit einem kleinen Träumer zu tun hat, mit jemandem, der sich gerne treiben lässt und nicht mit der Nase im Reiseführer von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hetzt. Da liegt eine Unschuld und Neugier in seinen Augen, die Hugo endgültig versichern, dass dort unten sein nächster Zuhörer steht. Schnurstracks rast unser Robinianer auf ihn zu. Als er ihn erreicht, lässt er sich so leise wie möglich auf der Schulter des Träumers nieder.
„Wie heißt du?“, flüstert Hugo ihm ins Ohr.
„Simon.“ Noch im selben Moment wundert sich der Mann, warum er eben an seinen eigenen Namen gedacht hat.
Aber genau so funktioniert es. Hugo reibt sich zufrieden die Hände. Das Flüstern seines Volkes schleicht seit jeher in die Köpfe derjenigen, die sie ausgesucht haben und tarnt sich geschickt als „Gedanken“. Es muss aber unbedingt bei diesem behutsamen Wispern bleiben, denn die Leute erschrecken, wenn die Stimme „in ihrem Kopf“ zu laut wird. Oft zucken sie dann zusammen, wedeln mit der Hand, als wollten sie eine Fliege verscheuchen und laufen verwirrt davon. Ja okay, zugegeben, manchmal machten sich die Robinianer einen Spaß daraus und hielten sich die runden Bäuche vor Lachen, aber ihrer täglichen Arbeit war das nicht gerade zuträglich, denn erschrockene Menschen ließen sich nur noch schlecht durch leise Worte lenken.
Aber zurück zur Sache. Oder besser zurück zu Simon, der nun nicht nur staunend, sondern auch ein wenig verwirrt aus der Wäsche glotzt.
„Lauf zurück zum Louvre. Im zweiten Innenhof, also dem ohne Pyramide, biegst du rechts ab und überquerst die Brücke mit den vielen Schlössern. Danach halte dich links und folge der Seine ein Stück. Ich zeige dir einen ganz besonderen Ort – versprochen!“
Während Simon sich bereits in Bewegung gesetzt hat, säuselt Hugo ihm behutsam diese Anweisungen ins Ohr. Ein wenig ähnelt der junge Mann mit dem strubbeligen Haar einem Schlafwandler, der einer Marionette gleich an unsichtbaren Fäden durch Paris geführt wird. Unser Robinianer sitzt auf seiner Schulter und strahlt mit der Sonne um die Wette. Das ist ein dufter Typ, sehr offen, spontan und empfänglich. Es wird eine wahre Freude werden, ihm alles zu zeigen und zu erzählen!
Nach einer Dreiviertelstunde – Simon hat es nicht eilig und bleibt ab und zu stehen, um sich zu fragen, wo er eigentlich gerade hinlaufe – erreichen die beiden den Square René-Viviani. Hugo platziert seinen neuen Freund auf einer Bank, auf der er sowohl Madame Robine, als auch die Kathedrale im Blick hat.

„Manche Menschen“, wispert Hugo, der es sich auf Simons Schulter bequem gemacht hat, „haben von Geburt an schlechtere Chancen als andere. Das ist unfair, aber nun mal Realität. Der Mann, dem die kleine Kirche dieses Platzes ihren Namen verdankt, hatte besonderes Pech. Denn es waren nicht etwa der falsche Ort oder die falsche Zeit, die ihm seit Beginn seines Lebens Steine in den Weg legten, sondern ein paar Hexen. Und ich kann dir sagen, wir sprechen hier nicht von rothaarigen, heißen Fegern, die auf ihrem Besen umher heizen und ab und zu mal ein bisschen Zaubersuppe kochen. Nein, ich rede von richtig fiesen Biestern! Aber von vorne ...“
Simon reibt sich die Stirn und betrachtet die kleine Kirche, vor der ein Baum steht, der ziemlich alt zu sein scheint, denn er wird von zwei Betonpfeilern gestützt. Warum genau denkt er gerade über Hexen nach?
„Schhhh ... Entspann dich und hör einfach nur zu. In der Nacht als Julien – später Saint Julien le Pauvre genannt – geboren wurde, beobachtete sein Vater heidnische Hexen dabei, wie sie sich an seinem Sohn zu schaffen machten. Sie erlegten ihm den Fluch auf, irgendwann seine Eltern zu töten. Völlig außer sich wollte der Mann sein Kind loswerden, aber der Mutter war es unmöglich, ihr eigen Fleisch und Blut wegzugeben. Julien wuchs heran und wunderte sich immer öfter über die misstrauischen Blicke seines Vaters und über die Tränen seiner Mutter, die aus ihr hervorsprudelten, sobald sie ihn ansah. Eines Tages konnte die verzweifelte Frau den Fragen des jungen Mannes nicht mehr ausweichen und erzählte Julien von dem grausamen Fluch, der auf ihm lag. Erschüttert über ihre Worte schwor Julien, eine solche Sünde niemals begehen zu können und verließ seine Eltern. Vermutlich wollte er selbst der kleinsten Möglichkeit keine Chance einräumen und entfernte sich so weit wie möglich von seinem Zuhause. Er lief und lief und lief. Nach fünfzig Tagen – so sagt man zumindest, du weißt ja, wie löchrig diese alten Überlieferungen sein können, vielleicht waren es auch einundfünfzig, krchchch ...“
Hugo wackelt glucksend herum, bemerkt aber schnell, dass nur er über seinen Witz lacht. Oder was er für einen Witz hält.
„Okay okay, entschuldige, war nicht mein bester, ich geb's ja zu. Also wo war ich? Ja genau, nach fünfzig Tagen also erreichte Julien Galicia, wo er sich mit einer Frau verheiratete, die den Ruf genoss, ein guter Mensch zu sein. Klingt ganz nach 'Happy End', was?“
Simon nickt. Völlig gebannt lauscht er der Stimme und betrachtet nachdenklich die kleine Kirche. Niemand sonst stört seine Versunkenheit und Hugo lächelt selig.
„Nun, leider muss ich dich enttäuschen, mein Freund, denn die Geschichte geht noch weiter. Wir spulen zwanzig Jahre vor. Juliens Eltern machten sich auf die Suche nach ihrem Sohn, sie konnten es nicht ertragen, in Ungewissheit über sein Schicksal zu leben. Sie trafen auf seine Frau, die sich vor Freude über diese Zusammenkunft rührend um die beiden kümmerte und sie für die Nacht in Juliens und ihrem Schlafzimmer unterbrachte. Während all dies geschah, befand sich unser armer Titelheld völlig unwissend im angrenzenden Wald auf der Jagd, wo ihn der Fluch schließlich einholte. Eine Stimme zwischen den Bäumen ließ ihn hochschrecken. Ihr Tonfall war gemein, hinterlistig und schadenfroh: ‚Ich habe Neuigkeiten für dich, Julien! Während du hier durch den Wald schleichst, amüsiert sich deine Frau mit einem anderen Mann. Sieh ruhig nach, sie liegen gerade in eurem Ehebett.’ Die Worte krochen direkt in Juliens Herz und schnürten ihm die Luft ab. Wie von Sinnen rannte er nach Hause und stürmte auf direktem Weg ins Schlafzimmer. Dort lagen im Halbdunkel tatsächlich ein Mann und eine Frau in seinem Ehebett. Vor Wut rasend und von der Stimme im Wald vergiftet zögerte Julien keine Sekunde und tötete beide mit seinem Schwert.“
„Ach du Scheiße!“, platzt es aus Simon heraus.
„Ja, du sagst es! Nach der Tat taumelte er benommen hinter das Haus und sah seine Frau im Garten sitzen, die ihm sagte, dass seine Eltern zu Besuch seien und sich oben im Schlafzimmer ausruhten.
Kannst du dir die Verzweiflung vorstellen, die ihn in diesem Moment zerfressen haben muss?“
Der junge Mann schüttelt mit aufgerissenen Augen nur stumm den Kopf.
„Schlimme Geschichte ... Aber sie ist mit diesem Ort verflochten und deshalb habe ich sie dir erzählt. Du fragst dich nun sicher, warum die kleine Kirche hier gerade nach diesem vom Schicksal gebeutelten Mann benannt wurde. Nun, nach diesem tragischen Vorfall widmete sich Julien ganz dem Wohl der Menschen. Er ersuchte Vergebung in Rom und baute von seinem Geld sieben Krankenhäuser und fünfundzwanzig Herbergen, die Pilgern als Unterkunft dienen sollten. Hier auf diesem Platz stand vor langer Zeit ebenfalls ein Haus, in dem Pilger Zuflucht suchten. Als es über die Jahre zerfiel und schließlich die Kirche an seiner Stelle erbaut wurde, bekam sie den Namen Saint-Julien-le-Pauvre. Und so schließt sich der Kreis wieder.“
Hugo gefällt sich in der Rolle des Geschichtenerzählers. Ganz besonders aber genießt er die anschließende Stille, wenn die Worte im Kopf seines Zuhörers nachklingen, wenn sie um ihn herum schwirren und er versucht, sie mit den Augen wieder einzufangen. Hugo dreht sich zur Seite und erkennt an Simons Blick, dass auch er gerade den Buchstaben nachjagt. Die Sonne wärmt den Platz, der Tag schreitet voran und Erzähler und Zuhörer lassen die Zeit einfach vorbei rieseln und blinzeln vor sich hin.

Ein zorniges Magenknurren holt beide schließlich wieder zurück ins Hier und Jetzt. Simon hält sich den Bauch und schaut auf die Uhr. Verdammt lange sitzt er hier schon auf der Bank, umgeben von dieser seltsamen Traumblase. Hugo reibt sich die Augen, steht auf und greift zur besseren Balance nach Simons Ohrläppchen.
"Oha, das klingt so, als solltest du dringend eine Kleinigkeit essen. Ich werde jetzt noch eine Runde über die Seine drehen und dann Feierabend machen. Es war mir eine große Freude, heute mit dir hier gesessen zu haben, ich habe ein wirklich gutes Gefühl bei dir. Eine Kleinigkeit will ich dir aber noch über Madame Robine erzählen, bevor ich abhaue. Ich bin mir sicher, du erzählst die Geschichte dieses Ortes irgendwann jemand Besonderem und vielleicht kommst du dazu sogar noch einmal her. Das fände ich schön! Dann könnte ich es mir eine Weile bei euch gemütlich machen und ausnahmsweise mal selbst zuhören. Ja, das würde mir gefallen. Aber genug, bevor ich hier in alt-Männer-Gefühlsduselei abdrifte, hör gut zu ...“

Als in Simons Kopf kurze Zeit später plötzlich Ruhe herrscht, erhebt er sich langsam und streckt gähnend seine Arme und Beine. Ein Knackskonzert der Gelenke, die erschrocken den Befehl von oben erhalten, sich gefälligst wieder zu bewegen. Eine Sache noch! Entschlossen läuft er auf den ältesten Baum von Paris zu, der mittlerweile lange Schatten wirft und trotz seiner Krücken majestätisch den Platz überblickt. Simon legt die Hand auf die Rinde und lässt sie mit geschlossenen Augen langsam am Baumstamm nach unten gleiten.
Wenige Minuten später, als er am Seineufer entlang Richtung Louvre schlendert, zufrieden in ein Croque Monsieur beißend, schwirrt da noch immer dieser Satz um ihn herum.
„Wer Madame Robines Rinde berührt, dem wird sie Jahre voller Glück schenken!“
Simon ist schleierhaft, wie er auf so einen Quatsch kommt – ein Glücksbaum namens Madame Robine. Eigentlich glaubt er nicht an Glücksbringer. Aber dieses Mal ist es anders. Da war etwas auf diesem Platz, auf diesem Baum ...
Hungrig haut er seine Zähne in das Sandwich und biegt rechts ab, während die Tauben hinter ihm entzückt sind über die zurückgelassenen Krümel auf dem alten Kopfsteinpflaster.

 
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Hallo ihr Lieben,

kurz zur Erklärung, diese Geschichte entstand aus fünf Worten, die ein Freund spontan ausspuckte, als ich ihn darum bat.

Baum – Auto – Brustpanzer – Blumenwiese – Monokel

Ich habe mich daran erinnert, dass man so in der Schule gelernt hat, Geschichten zu erzählen und habe es einfach mal versucht :) Viel Spaß beim Lesen.

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NACHTRAG: Habe mir die Anmerkungen zu Herzen genommen und mich mehr auf die runde Geschichte konzentriert. Das Wort Monokel kommt also nicht mehr vor, da ich die Straßenschauspieler weggekürzt habe.

 
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Hola RinaWu,

ich beteilige mich am Kreuzworträtsel Baum - Auto - Brustpanzer – Blumenwiese – Monokel: Jean knallt mit dem Auto gegen einen Baum und landet auf einer Blumenwiese. Der Brustpanzer schützt sein Herz und das Monokel sein Auge. Das andere hat er leider eingebüßt. Das war aber auch ein Aufprall!

Zur Sache: Du schreibst professionell. Das liest sich gut. Du hast wohl die Theorien der Kurzgeschichte besser verinnerlicht als ich. Bis auf eine Sache – wie ich finde: Die Vorgabe fünf willkürlicher Wörter steht wohl im Kontrast zur Idee, aus tausend anderen Gründen eine KG zu schreiben, wenn sie erklärbar sind.
Fünf Wörter aus der Lotterie sind keine gute Basis für guten Text. Wie auch?
Hier fehlt eindeutig die Motivation. Der Leser spürt das, wie ich meine. Ein furchtbares Wort kommt mir in den Sinn (Nottext) – das ist so was wie eine Auftragsarbeit (Gibt’s auch in der Kunst, in der Architektur etc.).
Ich erkenne schon, dass Du keine Mühen gescheut hast, eine passable Geschichte hinzulegen, aber dem stehen einige Ungereimtheiten gegenüber.

Ich wäre als Leser bald ausgestiegen, doch las ich Deine nachfolgende Erklärung zur Geschichte zuerst – und die machte mich neugierig (obwohl ich schon wusste, dass ich nicht applaudieren würde). Also musste ich Deine Geschichte bis zum Ende lesen.
Viel Zeug – ich sage bewusst nicht Zeugs. Es sind so schöne Sachen dabei, doch einiges will ich anmerken. Krieg’s bitte nicht in den falschen Hals, aber Deine nächste Geschichte sollte andere Voraussetzungen haben. Ich glaube, dass Emotionen den meisten Sauerstoff ins Feuer pusten.
Ich wusste anfangs nicht, dass es so viel werden würde, deshalb etwas ungeordnet:

nach unten gepurzelt, weil Hugo ihn tagträumend mit einer fahrigen Bewegung in die Tiefe geschleudert hat.

Geschleudertes purzelt? Das sind zwei verschiedene tempi.

Square René-Viviani.
Rue Saint-Julien-le-Pauvre
die mächtige Cathédrale Notre-Dame
Bauten des Louvre sich unter ihm ausbreiten. Bei seinem Rundflug um die Pyramide
Jardin des Tuileries
größte Platz von ganz Paris aus – die Place de la Concorde. (Staun, staun!)
herunter krachenden Guillotine vor. Er hat lange genug gebraucht, um die umher rollenden Köpfe von Louis XVI oder Marie Antoinette zu verdrängen, da schaut er sich lieber dieses Chaos an und bewundert die beiden riesigen Brunnen, die den Obelisken flankieren.
Sei mir nicht bös, aber - ach, was red’ ich.

bis schließlich sogar die Buchstaben ihrer eigenen Geschichte überdrüssig werden und am liebsten gelangweilt vom Papier stolzieren würden.

die lange Schlange aus blitzenden Kameras auf Beinen,

Das find’ ich richtig gut, und Du hast eine Menge davon im Text. Bravo.

trampelten achtlos über die Blumenwiese, die damals noch den Baum umgab

Das ist verbürgt – diese Blumenwiese gab es seinerzeit (Otto V., VI., VII.?) wirklich. Oder war’s bei Richelieu?
Geschickt gemacht! Eins der fünf magischen Wörter ist schon mal abgehakt.

viele Zusammenstoßgefahren mit Touristenköpfen“, murmelt er in seinen Bart und greift nach seinem Brustpanzer, der in der Garderobe am Haken hängt.

Hier mutest Du dem Leser zu viel zu. Das knirscht gewaltig. Zusammenstoßgefahren. Ein Wahnsinnswort.
Heilig’s Herrgöttle.

Der Verkehr ist wie immer gnadenlos laut, wohin man blickt, lenken Menschen ihre Autos hin und her, überall leuchten rote, gelbe oder weiße Lichter auf und das wütende Gehupe lässt Hugos Ohren zusammenschrumpfen.

O weia!


Naja gut, den Kopf muss er dazu schon ein wenig nach links oder rechts drehen, aber das ist ja wohl nicht zu viel verlangt.

Er wird ja auch belohnt dafür! Als Leser fühle ich mich hier nicht wohl. Ich habe das Gefühl, dass mir jemand beweisen muss, dass er Paris wie seine Hosentasche kennt. Aber um diesen Beweis antreten zu können, muss man andere Geschütze auffahren. Was ich hier erfahre, kann ich jedem Reiseführer entnehmen.
Du hast nicht nur um diese fünf willkürlichen Wörter herum etwas zusammengebastelt, sondern auch um Deine touristischen Evergreens, die mir als Leser die Lust vergällen. So beschreibt ein Provinzler „die Stadt der Liebe, die Stadt an der Seine“. Pardon.

die Stille danach, wenn die Worte im Kopf seines Zuhörers nachklingen,

Lapalie.


Two households, both alike in dignity,
In fair Verona, where we lay our scene ...“ hat sich der Herr auch noch ein Monokel vor sein linkes Auge geklemmt,

Also – das ist äußerst raffiniert! Du brillierst mit Deinen exzellenten Englischkenntnissen und bringst im selben Atemzug auch das Monokel noch unter. Toll.


„A pair of star-cross'd lovers take their life,
Whose misadventured piteous over-throws
Do with their death bury their parents' strife ...“
Mit gewichtiger Miene werden diese Sätze vorgetragen.

Von Dir.

Croque Monsieur

Ich war schon beunruhigt. Hätte ja sein können, dass Du die gar nicht erwähnst. Übrigens: Was ist mit Zwiebelsuppe und Froschschenkeln? Ach ja – die machen keine Krümel.

seit je her

seit jeher

Fertig. Ich kann nicht mehr. Für mich unvergessen bleiben die Robinianer und die gelungene Geschichte vom Elternmörder. Das hast Du klasse rübergebracht. Ich hoffe, wir bleiben Freunde.

Joséfelipe

Ps: Wie eine Taube / ein Täuberich mit baumelnden Beinen sitzen kann, ist mir ein Rätsel.

 

Hallo Joséfelipe,

danke für deine Kritik und die investierte Zeit. Schade, dass die Geschichte den Anschein eines "Nottextes" macht, ich habe die Worte nämlich nicht als Druck empfunden, also nach dem Motto "ich muss sie unbedingt einbauen", sondern hatte großen Spaß beim Schreiben.

Hier fehlt eindeutig die Motivation.
Hmm, eigentlich war ich sehr motiviert, nämlich dazu, einfach eine Geschichte zu erzählen. Ohne emotional tiefergehende Beweggründe, sondern einfach aus Spaß an der Geschichte. Aber ich verstehe, was du meinst.

In Paris kenne ich mich in der Tat gut aus, da ich schon zahlreiche Male da war, auch abseits "meiner touristischen Evergreens", aber Hugo sucht ja einen Zuhörer unter den Besuchern der Stadt und die größte Auswahl hat er da bei eben solchen "Evergreens". Aber vielleicht sollte ich das nochmal deutlicher machen, damit es nicht so rüberkommt, als wolle ich beweisen, dass ich die Stadt wie meine Hosentasche kenne, das ist nämlich nicht die Intention. Es soll ein Bild entstehen wie der kleine Hugo über die mächtige Achse Louvre-Tuileries-Concorde fliegt - mehr nicht :)

viele Zusammenstoßgefahren mit Touristenköpfen
Da hast du Recht, das holpert, das sehe ich mir nochmal an.

die Stille danach, wenn die Worte im Kopf seines Zuhörers nachklingen
Das formuliere ich auch noch ein bisschen schöner.

Das Croque Monsieur könnte ich natürlich weglassen. Aber ich finde es nicht schlimm. Simon ist ein Tourist in Paris und da gestehe ich ihm zu, dass er dieses Sandwich probiert.

Joséfelipe, gar kein Thema, ich finde Kritik gut.
RinaWu

p.s.: Hugo ist keine Taube. Hugo ist ein Robinianer. Daher kann er auch die Beine baumeln lassen. Mit den Tauben ist er nur befreundet, damit sie besagten Idioten auf dem Platz auf den Kopf scheißen können.

 

Hallo ihr Lieben,

kurz zur Erklärung, diese Geschichte entstand aus fünf Worten, die ein Freund spontan ausspuckte, als ich ihn darum bat.

Baum – Auto – Brustpanzer – Blumenwiese – Monokel

Ich habe mich daran erinnert, dass man so in der Schule gelernt hat, Geschichten zu erzählen und habe es einfach mal versucht :) Viel Spaß beim Lesen.


Hallo Rina,

herzlich Willkommen bei uns.

So am Rande noch:

Die Wörterbörse - 5 Wörter x-mal ausgespuckt ;)

Liebe Grüße
bernadette

 
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Hallo Bernadette,
danke für den Hinweis.
Ich habe ein paar Kleinigkeiten umgeschrieben und hoffe, die Geschichte ist nun runder.
Viele Grüße
RinaWu

 

Ich frage mich gerade, ob ich die Erklärung, wie diese Geschichte entstanden ist, lieber hätte weglassen sollen. Vielleicht hätte sie dann anders gewirkt. Notiz an mich für's nächste Mal: man muss nicht alles erklären :) Ich freue mich weiterhin auf eure Kritiken, das bringt mich echt weiter, vielen Dank.
RinaWu

 

Nein, sie müssen darüber berichten, in allen möglichen Zeitungen, bis schließlich sogar die Buchstaben ihrer eigenen Geschichte überdrüssig werden und am liebsten gelangweilt vom Papier stolzieren würden
Kann man nun wirklich nicht zu dieser kleinen Geschichte mit Geschichte behaupten,

liebe Mme. Wu,
und Hugo will mir wie ein entfernter Verwandter des Karlsson vom Dach erscheinen und wo diesen großen Geist nix störte, hat Hugo eine ähnliche Auffassung wie ich, der ich nicht alles wissen will (es raubte mir sonst die Nacht)

Man muss nicht alles verstehen und sich schon gar nicht über alles aufregen.
Erst recht nicht über ein paar Trivialitäten, wie Zeichensetzung, wie hier das Ende des Relativsatzes …
Die trampelten achtlos über die Blumenwiese, die damals noch den Baum umgab[,] und rupften alles aus dem Boden, …
… und hier, weil der je „übergeordnete Satz“ (Dudendeutsch) weitergeht
„Warum wollen die Menschen bei strahlendem Sonnenschein durch dunkle Gänge irren und uralte Gemälde, Skulpturen oder Steine anglotzen?“[,] rätselt Hugo … // „Wie heißt du?“[,] flüstert Hugo ihm ins Ohr.
Hier nun wäre der Punkt entbehrlich und doch das Komma wie zuvor nachzutragen
„Simon[…]“[,] denkt der Mann …
Hier wären vielleicht einzehige Gänsefüßchen sinnvoller, die wörtl. Rede innerhalb der wörtl. Rede wiederzugeben
„Nun, leider muss ich dich enttäuschen, mein Freund, … Ihr Tonfall war gemein, hinterlistig und schadenfroh: [‚]Ich habe Neuigkeiten für dich, Julien! Während du hier durch den Wald schleichst, amüsiert sich deine Frau mit einem anderen Mann. Sieh ruhig nach, sie liegen gerade in eurem Ehebett.[’] Die Worte krochen direkt… und tötete beide mit seinem Schwert.“

Und
immernoch
wird, soweit ich weiß, immer noch auseinandergeschrieben

Hier könn(t)e man gelegentlich den Konjunktiv nutzen

… und Hugo hatte alle Hände voll zu tun, ihr überzeugend und gleichzeitig unbemerkt einzutrichtern, dass sie sich dieses unfassbar winzige Gefäß nur eingebildet hatte.
„eingebildet habe/hätte“, je nach Grad des Zweifels, ähnlich hier
Nach einer Dreiviertelstunde – Simon hat es nicht eilig und bleibt ab und zu stehen, um sich zu fragen, wo er eigentlich gerade hinläuft – erreichen die beiden
(„wo er gerade hinlaufe/hinliefe“)

Hier würde ich gerne das Reflexivpronomen „sich“ empfehlen

Hugo sitzt auf einem der obersten Äste, lässt die Beine baumeln und blickt verträumt über den Platz unter ihm.

Aber nun eine schöne Beschreibung unserer schönen neuen Welt
Die Ruhe ist dahin und am Ende des Tages liegt ein ehemals idyllischer Ort zitternd im Schatten der Nacht – bedeckt von Coladosen und Chipstüten.

Das ist gut erzählt und ich wüsste nun wirklich nicht, warum Du den Ursprung der Geschichte nicht erwähnen solltest.

Gern gelesen vom müßiggehenden

Friedel

 

Ich frage mich gerade, ob ich die Erklärung, wie diese Geschichte entstanden ist, lieber hätte weglassen sollen. Vielleicht hätte sie dann anders gewirkt. Notiz an mich für's nächste Mal: man muss nicht alles erklären Ich freue mich weiterhin auf eure Kritiken, das bringt mich echt weiter, vielen Dank.

Liebe RinaWu,
als kleines Dankeschön für deinen Kommentar will ich dir auch einen schreiben. Ich finde es übrigens ziemlich wurscht, wie ein Text entstanden ist. Gearbeitet werden muss an ihm in aller Regel sowieso. Und dass du uns das erzählt hast, wie das war, das fand ich sehr liebenswert.
Aber warum denkst du nun, das hättest du besser gelassen? Falls du Angst hast, wir Kommentatoren würden jetzt mit Vorurteilen an den Text gehen, nee, das glaube ich nicht. Hat auch Felipe nicht gemacht. Seine Kritik bezieht sich zwar sehr eng auf die Entstehung, aber sie ist ja auch inhaltlicher Natur.
Also: Ich denke nicht, dass wir Kommentatoren uns jetzt so sehr von der Entstehungsgeschichte eines Textes beeinflussen lassen, falls das deine Befürchtung ist.

Zu deiner Geschichte. Die Idee ist wirklich sehr nett. Hab mir insgeheim auch einen kleinen Robinianer gewünscht. Und schön schreiben kannst du eh.
Inhaltlich hab ich aber ein Problem. Die Geschichte zerfasert mir etwas zu sehr.
Da sind schon sehr sehr viele Beschreibungen drin zum einen. Und dann hab ich ein bisschen gebraucht, bis ich gemerkt hab, dass der Hugo ein Robinianer ist und kein Mensch.

Ich fänd deine Geschichte ganz cool als alternative Art einer Reise- oder Ortsbeschreibung. Wenn man durch eine kleine Geschichte den besonderen Zauber eines Platzes oder Parks oder wie bei dir eben des Square René-Viviani kennenlernen darf. Eines Ortes, der eben außerhalb der Touristenzüge liegt. Dafür finde ich es atmosphärisch und schön. Und dann eben auch das Straßentheater dazu. Man lernt dann einen Platz eben durch die Äuglein eines Hugo und seiner traumentführten "Opfer" kennen. Und das gefällt mir außerordentlich gut. Das ginge dann so in die Richtung, eine Stadt positiv für Leser sichtbar zu machen. Ob du da jedes Detail deiner Beschreibungen brauhst, weiß ich nicht, das übersehe ich grad nicht. Ich denke, du solltest auch da nochmal mit kritischem Blick drüber gehen.
Niedlich fand ich übrigens die Beschreibung, wie der Hugo sich an den Simon ranpirscht. Und vorher auch, wie er imit Worten und Lautstärke haushalten muss, damit er die Menschen nicht versehentlich verschreckt. Das ist hübsch.

Aber jetzt als Kurzgeschichte im Sinne von einer spannungsgeladenen Atmosphäre (Spannung nicht zu verstehen als Thriller oder so) mit Widerständen, die eine Person durchlaufen muss, finde ich es zu zerfasert und zu ausladend und zu unzusammenhängend. Das sind alles Handlungssträge, die laufen parallel, verknüpfen sich aber nicht. Und das bräuchte es bei einer Kurzgeschichte.
Da fände ich einen Handlungsstrang besser. Würde zum Beispiel das Straßentheater rausschmeißen (auch wenn da eines von den Wörtern vorkam) und irgendwie eine Aufgabe reinbringen, die der Hugo erfüllen muss, warum muss er Leute auf den Platz schaffen. Irgendwas muss wichtig sein daran, dass er den Simon herlockt. Die Geschichte, die er dann erzählt müsste dann auch verbundener sein mit dem Rest. Ich hoffe, ich mach mich hier verständlich. Wenn nicht, frag einfach noch mal.
Und das alles hätte ich dir übrigens gesagt, ob ich nun den Ursprung deines Textes kenne oder nicht.

Zu der Kreativitätsaufgabe wollte ich noch sagen: Ich finde das als Anstoß eine Supersache. Ich hab das auch schon ausprobiert und war überrascht, wohin einen das so führt. Es befreit den Kopf, man achtet nicht immer darauf, ob dies oder jenes denn stimmt, sondern schreibt einfach mal drauflos. Manchmal entstehen dann Texte, die sind schon gleich wunderbar. Und manchmal muss man nachtarieren. Und dann vielleicht eben auch einen Handlungsstrang wegkürzen. Oder kommt eben auf die Idee, Lieblingsorte auf diese Weise zu illustrieren. Das wär dann keine klassische Kurzgeschichte mehr, aber trotzdem ein schöner Text.

Liebe RinaWu, gern gelesen.
Bis denn
Novak

 

Ach, ich mag dieses Forum wirklich! Die Kommentare von euch bringen mich echt weiter, man betrachtet seinen Text ganz anders und am Schluss wird er tatsächlich viel runder. Das ist toll! Ich lerne hier viel dazu und es macht richtig Spaß. Da ich selbst auch schon ein paar Geschichten kommentiert habe, weiß ich, dass das echt Zeit braucht, daher vielen Dank an euch, dass ihr euch die Zeit nehmt!

Lieber Friedel, danke für deine Verbesserungen. Du bist immer sehr aufmerksam, das ist super. Man man man, an meiner Kommasetzung muss ich wirklich arbeiten. Das wird alles korrigiert. Es freut mich außerdem sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat.

Liebe Novak, ich verstehe total, was du meinst mit "zerfasert". Ich habe hier einfach drauf los geschrieben und ehrlich gesagt an keine Regeln der Kurzgeschichte gedacht. Ich wollte einfach etwas erzählen und eine Geschichte schreiben, die man entspannt und schmunzelnd liest und mit einem positiven Gefühl beendet. Um sie als Kurzgeschichte stimmiger zu machen, habe ich schon überlegt, dass Hugo und seine Kollegen vielleicht Zuhörer "ranschaffen" müssen, damit Madame Robine weiterlebt. Dass sie Energie zieht aus den Berührungen der Menschen, die einen Wunsch bei ihr lassen. So wäre die Dringlichkeit mehr gegeben, warum die kleinen Beschützer jeden Tag auf's Neue durch Paris fliegen müssen. Und dann würde ich das Straßentheater in der Tat weglassen. Das überlege ich mir heute Abend mal genauer. Aber danke für diesen Denkanstoß! Als nächstes arbeite ich an einer Gruselgeschichte, da bin ich mal auf deine Meinung gespannt :)

Ich wünsche euch noch einen schönen Nachmittag,
liebe Grüße
RinaWu

 

Ich habe mir Gedanken gemacht, liebe Novak, und ich finde die Idee, meine Geschichte, als eine alternative Reiseempfehlung zu gestalten, wirklich schön. Ist mir so noch gar nicht in den Sinn gekommen. Dann macht es auch mehr Sinn, dass sie ein wenig vor sich hinplätschert und keine große Spannung aufbaut.

Mein neuer Titelvorschlag wäre dann Hugos kleine Reiseempfehlung :)

Liebe Grüße
RinaWu

 

Hi RinaWu,


Hugo sitzt auf einem der obersten Äste, lässt die Beine baumeln und sieht sich verträumt auf dem unter ihm liegenden Platz um.
wieso nicht: und sieht verträumt herunter/ nach unten auf den Platz - klänge weniger kompliziert

Theoretisch könntest du auch Satz 1 und 2 tauschen, das fände ich schöner:
Paris schläft noch. Hugo sitzt auf einem der obersten Äste, lässt die Beine baumeln und sieht sich verträumt herunter auf den Platz.

Ich schließe mich mal Novaks Meinung an, wenn sie sagt:

Inhaltlich hab ich aber ein Problem. Die Geschichte zerfasert mir etwas zu sehr.
Das ging mir auch so. Ich finde es auch egal, wie eine Geschichte entstanden ist, ich messe sie einfach daran, ob ich sie lesenswert finde oder nicht.

Ich finde, du kannst gut schreiben. Also ich habe das runtergelesen und mich von deiner Sprache treiben lassen, das war nicht das Problem. Aber ja, wie Novak bereits sagt: Der Inhalt zerfasert. Um was geht es da eigentlich? Doch eigentlich um die Robinianer. Darauf solltest du dich konzentrieren. Ich finde, der ganze Text müsste noch stark gestrafft werden, vllt um 1/3 oder 1/4 gekürzt, der Einstieg am Anfang sollte wesentlich kürzer sein, dass man gleich bei den Robinianern ist und nicht noch drei Seiten lang etwas über die Landschaft und Pariser Touristen liest. Das ist wirklich eine tolle Idee mit den Robinianer, wirklich, dass sie den Leuten in die Gedanken flüstern und sowas - mach daraus was! Lass das mit den fünf Wörtern weg in deiner zweiten Fassung, das ist Quatsch, das hat dich vllt auf die gute Idee mit den Robinianern gebracht, aber in einer überarbeiteten Fassung würde ich das vergessen. Also da ist noch sehr viel Füllmaterial meiner Meinung nach drin, einfach Absätze, Beobachtungen etc., die die Erzählung nicht bräuchte. Und wenn du dich dann auf die Robinianer konzentrierst, fange gleich mit ihnen an, erzähle gleich am Anfang, was sie so machen und wer sie sind, das wird die Leser fesseln und zum Weiterlesen antreiben - und dann brauchst du noch eine gute Idee, welches Abenteuer sie erleben könnten. Das, dass sie sich auf die Schulter eines Träumers setzen und dann noch einmal eine andere Geschichte erzählen, das halte ich für verschwendetes Potential. Lass sie irgendetwas anstellen, etwas erleben, ihr Baum soll gefällt werden und sie versuchen durch Gedankenbeeinflussung das zu verhindern, irgendwie sowas! Dann fände ich deine Geschichte sehr lesenswert.

Also: Die Grundidee der Robinianer halte ich für sehr gut, sprachlich bist du auch auf sicherem Terrain, bloß die "Zerfaserung" des Inhaltes stört, da werden über verschiedene Themenblöcke erzählt: Paris, Touristen, Robinianer, der Typ, der seine Eltern umbringt. Entscheide dich für ein Thema, und dann mach dich an die Version zwei. Immer nur eine Geschichte erzählen, nicht zwei, drei gleichzeitig, da denkt sich sonst der Leser: Um was geht es hier eigentlich? Was will mir der Erzähler erzählen?

Du bist auf einem guten Weg, bleib am Ball.

Viele Grüße,
zigga

 

Hallo Zigga,

danke für deine Meinung. Ich finde deinen Vorschlag, die Zerfaserung zu entfernen/bereinigen, gerechtfertigt. Dennoch werde ich das wohl eher nicht tun. Ich erkläre dir auch warum: Ich habe mich mit Novaks Idee, meinen Text als eine Art Reiseempfehlung/-bericht zu gestalten/verkaufen, beschäftigt und finde sie sehr cool. Das liegt nicht daran, dass ich zu faul bin, die Geschichte zu ändern oder an ihr zu arbeiten. Das werde ich sowieso noch einmal tun und mich dabei auch nicht auf die fünf Wörter konzentrieren. Sondern viel eher, dass ich mich beim Erzählen eben nicht hauptsächlich auf die Robinianer konzentrieren wollte, sondern vor allem auf den Ort, den sie beschützen. Vielleicht habe ich hier tatsächlich eher eine Ortsbeschreibung ausgestaltet und keine Kurzgeschichte geschrieben. Und zu diesem Ort gehört die Beschreibung der Umgebung, die Geschichte mit dem Familienmörder und auch das Straßentheater. Ich finde die Kritik mit der Zerfaserung durchaus angemessen, dennoch habe ich hier vielleicht einfach beschlossen, aus meinem Text keine klassische Kurzgeschichte zu machen, sondern einen dahinplätschernden Text, der den Leser kurz nach Paris entführt und dann wieder in den Alltag entlässt. Die Beschreibungen prüfe ich aber auf Kürzungsmöglichkeiten!

Theoretisch könntest du auch Satz 1 und 2 tauschen, das fände ich schöner:
Da gebe ich dir recht, habe ich geändert, liest sich echt schöner.

Also ich habe das runtergelesen und mich von deiner Sprache treiben lassen
Das war mein Hauptanliegen mit diesem Text und freut mich sehr.

Die Grundidee der Robinianer halte ich für sehr gut, sprachlich bist du auch auf sicherem Terrain, bloß die "Zerfaserung" des Inhaltes stört, da werden über verschiedene Themenblöcke erzählt: Paris, Touristen, Robinianer, der Typ, der seine Eltern umbringt. Entscheide dich für ein Thema
Wie gesagt, ich verstehe dich und werde da am Wochenende nochmal drüber nachdenken, aber ein Thema habe ich: Den Platz. Hier leben die Robinianer, sollen ihn beschützen, hierher locken sie Touristen, Julien - der Elternmörder - gab der Kirche dieses Platzes seinen Namen und hier treffen sich (tatsächlich!) mehrfach die Woche Schauspieler und führen Shakespeare-Stücke vor. Ich gehe dennoch mal in mich und überlege, was ich draus mache.

Lieben Dank und viele Grüße
RinaWu

 

Hallo zusammen,

ich habe nun Antrag auf Titeländerung gestellt, meine Geschichte soll nun "Hugos kleine Reiseempfehlung" heißen (vielen Dank für deine Hilfe, Novak!). Ich bin nämlich noch einmal in mich gegangen, habe einige Dinge anders formuliert und den Seitenstrang mit den Straßenschauspielern weggekürzt und finde die Geschichte nun persönlich auch runder. Vielen Dank für die Tipps und Vorschläge. Ich hoffe, so liest es sich besser.

RinaWu

 

Bon jour, Mme. Wu!

Ich noch mal – und was zuerst auffällt, als ich alte (vom 05.05.2015 um 21:18 Uhr) und neue Fassung (21.05.2015 um 16:58 Uhr) gegenüberstell, die Kürzung – und tatsächlich, behaupte ich mal, dass niemand Romeo und Julia in Paris vermissen werde, selbst wenn ich mich daran erinner (ich erzähl's aber nicht weiter, versprochen!).

Keine bange, mir gefällt die Geschichte. Die Kürzungen, Umstellungen sind in Ordnung, sie verlaufen i. d. R., wie’s an den ersten Sätzen praktiziert wird, statt

Hugo sitzt auf einem der obersten Äste, lässt die Beine baumeln und blickt verträumt über den Platz unter ihm. Paris schläft noch
heißt es nun
Paris schläft noch. Hugo sitzt auf einem der obersten Äste, lässt die Beine baumeln und sieht verträumt auf den Platz hinunter

Manchmal sind sie geradezu unauffällig, wenn wie hier der bestimmte Artikel (alt)
Der kräftige Geruch von Kaffee steigt Hugo in die Nase
durch den unbestimmten
Ein kräftiger Kaffeeduft steigt Hugo in die Nase.
ersetzt wird.

Aber kurios: Auf eine nicht geänderte Passage muss ich dann doch zurückkommen wegen eines lumpigen Kommas zwischen den Infinitiven, und zwar bei diesem Satz

So lernte das kleine Volk der Robinianer, dass sie dafür sorgen sollten, die Geschichte dieses Ortes zu bewahren, gute Menschen hierher zu führen, um sie daran teilhaben zu lassen[,] und schlechte Menschen fern zu halten.
kurz
... zu bewahren, … hierher zu führen, um … teilhaben zu lassen und … fern zu halten.

Die Konjunktion „und“ täuscht den flüchtigen Betrachter, dass Teilhabe und Fernhalten bloße Aufzählung seien - was sie auch wären, wenn „Menschen“ eben nur als Gattungsbegriff aufgeführt und nicht in gut und schlecht differenziert würden. Dann hättestu aber auch das „und“ durch ein „oder“ ersetzen müssen …, denn so bleibt die Teilhabe den "guten" Menschen vorbehalten.

„Ach du Scheiße“, murmelt Simon
klingt mir in der gemäßigten, stillen Form heute durch die Wandlung zu
„Ach du Scheiße“, platzt es aus Simon heraus
eher als als Ausruf!

Auf jeden Fall:

Gern gelesen vom

Friedel,
der vorsorglich frohe Pfingsten wünscht!

 

Hallo lieber Friedel,

vielen Dank, dass du beide Versionen miteinander verglichen hast und dass die Änderungen für dich funktionieren. Schande über mein Haupt, das fehlende Komma habe ich sofort ergänzt.
Ja, richtig, ich dachte mir "Ach du Scheiße" ist doch eher ein Ausruf, als ein Murmeln, daher die Wandlung. Ich habe ein Ausrufezeichen ergänzt - das passt ganz gut zum Ausruf :)

Dir auch frohe Pfingsten!
Viele Grüße
RinaWu

 

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