Was ist neu

Alioscha

Seniors
Beitritt
20.10.2002
Beiträge
2.656
Zuletzt bearbeitet:

Alioscha

Mein Bruder sagte, der Junge heiße Alioscha. Ich selbst habe ihn nicht gefragt. Er war zehn Jahre alt, schon fast erwachsen, dachte ich damals. Ich war fünf, beinahe sechs und würde im Herbst in die Schule kommen.
Mein Bruder hieß Marcus und war drei Jahre älter als ich. Aber manchmal nahmen mich er und sein Freund Flo sogar schon zum Spielen mit, zum alten Baumhaus und an den Bach.

Alioscha hatte einen Hund. Ich weiß nicht, ob der überhaupt einen Namen hatte, denn Alioscha rief ihn immer nur „Hund“. Eigentlich ist „Rufen“ das verkehrte Wort, er schrie. Hund war riesig, aber sehr dünn. Seine Haare waren zottelig und voller Kletten. Ich glaube, er hatte eigentlich helles Fell, aber er war immer schmutzig. Ein Strick war um seinen Hals gebunden, dort, wo der kleine Mischling von der anderen Straßenseite ein rotes Halsband hatte.

Einmal begegnete ich den beiden auf der Straße, Hund und Alioscha. Hund hinkte. „Warum hinkt dein Hund?“, fragte ich. Ich weiß nicht, woher ich damals den Mut nahm, denn ich hatte Angst vor ihm.
Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen. „Ich übe Messerwerfen und treffe schon auf den Meter genau. Soll ich es dir zeigen?“ Er zog ein Messer aus der Hosentasche, eins zum Klappen und schaute mich fast freundlich an.
Ich schüttelte nur den Kopf, blickte auf Hund, der sich hingesetzt hatte, um sein Hinterbein zu lecken.
„Dann nicht.“ Er zuckte gleichgültig die Schultern und ging an mir vorbei. Hund stand auf und sah mich an. Er kam vorsichtig auf mich zu, stellte die Ohren auf. Alioscha drehte sich um. „Komm sofort her!“, brüllte er, und schlug Hund, als der mit eingezogenem Schwanz bei ihm angekommen war, den Strick über die Schnauze. „Du tust ihm weh“, wollte ich sagen, aber ich konnte nicht.
Ich sah zu, wie er Hund an dem Seil hinter sich herzog und zwischen den Häusern verschwand.

Am Abend erzählte ich Marcus davon. Er sagte, ich solle nicht mit Alioscha reden, und Hund sei furchtbar böse. „Aber er hat so liebe Augen“, sagte ich.
Meinen Eltern sagte ich nicht, was ich am Nachmittag gesehen hatte.

Die Mutter von Alioscha war eine große Frau, die immer ganz bunte Kleider und Röcke trug und im Gesicht geschminkt war, wie an Fasching. Ich kann mich an ihre hohe Stimme erinnern, und daran, dass ich es nicht mochte, wenn sie lachte. Das Lachen war einfach ein schrilles Geräusch, spitz und laut. Aber ihre Augen blickten dabei nicht fröhlich. Alioscha hatte auch einen Vater, bestimmt, denn jeder Mensch hat einen Vater. Aber ich habe ihn nie gesehen. Marcus meinte, dass er vielleicht böse war und ins Gefängnis musste, aber das glaubte ich nicht. Ich war sicher, dass er nur auf einer Reise war oder im Krankenhaus, weil er sich weh getan hatte. Oder er war davongelaufen und wohnte woanders, weil er das Lachen von Alioschas Mutter auch nicht mochte.

Ein paar Wochen, nachdem ich Alioscha und Hund auf der Straße getroffen hatte, spielte ich mit Elli, meiner besten Freundin aus dem Kindergarten und ihrem Bären Momo vor der Haustüre. Elli war fast so alt wie ich, und wir wohnten beinahe nebeneinander. Momo war ein großer brauner Teddy, der mir bis zum Bauch reichte. Wir hatten ihm ein gelbes Halstuch von Elli umgebunden, mit grünen Fröschen drauf. Es passte gut zu Momos braunem Fell. Und dann war da noch Funny, die junge, schwarze Katze unseres Nachbarn. Sie lag auf dem Fußabstreifer vor dem Haus in der Sonne. Ihr Fell glänzte wunderschön. Sie sah uns beim Spielen zu, und sie schnurrte, wenn Elli oder ich sie streichelten.

Irgendwann kam Alioscha um die Ecke, mit Hund. Die Pfote von Hund war in einen Streifen Stoff eingebunden, der bestimmt einmal weiß gewesen war, denn ein Verband ist immer weiß. Er hinkte aber fast nicht mehr, und ich freute mich.

Offenbar war Alioscha an dem Tag sehr zornig, denn er fluchte laut. Hund schlich hinter ihm her, der Strick um seinen Hals war sehr eng zugezogen. Als Alioscha uns sah, blieb er stehen. Sein Gesicht verzog sich, und er ließ das Ende des Seils los, das er bis dahin in der Faust gehalten hatte. „Fass!“, brüllte er Hund an, und trat ihm mit seinen Turnschuhen in den Bauch, als er sich nicht rührte. Er zeigte auf uns und schrie erneut.
Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nur Hund ansehen, der sich auf uns zu bewegte. Hund mit den schönen, schwarzen Augen. „Hund ist böse!“, hatte Marcus gesagt, und ich hatte ihm nicht geglaubt. Jetzt lief er auf uns zu und knurrte.

Funny flitzte an uns vorbei, ihr seidiges Fell war gesträubt und aufgeplustert.
Als Hund sie eingeholt hatte, schrie sie auf.
Endlich konnte ich mich bewegen und sah zu Elli. Sie hatte Momo an sich gedrückt und starrte zu Alioscha, mit weit aufgerissenen Augen und ohne einen Laut von sich zu geben. Ich stürzte zur Haustüre und läutete, solange, bis meine Mutter endlich die Türe aufriss.

Ich brauchte nichts zu sagen. Ich konnte auch nichts sagen.
Alioscha hatte Hund inzwischen von Funny weggezerrt, und die beiden waren weggerannt. Alles, was noch da war, war der stumme Körper von Funny.
Sie lag in einer roten Lache, und das schöne schwarze Fell war von dunklem Blut verschmiert. Ihr Ohr war eingerissen, und ihre Hinterbeine lagen seltsam verdreht auf dem Boden, als ob sie nicht zu dem Körper gehörten. Funnys Augen waren weit aufgerissen. Sie hatten eine wunderschöne, goldene Farbe, aber in dem Moment waren sie furchtbar.
Ich konnte nicht mehr hinblicken. Mutter schickte Elli und mich ins Haus. Elli hatte irgendwann wohl Momo fallengelassen, denn sie hob ihn vom Boden auf, bevor wir die Haustüre hinter uns zuzogen.

Was dann passiert ist, habe ich nicht mitbekommen. Ich weiß nur, dass meine Mutter am Abend sehr zornig gewesen ist und traurig.
Am nächsten Tag hat sie mich bei der Hand genommen und wir sind zu unserem Nachbarn gegangen. Dort haben wir alle zusammen Funny im Garten begraben. Ich musste immer wieder an sie denken, und wie schön es war, sie zu streicheln und ihr weiches Fell zu spüren. Der Nachbar hat geweint. Ein Erwachsener, der weint. Ich glaube, ich habe auch geweint.

Alioscha ist mit Hund und seiner Mutter etwa ein halbes Jahr später ausgezogen. Das weiß ich so genau, weil er uns, am Tag, bevor er gegangen ist, die Schneeburg kaputt gemacht hat. Daran hatten wir fast drei Tage gebaut, und ich war sehr wütend auf ihn.

Die Familie, die in das Haus neu eingezogen ist, hat ein Kaninchen, hat Elli mir erzählt. Sie hat es im Garten gesehen, als ein Junge mit ihm gespielt hat. Morgen nachmittag werden wir hingehen, um zu fragen, ob wir mitspielen dürfen.

 

Hallo Gregor!

Danke fürs Lesen und das große Lob! Es freut mich total, dass diese Geschichte lebendig wirkt und gefällt...

schöne Grüße
Anne

 

hi Maus,
zur Geschichte an sich: sie gefällt mir. Warum muß ich nicht weiter ausführen, das meiste ist oben bereits von anderen genannt.

Einzige Anmerkung meinerseits:

"(...) dachte ich damals. Ich war fünf, beinahe sechs (...)"

"Manches ist allerdings auch so gewollt, dass es naiv und unsicher klingt, da die Prot ja erst 5 ist und aus ihrer Sicht erzählt."

Dann solltest du die oben genannte Stelle aus der Geschichte abändern, denn man bekommt dadurch durchaus den Eindruck, sie wäre bereits um längen älter, wenn nicht sogar erwachsen, als sie davon erzählt. Dazu wiederum passt aber dann die kindliche Sprache nicht.

Liebe Grüße,

Thresenfee

 

Hallo Illu und Theresenfee!

Danke, Fehler is raus. ;)

Vielen Dank fürs Lob, ich hab mich sehr gefreut ... :bounce:

@Theresenfee: Der letzte Absatz der Geschihchte ist im Präsens geschrieben, da ist die Prot 6 1/2.
Von der Sicht aus kann sie durchaus von "damals" (ein halbes Jahr früher) sprechen ... oder missverstee ich Dich da jetzt? Ich kann Deine Anmerkung nämlich leider nicht ganz einordnen ...

liebe Grüße
Anne

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom