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Allein in der Nacht
Ein eisiger Luftstoß streifte ihren Nacken, ließ sie aufschrecken. Gerade hatte sie sich einen Moment lang entspannt, hatte sie ihrem Körper nach all der Anstrengung nur eine Sekunde lang erlaubt, sich nicht mehr auf jedes Geräusch und jedes Anzeichen von Gefahr zu konzentrieren. Aber ihr wurde keine Pause gegönnt und das Adrenalin schoss erneut ins Blut, ließ sie wieder aufmerksam lauschen, mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starren, die ihr doch kein Zeichen der Entwarnung gönnte.
Resignierend richtete sie sich wieder auf. Ihre sorgfältig geflochtenen Zöpfe verfingen sich in den unteren Ästen der riesigen Eiche, an die sie sich zuvor gelehnt hatte, und sie quiekte bei dem Versuch, sich zu befreien. Trotzig stampfte sie mit dem Fuß auf den feuchten Waldboden, doch natürlich reagierte niemand darauf. Wer auch. Es war niemand hier außer ihr, das hatte sie in den letzten Tagen, vielleicht auch Wochen, herausgefunden, hatte sie doch nichts als das Echo ihrer verzweifelten Schreie und Wutausbrüche vernommen. Dieser Ort war selbst für die Tiere zu unheimlich, hatte sie festgestellt, doch jetzt, wo es wieder Nacht war, war sie sich auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob sie tatsächlich allein war. Natürlich, an die vielen Schatten, die das Mondlicht zeichnete, die Bäume, die sich über sie beugten als wollten sie sie verschlingen, an das Rascheln des toten Laubes unter ihren Füßen, hatte sie sich längst gewöhnt, aber seit ein paar Nächten fühlte sie, als begleite sie etwas, schwebte über ihr und beobachtete sie.
Heute war es näher als sonst, bedrängte sie von allen Seiten. Panisch begann sie zu laufen, ziellos, sich immer wieder umdrehend. So hatte sie nur an den ersten paar Tagen auf ihre Angst reagiert, fraß eine Flucht ins Leere schließlich so viel ihrer kostbaren Energie, doch jetzt war ihr das alles egal. Sie stolperte los, über den unebenen Waldboden, die hohen Baumwurzeln, die ihr den Weg erschweren wollten. Dornen schnitten ihre nackten Beine, aber es wollte sie einfach nicht verlassen, glitt lautlos mit ihr durch die Nacht.
Entkräftet und außer Atem blieb sie stehen. Sie fühlte sich schrecklich machtlos und Wut stieg in ihr hoch. Egal, ob sie jemand hören würde oder nicht, ob es Zeitverschwendung war, ob sie sich selbst damit in den Wahnsinn treiben würde, es musste raus. Ihre Fäuste ballten sich, sie legte den Kopf leicht in den Nacken und öffnete den Mund, setzte zum Schrei an, aber was war nun los? Plötzlich war es in ihr!
Kein Ton kam jetzt über ihre Lippen und ihre großen Kulleraugen füllten sich mit Tränen. Das hatte sie nicht verdient. Die Wut kochte noch immer in ihr, doch auf einmal bemerkte sie, wie sie die Kontrolle über ihren Körper langsam verlor, oder eher abgab, denn sie wollte sich gar nicht dagegen wehren. Es war ein erleichterndes Gefühl und sie fühlte sich geborgen, als sei sie endlich angekommen. Nur noch ein kurzes Lächeln blitzte auf ihren Lippen, dann gab sie sich von Wärme erfüllt ganz hin. Sie war zu Hause.
Ziel gerichtet fuhren ihre Hände den Körper hinauf bis zum Hals. Mit sicheren Fingern tastete sie ihn ab, spreizte schließlich die Finger und bohrte die Nägel in ihr Fleisch, so dass das Blut pulsierend herausspritzte. Tiefer und tiefer gruben sie sich hinein und es gab keinen Schmerz der sie aufhalten konnte.
Sanft glitt ihr blasser Körper zu Boden. Seine Aufgabe war erfüllt und der Gast schlich sich lautlos wie er gekommen war zurück in die Nacht.