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- Anmerkungen zum Text
Als wir uns verloren [3]: Roter Schnee
Ich sah hinüber zum Kradmelder, der in einer Art betenden Position seitwärts vom Sattel rutschen wollte, aber mitten in der Bewegung von einer unsichtbaren Kraft festgehalten wurde. Die Felgen zur Hälfte von verwehtem Schnee bedeckt, die Reifen luftleer, Eiskristalle an Lenker und Auspuffkrümmer.
»Um den zu begraben, müssen wir auf den Frühling warten«, erklärte Dangson und rüttelte am Stahlhelm des Melders. »Festgefroren. Na, so was!«
Er beugte sich hinab, musterte genau das Gesicht des Toten.
»Sag mal, Hannes, wenn man erfriert, geht die Augenfarbe nicht verloren … oder?«
Ich saß auf dem noch warmen Motorendeck des Sturmgeschützes und schnitt mit dem Bajonett kleine Fetzen vom Bauchspeck, den wir einem Partisanen abgenommen hatten. Die Eiseskälte sorgte dafür, dass nichts roch. Weder der Speck, noch der tote Melder. Alles war gefroren. Vorsichtig schob ich ein paar der Stücke in den Mund und taute sie dort auf. Dangson kam her und kletterte zu mir hoch.
»Gib mir auch mal von dem toten Schwein.«
Ich reichte ihm Speck und Bajonett.
»Sigurd, manchmal denke ich, du bist kälter als der russische Winter es jemals sein kann.«
Er schliff das Bajonett am blanken Stahl des Aufbaus, bis er, zufrieden mit der Schärfe, den Speck in dünne Lagen schnitt und mir einige auf die Hand gab.
»Hier! Iss das!«, er musterte mich kurz und schnitt weiter. »Ich bin der beste Fahrer in der Abteilung, Franz der erfahrenste Kommandant, und du der beste Richtschütze. Deshalb sind wir noch am Leben. Wären alle wie wir, läge Moskau schon hinter uns, der Iwan auf der Flucht in den Weiten Sibiriens. In diesem verfluchten Land muss man kalt sein. Du machst dir da falsche Hoffnungen, Hannes …«, er griff in seinen Umhang, zog eine braune Flasche hervor und gab sie mir. »Trink davon. Das macht es einfacher.«
Ich genehmigte mir einen ausgiebigen Schluck. Der Partisanenwodka schmeckte ausgezeichnet, weich, und er tat genau das, was Dangson versprach, meine Stimmung in ein Meer aus Gleichgültigkeit zu tauchen. Nach einem weiteren Schluck gab ich ihm die Flasche zurück und aß wieder vom Speck. Dangson strich das Bajonett an seinem Umhang sauber, nahm mir die Flasche ab, trank einiges und lehnte sich an den Aufbau.
»Weißt du, Hannes, diese Partisanen waren wirklich gut ausgerüstet. Wodka, Speck, Brot und gesalzener Fisch, ein Haufen Munition und Handgranaten. Die hatten bestimmt eine größere Aktion vor.«
»Vermutlich. Die dritte Partisanengruppe in zwei Tagen, und bei allen bekam ich den Eindruck, sie wüssten genau, was zu tun sei.«
»Nun ja nicht mehr. Sie hängen steif an den Bäumen und geben gutes Futter ab für die Wölfe.«
Ich nickte und zog den grauen Umhang vor meinen Mund. Der Tod und Dangson waren beste Freunde, Kameraden aus Gesinnung, Überzeugungstäter. Ich machte mir Sorgen um mich selbst, denn ich spürte die Gleichgültigkeit wie eine Flut heranrollen. Nichts und niemand schien in der Lage zu sein, sie aufzuhalten. Es knackte und tickte unter unseren Hintern. Das Metall gab Spannungsgeräusche von sich. Es wurde langsam kälter. Die Nacht kam.
Wir lagen drei Kilometer südlich von Moschaisk, zur Hälfte im Schnee vergraben, am Rande eines breiten Birkenwaldstreifens, der sich kilometerweit entlang eines Entwässerungsgrabens zog. Die Rohre nach Osten ausgerichtet, hin zu einer weiten, offenen Fläche, auf der sich Wiesen und strauchige Raine abwechselten. Der Boden war tief gefroren, zerfurcht von hunderten kleinen Gräben. Zwischen den Panzern, eingegraben, so gut es ging, die Maschinengewehrnester der Infanterie, ausgekleidet mit allerlei Gestrüpp. Entfernte man sich nur dreißig Meter von unseren Stellungen, waren sie nicht mehr zu erkennen. Seit dem Nikolaustag lief der russische Gegenangriff mit unverminderter Heftigkeit. Man verlegte uns mit der Infanterie in eine Auffangstellung, und seit gestern Nachmittag herrschte Ruhe. Die aufkommende Dämmerung verschluckte nach und nach den steifgefrorenen Kradmelder. Niemand versuchte, ihn von dort wegzubekommen. Ich stieg vom Motorendeck herunter und kontrollierte die Munitionskisten, den Carbidbrenner unter der Motorwanne, dann stapfte ich in den Unterstand. Die Pioniere hatten ein enormes Loch in den Boden gesprengt, es mit Gestrüpp und darüber mit Eisenbahnbohlen ausgelegt, über alles ein notdürftiges Dach gezogen, so dass man fast von einem gemütlichen Fleckchen sprechen konnte. Ich suchte mir einen freien Platz und legte mich hin. Die Meisten schliefen, einige spielten Skat. Ich dachte an Erika, daran, ob mein Urlaubsantrag wohl Erfolg haben würde, dann schlief ich ein.
Franz rüttelte mich aus dem Halbschlaf, aus einem Wust an Bildern, die wie dunkle Waggons durch meine Träume zogen. Nürnberg! So weit weg am Horizont … und Erika, die zwischen Daumen und Zeigefinger etwas hielt, das ich nicht erkennen konnte; lediglich der erfrorene Kradmelder, an dem sie lehnte, kam mir bekannt vor. Und er lebte. Mit der aschfahlen Hand griff er nach Erikas Kehle. Ich schrie und streckte meine Faust nach ihm aus, aber ich kam beiden nicht näher. Auf Teufel komm raus nicht! Erika!, rief ich voller Verzweiflung. Franz schlug mir eine runter.
»Was ist denn los?«
Er riss an mir, schüttelte mich wie einen Apfelbaum.
»Wach auf, Hannes! Ich bin’s, Franz!«
Mit dem Fäustling rieb ich mir das Gesicht, wieder und wieder.
»Erika ist in Nürnberg und wartet auf dich. Bald hast du Urlaub. Nur noch ein paar Tage. Bestimmt lassen sie dich gehen.«
»Meinst du?«
»Klar. Ich hab das im Urin. Und jetzt steh auf.«
»Warum? Wie spät ist es?«
»Drei Uhr.«
»Drei Uhr? Warum so früh?«
Ich kannte Franz seit Jahren, und wusste, wann es für ihn ernst wurde.
»Meinst du, es geht wieder los?«
Er nickte kaum sichtbar.
»Das meine ich.«
»Ist gut. Gib mir noch eine Minute.«
Mein Schritt durch den schweren Vorhang hinaus in die Nacht war wie das Überwechseln in eine eisgraue Vorwelt. Der Schnee war hochgefroren, knirschte unter den russischen Fellstiefeln. Kappler, der Abteilungsführer, tauchte aus dem Dunkel auf. Er rauchte in eine leere Konserve hinein.
»Widmann«, flüsterte er, »was ist denn los? Können Sie nicht schlafen?«
»Franz hat mich geweckt. Er meinte, es ginge los.«
»Meint er?«
Ich entgegnete nichts, schlug dafür den Umhang enger um mich und zog die Fellmütze tief ins Gesicht. Kappler ließ Zigarette und Konserve fallen, bedeckte beides mit etwas Schnee.
»Na gut. Wenn Franz meint, es ginge los, dann wird es auch losgehen. Ich wecke die Abteilung. Seht zu, dass man den Carbidbrenner nicht sieht, und macht euch bereit.«
Er verschwand im Unterstand. Ich zog die Luft ein und stapfte los, vorbei an den provisorischen MG-Nestern, Infanteristen, die Wache hielten, und abgedeckten Panzern. Als ich unser Sturmgeschütz erreichte, sah ich Sigurd unter der Motorenwanne sitzen, neben dem Brenner, umgeben von einem Schneewall und unzähligen Ästen. Er kroch hervor, als er mich entdeckte.
»Hannes, da bist du ja. Franz war hier. Er meinte, es ginge los. In den nächsten zehn Minuten ist der Motor startbereit. Ich habe drinnen einen Brenner aufgestellt, das bringt ein wenig Wärme.«
»Hoffentlich weit genug weg von der Munition.«
»Keine Angst, wird schon schiefgehen.«
Ich presste die Lippen fest aufeinander, ertrug den Schmerz der starren, aufgefrorenen Haut. Es klarte auf, der Wind schaufelte enorme Lücken in die Schneewolken. Franz würde recht behalten.
Viertel vor vier erschien er endlich mit unserem neuen Ladeschützen im Schlepptau. Einem Gefreiten Uhlig aus Chemnitz, mit schwer erträglichem Dialekt, und für mein Empfinden viel zu jung.
»Seid nett zu ihm«, begrüßte uns Franz, als er sich auf seinen Platz setzte. »Das ist Hannes, Richtschütze …«, fuhr er fort, deutete auf mich, dann durch die kleine Öffnung zum Fahrerplatz, »… und Sigurd, der Däne. Unser Fahrer. Mich kennst du ja bereits. Muss ich dir noch was erklären? Munition? Weißt du alles?«
Uhlig nickte.
»Bin auch auf das StuG eingewiesen, Herr Feldwebel.«
»Wo haben sie dich ausgebildet?«
»Stablack, Preußisch-Eylau.«
Franz nickte und atmete tief aus.
»Na schön. Dann mal los. Wir laden Sprenggranaten.«
»Warum Sprenggranaten?«
»Alles lernt man nicht in der Ausbildung, nicht wahr, Uhlig?«
»Äh, nein. Wie auch?«
»Vor uns liegen zweitausend Meter Wiesen mit unzähligen längs und quer verlaufenden Gräben. Wenn du da mit dem Panzer drüber fährst, ist es, als würdest du mit dem Hintern über gefrorene Maulwurfshügel gezogen. Alle paar Meter sieht der Gegner, also wir, die untere Wanne. Ein T-34 kann seine Geschwindigkeit nicht voll ausspielen. Und der KW-1 ist so langsam, dass er zur tödlichen Falle wird. Was bleibt? Infanterie. Der Russe wird also eine Menge an Mannschaften schicken. Und dafür laden wir Sprenggranaten.«
Uhlig dachte ein paar Sekunden nach, dann hellte sich sein Gesicht auf.
»Ich verstehe.«
»Siehst du«, sagte Franz zufrieden und lächelte jovial. »Extra für uns haben die Pioniere Markierungen in den Boden gehauen. Eine kleine Stange, zu uns hin ist sie rot markiert, ist genau fünfhundert Meter entfernt, alle hundert Meter folgen dann weitere Markierungen. Büsche, Bretter, und das über die ganze Fläche.«
Der junge Kerl zog seine Augenbrauen hoch und staunte Bauklötze.
»Das hätte ich nicht gedacht, dass man das so macht, Herr Feldwebel.«
»Ja, mein Sohn, der Krieg ist ein Handwerk, das man lernen kann.«
Er legte Uhlig eine Hand auf die Schulter.
»Nur überleben, das kann man nicht wirklich lernen. Dazu braucht man auch Glück.«
»Wie du siehst, hatten wir ja schon mal den einen oder anderen Ladeschützen«, gab Sigurd von unten zu bedenken.
Uhlig schluckte und sah uns der Reihe nach an.
»Vergiss den Feldwebel. Wir duzen uns«, munterte Franz ihn auf. »Wie viel Uhr ist es?«
»Fünf vor vier«, gab ich zurück.
»Bordfunk auf, anschalten. Gib mir Abteilungsfunk, Hannes.«
Wir setzten unsere Kopfhörer auf.
Der Zeiger wanderte auf die Minute vor der Vier. Ich spürte es kommen, ahnte das Klacken der Geschützverschlüsse auf der anderen Seite. Sigurd und Franz ebenso, das wurde mir plötzlich bewusst. Nach so vielen Monaten Krieg, taugten wir als Gänse, die das kommende Erdbeben ahnten.
»Wo ist denn der Haken?«, fragte Uhlig in die Stille hinein.
Ich sah nach hinten.
»Der Haken?«
»Na, das hörte sich alles so an, als würden wir auf Tontauben schießen.«
»Der Haken ist, dass zuerst wir die Tontauben sind«, flüsterte Sigurd von unten.
Der Zeiger erreichte die volle Stunde. Vier Uhr. Es knallte mehrmals draußen, wie entfernte Böllerschüsse zu Silvester. Franz blickte durchs Periskop.
»Leuchtraketen. Wenn ich dich trete, Sigurd, haust du den Rückwärtsgang rein und bringst uns nach hinten.«
Uhlig schob die Sprenggranate in den offenen Verschluss und verriegelte ihn. Ein an- und abschwellendes Jaulen setzte ein, immer lauter werdend. Ich sah durchs Visier. Grelle Fackeln, die in den Himmel zuckten, wie von eintausend Gewittern, vom einen Ende des Horizonts zum anderen. Eine Kakophonie aus gleißender Helligkeit und dämonenhaften Wolkenkonturen. Blitzlichtartige Wechsel von dunkel zu hell, wieder und wieder, dunkel und hell. Das Feuer war im Inneren der Wolken und leuchtete sie plastisch aus. Ich war fasziniert, doch gleichzeitig krampfte mein Magen vor lauter Angst. Wir waren zum Schweigen verdammt im anschwellenden Getöse. Uhlig wurde kreidebleich. Seine Lippen formten Worte, aber keiner hörte sie. Ich legte meine Stirn an seine.
»Stalinorgel!«, schrie ich.
Dann zischten sie heran, die Katjuschas, zu tausenden, und schlugen weit vor uns ins Feld, vergingen in hellen Explosionen.
Zu kurz, teilte Franz mit tonlosen Lippenbewegungen mit. Mit einem Mal bebte unser Gefährt, der Panzer wirkte wie eine Glocke und dröhnte nach, Donner rollte heran. Der Luftdruck drückte schlagartig auf unsere Ohren. Wir öffneten alle unsere Münder, atmeten nur noch flach. Die Artillerie begann ihr furchteinflößendes Werk. Und diese Einschläge lagen um einiges hinter unseren Linien, galten eventuell dem rückwärtigen Divisionsersatz. Uhlig hielt die Augen geschlossen, das Kinn auf seiner Brust, er betete. Der Zeiger meiner Uhr wanderte weiter, fünf nach vier. Die Artillerieeinschläge rückten langsam heran und jede neue Salve an Katjuschas brach das gefrorene Gelände vor uns auf, unaufhaltsam näher kommend. Uhlig zitterte völlig ohne Kontrolle, er nässte sich ein. Es stank nach Urin, Tropfen fielen auf den Wannenboden. Herrje, dachte ich mitleidig. Ein enormer Schlag, eine zischende Explosion. Ich meinte, Schreie zu hören, konnte mich aber täuschen, sah auf die Uhr. Zehn nach vier. Franz trat nach Sigurd.
Er reagierte sofort, der Motor lief an, zwar unhörbar inmitten dieses Chaos, aber alles vibrierte. Mit Vollgas fuhr er uns aus der Schneegrube, nur zurück, zehn Meter, zwanzig Meter, wir schaukelten über Unebenheiten hinweg, dreißig oder schon vierzig Meter. Dann fast ein Volltreffer, ein wuchtiger Einschlag neben uns, der den Panzer aus der Richtung presste. Die Splitter prasselten gegen die Seitenschürze. Franz sah wie ein Besessener nach allen Seiten durch seine Winkelspiegel. Ich wollte nichts mehr sehen von den blitzenden Explosionen, nahm nur noch das nicht enden wollende Jaulen der Stalinorgeln wahr; und Uhlig, der als Häufchen Elend von seinem Sitz rutschte und sich tief in die Wanne verkroch. Wir hielten uns so gut es ging fest, um nicht mit dem Kopf an eine der unzähligen Kanten zu stoßen. Sigurd gab Vollgas, dann kippte das Heck plötzlich nach hinten weg, es ging geschätzte fünf oder sechs Meter nach unten, bevor etwas unsere Fahrt stoppte. Reaktionsschnell stellte Sigurd den Motor ab. Franz stierte durch seine Winkelspiegel. Ich sah durch meine Optik lediglich den Himmel, das stakkatoartige Aufblitzen der russischen Artillerie. Zwanzig nach vier. Jede weitere Sekunde, die wir überlebten, war schon jetzt ein Wunder.
»Wir sind in einem Granattrichter!«, brüllte Franz ins Mikrofon. »Das kann unsere Rettung sein!«
Ich nickte und trat versehentlich auf Uhligs Kopf, der kaum sichtbar neben dem Getriebetunnel steckte. Er reagierte überhaupt nicht, und das Getöse um uns herum ließ nicht nach. Um halb fünf fiel mir Erika ein. Wie mochte es in der Heimat aussehen? Liebte sie mich genug, um Tag für Tag mit der Angst eines möglichen Todes ihres Verlobten leben zu können? Es gab ein knarzendes Geräusch im Kopfhörer, dann mehrere heftige Einschläge in der Nähe. Die Granate für uns war vielleicht in diesem Moment unterwegs oder wurde geladen, und Erika bekäme einen der vorgefertigten Briefe. Und warum hatten sie uns einen solchen Grünschnabel wie Uhlig geschickt? Ich wurde wütend. Was sollte der uns hier draußen helfen?
Um viertel vor fünf brach schlagartig die Stille über uns herein. Es blieb nichts als ein immer wiederkehrender Pfeifton in den Ohren. Franz sagte etwas, aber ich verstand es nicht. Seine Lippen bewegten sich, ich spürte die ausgestoßene Luft, aber ich war taub. Wir alle waren für einige Minuten taub. Er trat Sigurd mit dem Stiefel auf die Schulter und fuchtelte hektisch mit den Händen. Der Motor sprang an, ein wohltuendes Vibrieren, ein wundervolles Gefühl. Wir lebten. Sigurd schwang sich durch die Luke, schätzte wohl die Situation ab, dann fuhr er uns Stück für Stück aus dem Trichter. Ich zog Uhlig am Kragen aus seiner geduckten Haltung zu uns hoch. Es stank fürchterlich nach Urin.
»Abteilungsfunk für alle!«, rief Franz. »Wir müssen nachsehen, was noch übrig ist.«
Ich konnte wieder etwas hören. Das Pfeifen ließ nach und mit einem Mal spürte ich Tränen auf meiner Backe.
»Du hast da was auf der Backe, Hannes.«
Ich lächelte ihn an.
»Ja … oh Gott, tut mir leid. Ich kann dich wieder hören … wir leben noch!«
Ich schniefte und Franz legte seine Stirn an meine. Uhlig fing an zu jammern, brach in einen Schreikrampf aus. Er schrie so laut, dass wir die Kopfhörer abnehmen mussten. Franz versetzte ihm einen Kinnhaken und der Junge fiel in sich zusammen.
»Er hat sich in die Hosen gepisst«, meckerte Sigurd.
»Kopfhörer auf. Fahr uns vor in die alte Stellung.«
Von den achtzehn Sturmgeschützen blieben uns noch fünf. Der Rest war ein Totalausfall, mitsamt der Besatzungen. Die Infanterie war so gut wie nicht mehr vorhanden. Kappler ordnete den Rückzug in die nächste Auffangstellung an. Franz schob seinen Oberkörper aus der Luke und rief den wenigen verbliebenen Infanteristen zu, sie sollten aufsitzen, damit wir sie mitnehmen konnten. Er sank mit kreidebleichem Gesicht in den Kampfraum zurück, sagte nichts, drückte seine Augen auf den Lederring am Okular des Periskops. Ich hörte die Soldaten aufsitzen, dann klopfte jemand aufs Dach und Franz schluckte hörbar.
»Bring uns hier raus, Sigurd! Durch den Graben, zwei Kilometer bis zur nächsten Linie. Nicht anhalten.«
Als Sigurd drehte, spähte ich durch meine Winkelspiegel und entdeckte die brennenden Fahrzeuge, aufgerissenen Stahlplatten, die Toten auf den Ketten oder davor, wie Gespenster im flackernden Schein. Ich war mir nicht mal sicher, ob wir nicht gerade jetzt über sie hinwegrollten. Aber welcher Weg wäre ohne Leichen? Keiner weit und breit. Mit einem Ruck rollten wir vorwärts. Hoffentlich hielten sich die Infanteristen auf dem Aufbau gut fest. Sigurd machte Geschwindigkeit, alles was Motor und Ketten hergaben, egal über was wir fuhren. Gewehrfeuer brach hinter uns los, ein „Hurrrraaaa“ aus tausenden von Kehlen folgte.
»Gib Gas, Sigurd!«, schrie Franz ins Mikrofon.
Wir querten den gefrorenen Entwässerungsgraben und hatten offenes Feld vor uns. Mindestens anderthalb Kilometer, dann folgte das nächste Wäldchen. Ich spähte durch den seitlichen Winkelspiegel, legte meinen Kopf an die Lederausbuchtung, dabei biss ich mir auf die Unterlippe, als wir ungebremst durch einen kleinen Graben rollten. Vor Schmerz schloss ich meine Augen, hielt mich krampfhaft an den Munitionshalterungen fest und dachte an Erika. Gott, wie ich sie liebte, nein, wie ich sie vermisste. Mit jedem Zentimeter, den ich mich seit Kriegsbeginn von ihr entfernte, wuchs diese Sehnsucht ins Unermessliche. Vielleicht war die Liebe ja schon längst zwischen all dem Blut und der Trostlosigkeit verschütt gegangen? Und nichts als Sehnsucht nach dem Leben vor diesem vermaledeiten Krieg brannte noch in mir? Es wummerte wieder am Horizont. Dieses Mal auf der anderen Seite. Das Pfeifen zog über uns hinweg, dann die Einschläge hinter uns. Trotzdem unsere Artillerie die Russen in Stücke riss, schrien sie uns ihr „Hurrrraaaa“ hinterher, wild um sich feuernd.
»Los, los, los! Gib Gas!«
Franz sah durch den rückwärtigen Winkelspiegel und klopfte mir auf die Schulter.
»Setz das Periskop ein und sieh nach hinten! Ich wette, da kommen Panzer!«
»Mehr gibt die Karre nicht her!«, brüllte Sigurd von unten.
Ich nickte, arretierte das Periskop und drehte die Luke. Angestrengt drückte ich mich mit dem Kopf an das Polster, um nicht abzurutschen, drehte das Fünffach-Okular ein und blickte hindurch. Vereinzelt sah ich Rotarmisten aus dem Birkenwäldchen auftauchen, mit jedem Atemzug wurden es mehr. Dann schob sich ein Panzer aus einer Lücke.
»KW-1 auf sechs Uhr! Zielt auf uns!«, rief ich ins Mikrofon.
Der Russe hielt an und pendelte aus. Der Richtschütze dort drüben nahm die Entfernungsmessung vor auf ein bewegliches Ziel. Zwei, drei Sekunden, Kontrolle durch den Kommandanten, einen Atemzug warten …
»… abdrehen auf 10 Uhr!«, brüllte ich.
Sigurd reagierte sofort und drehte über die linke Kette ab. Der Schuss löste sich aus der Kanone, flog vorbei und detonierte zwanzig, dreißig Meter rechts von uns.
»Er schwenkt nach! Abdrehen nach rechts!«
Die Turmdrehungen eines russischen KW-1 waren mehr als träge, und nun musste er wieder in die Gegenrichtung schwenken. Dann sah ich von links eine Geschoßspur kommen, die direkt in die Turmfront des KW-1 schlug und seine Munition zur Explosion brachte. Eine Stichflamme brannte kerzengerade in den Himmel. Niemand vermochte diese Hitze zu überleben.
»Weiter auf 12 Uhr, Gegner ausgeschaltet!«
Wir erreichten das Wäldchen, ein Leutnant wies uns ein. Als wir zum Stehen kamen, Sigurd den Motor drosselte, wir uns anblickten, war da plötzlich ein kurzer Moment von Glück in uns, zwischen uns. Einen Atemzug später verpuffte dieses Gefühl, Franz öffnete die Munitionsluke und schob Uhlig nach draußen. Von den Infanteristen hatten es alle bis auf einen überlebt. Ihn verloren wir wohl bei dem ruckartigen Fahrmanöver. Ich zündete mir eine Zigarette an, sah auf meine zitternden Hände und inhalierte tief.
»Los! Sie kommen!«, brüllte jemand.
Die Rotarmisten rannten wie besinnungslos über das Gelände. Sie nutzten weder die kleinen Gräben als Deckung, noch warfen sie sich auf den Boden. Wir mussten nicht mal zielen, feuerten einfach Sprenggranate auf Sprenggranate in diese Wellen aus Fleisch und Blut. Jeder Einschlag bedeutete mehrere Treffer. Entweder waren sie sofort tot oder die Granatsplitter verwundeten sie so schwer, dass sie nicht mehr weiterkamen. Eine zweite Abteilung Sturmgeschütze lag neben uns, dazwischen die Maschinengewehre der Grenadiere, die PaK feuerte auf die heranrollenden T-34 oder KW-1, setzte einen nach dem anderen außer Gefecht. Ich sah mich durch das Periskop blicken, als stünde ich abseits meiner selbst, sah mich die Entfernung einstellen, Franz feuerte, Sigurd ersetzte Uhlig und lud nach, nahm von außen die Granaten entgegen, denn längst waren wir leergeschossen. Ich begriff nicht, was vor sich ging. Nicht nur Minuten verstrichen, nein, Stunden zogen an uns vorbei. Warum griffen sie weiterhin an? Warum wollten sie es denn unbedingt über diese verfluchte Wiese schaffen? Hatten sie denn niemanden zuhause, der auf sie wartete? Den sie liebten? Mein Gott! Warum gaben sie denn nicht auf?
Gegen elf Uhr kam der "Feuer-einstellen-Befehl". Einige Flugzeuge der Luftwaffe flogen über uns hinweg, vermutlich Aufklärer. Kappler erreichte uns schwer atmend mit zwei Flaschen Kräuterlikör in den Taschen.
»Der Tod will euch nicht, was?«, begrüßte er uns.
Wir lehnten zu dritt am warmen Heck des Panzers, rauchten unsere Selbstgedrehten, und musterten ihn.
»So wie du aussiehst, holt er eher dich als uns«, raunzte ihm Franz entgegen.
»Gut möglich. Aber vorher schicke ich euch mit einem Trupp Grenadiere wieder hinüber ins Wäldchen. Die Luftwaffe sagt, das Gebiet ist frei. Sie haben sich zurückgezogen in ihre Ausgangsstellungen.«
»Für was dann der ganze Aufwand?«, wollte ich wissen.
Kappler drehte die Kappe einer Likörflasche ab, warf sie in den Schnee und trank einen Schluck.
»Hier. Echter Göring-Schnaps. Hab ich direkt vom Stab. Außerdem werden wir uns nicht lange auf den Lorbeeren ausruhen können. Im Süden und im Norden ist der Russe durchgebrochen. Das riecht nach Zange. Wir werden spätestens in zwei Stunden abrücken.«
»Wir können nicht mehr feuern«, erklärte Franz. »Das Rohr hat sich verzogen. Ist einfach zu heiß geworden. Du musst uns also in die Instandsetzung schicken.«
Kappler zog die Augenbrauen hoch und trank einen weiteren Schluck.
»Um mit den Grenadieren da rüber zu fahren, reicht es noch, oder?«
Er gab uns die zweite Flasche und stapfte davon.
Ein Hauptmann Wolters meldete sich eine Viertelstunde später mit seinem Trupp und wir fuhren los. Außer uns gab es noch drei andere Sturmgeschütze. Die Grenadiere bildeten Keile zwischen den Panzern.
»Wenn du auch nur die kleinste Kleinigkeit siehst, drehen wir ab«, trug Franz mir auf. Ich nickte und starrte die ganze Zeit durch mein Periskop, zehnfache Vergrößerung, drehte es unentwegt die Waldlinie entlang. Nach zweihundert Metern erreichten wir die ersten toten Russen, es wurden schnell mehr, Hunderte, nein, mit Sicherheit Tausende.
»Siehst du das, Hannes?«
Franz‘ Stimme klang heiser.
»Hast du so was schon mal gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Stopp!«, rief er über den Abteilungsfunk.
»Warum halten wir?«, fragten die drei anderen Kommandanten.
»Wollen wir da wirklich durch?«, wollte Franz wissen.
»Wir müssen.«
Es klopfte zwei Mal auf die Außenwand.
»Wir sitzen auf und dann weiter!«, kam der Befehl von draußen.
Ich sah zu Franz. Furcht und Abscheu stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er setzte sich zurück, nahm den Kopf vom Winkelspiegel und sah auf seine Finger.
»Fahr weiter, Sigurd. Hannes, sei wachsam!«
»Ist gut«, antwortete ich schwer schluckend und spähte wieder hinaus.
Zwischen den Leibern war kein Platz für unseren Panzer. Manche der Russen zuckten noch oder ruderten hilflos mit der Hand. Überall entdeckte ich nichts als blutroten Schnee. Kein einziger weißer Fleck war mehr zu sehen. Die Grenadiere saßen auf und wir rollten durch das Meer aus Fleisch. Ab und an peitschte ein Schuss auf. Ich hörte einen der Grenadiere sich übergeben. Franz setzte die Flasche an und schüttete sich diesen Göring-Schnaps hinein. Als er sie endlich absetzte, hörte ich ihn leise schluchzen. Ich starrte hinaus. Der Frost begann sein Werk.
»Wieso machen die das?«, rutschte mir die Frage heraus.
»Was sollten sie sonst tun? Es ist ihre Heimat, die wir da gerade vernichten.«, entgegnete Franz. »Seit Juni töten wir ihre Soldaten, ihre Frauen und Kinder, ihre Alten und Kranken. Ihre Rache wird fürchterlich sein.«
Er zog den Kopfhörer ab und setzte die Flasche wieder an.