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Bahnfahren

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18.12.2023
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Bahnfahren

Es ist ein Morgen wie jeder andere. Ich steige wie immer in die volle Regionalbahn ein und fange an mich zu fragen, was wohl all diese anderen Menschen außerhalb dieser Bahn so machen. Nicht beruflich. Sondern auf einer anderen Ebene.

Was denkt der Kerl da drüben wohl? Den sehe ich zum ersten mal. Wieso hat er im Winter keine vernünftige Jacke an? Ist dem nicht kalt? Hat er die einfach nur vergessen, weil er spät dran war? Oder ist der gefühlsmäßig so abgestumpft, dass er nicht mal Minusgrade mitbekommt? Vielleicht hat er auch einfach keine Kohle für vernünftige Klamotten. Vielleicht hat er noch nicht mal ein gültiges Ticket. Der Kontrolleur war aber erst vor einigen Tagen hier und wird dann wohl heute nicht auftauchen. Ich werde es also nicht erfahren.

Mein Blick schweift zu dem Kerl neben ihm. Der schaut schon ein bisschen verzweifelt auf sein Smartphone. Sieht aus als wäre er Mitte 30. Vielleicht völlig gestresst. Er muss zur Arbeit fahren um eine Familie zu ernähren und zweifelt an seinem Leben. Und das noch dutzende Jahre bis zur Rente. Vielleicht ist auch eines seiner Kinder krank oder seine Frau abgehauen. Sein Blick könnte alles bedeuten. Vielleicht überlegt er auch, ob er nicht einfach seinem nervigen Kollegen heute einen Bleistift ins Auge rammen soll.

Wer kennt all diese Menschen schon wirklich. Hat nicht jeder solche Gedanken? Ich frage mich, was die anderen hier wohl über mich denken. Aber die meisten sind zu vertieft in ihre dutzenden kleinen Geräte. Kriegen nicht mal mit, wenn man sie minutenlang beobachtet. Sie lesen Mails, schauen Serien, scrollen durch endlos wirkende Ansammlungen sinnloser Videos, Tweets, Reels oder wie das alles heißt. Manche tippen ihre Kennworte für jeden lesbar ein oder schauen ihren meist negativen Kontostand traurig an.

Ob die junge Dame gegenüber von mir vielleicht sogar eine Mörderin ist? Das frage ich mich schon seit Wochen. Schließlich sehe ich sie, seit dem ich diesen Zug nehme, jeden Tag. Morgens in der Frühe und dann wieder am Nachmittag. Aber ganz sicher sein, kann man sich nicht, auch wenn ich schon länger weiß, dass sie einen langweiligen Bürojob macht. Das hält sie ja nicht davon ab, in der Freizeit anderen Tätigkeiten nachzugehen.

Die Haltestelle, an der sie immer aussteigt, ist relativ verlassen. In den dunklen Tagen im Winter ein Grauen. Es ist nur eine Provinzhaltestelle. Der Regional-Express brettert dort einfach durch. Wegen ihr kann ich den aber nicht mehr nehmen, sonst würde ich sie verpassen.

Ich bin ihr tatsächlich noch immer nicht aufgefallen. Auch nicht in dem Café, in dem sie fast immer ihre Mittagspause verbringt. Der Kaffee ist furchtbar, aber den muss ich heute nicht mehr ertragen.

Sie steht auf und geht zur Tür. Ich warte noch kurz und dann folge ich ihr. Zum letzten Mal. Ich bin mir sehr sicher, dass es klappt wie bei den anderen. Wie groß ist schon die Wahrscheinlichkeit, an andere Mörder zu geraten?

 

Hallo tolan,

deine kurze Geschichte gefällt mir teilweise ganz gut. Das Motiv des Bahnfahrens und das Nachdenken über andere lässt mich gleich zu einer 'Schwester im Geiste' des Protagonisten werden - was ich gegen Ende bereue :-). Auch die anklingende Kritik an denen, die nur noch auf kleine Bildschirme und nicht mehr in die Gesichter anderer schauen, kann ich gut nachvollziehen.

Kriegen nicht mal mit, wenn man sie Minuten lang beobachtet.

Wohl wahr, aber 'minutenlang'.
Ich steige wie immer in die volle Regionalbahn ein und fange an mich zu fragen, was wohl all diese anderen Menschen außerhalb dieser Bahn so machen. Nicht beruflich. Sondern auf einer anderen Ebene.
Ich verstehe, was du sagen willst, würde es aber noch etwas anders ausdrücken. Z.B. '.. und fange an mich zu fragen, was wohl in den Köpfen der anderen vorgeht.'
Das hält sie ja nicht davon ab, in der Freizeit anderen Tätigkeiten nachzugehen.
Besser: Das muss sie ja nicht davon abhalten, in ihrer Freizeit anderen Tätigkeiten nachzugehen.

Ich würde schon vorher in den Text ganz kleine Hinweise einstreuen, und am Ende noch etwas einbauen, das ihn als Mörder plausibler macht. Irgendeine Art Motiv oder so.

Viel Spaß beim Schreiben,
Grüße
Eva

 

Hallo Eva,

vielen Dank für die konstruktive Kritik. Stimmt, "minutenlang" werde ich mal noch korrigieren. Dieses "Bereuen sich mit dem Protagonisten und seinen Gedanken irgendwie zu identifizieren" ganz am Ende beschreibt gut, was ich mit dem Ende bezwecken wollte. Dass man sich theoretisch bei niemandem zu 100% sicher sein kann.

Die Idee mit den kleinen Hinweisen und dem Motiv finde ich gut. Etwas in der Art hatte ich auch erst überlegt, aber es war mir nicht so sehr gelungen. Ich dachte, dass es vielleicht durch die Aufzählung der Beobachtungen außerhalb der Bahn und dass der Mörder diese Bahn nur wegen der Frau überhaupt nimmt schon fast etwas zu offensichtlich wird. Zumindest ein Stalking könnte man ihm unterstellen. Ich werde mir diesbezüglich aber noch einmal Gedanken machen :)

Viele Grüße
tolan

 

Moin tolan,

da könnte ich ja richtig mitreden, verbrachte ich doch zu meiner Zeit beim MPI MH werktäglich einige Zeit in Bus und Bahn, wenn ich denn nicht die Tageszeitung auf dem Hinweg gelesen hätte und auf dem Heimweg gelegentlich mit dem Motorrad mitgenommen worden wäre …

Eva hat schon einiges gesagt und ich hab da wenig hinzuzufügen, außer dass ich den Einsatz des literarischen „Brandbeschleunigers“ (wie ich es nenne) Ellipse, den Du verwendest wie hier etwa

Nicht beruflich. Sondern auf einer anderen Ebene.
begrüße, denn auch wenn sich Gedanken durchs Hirn winden, werden wir selten grammatisch „korrekt“ handeln.

Bissken Flusenlese ist allerdings noch, wie etwa hier

Den sehe ich zum ersten mal.
Mal

(hier klappt’s doch:)

Zum letzten Mal.

oder hier
Wieso hat er im Winter keine vernünftige Jacke an? Ist dem nicht kalt? Hat er die einfach nur vergessen, weil er spät dran war?
die Einheit der Zeitenfolge (also besser "weil er spät dran ist").

Wie dem auch wird,

gern gelesen und nicht zu vergessen einen guten Rutsch (wie allen andern hierorts und wo auch immer) einen "guten Rutsch!"

Friedel

 

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