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Besuch für Ralf
Für RaG
Jana stand vor dem Spiegel und überlegte, was sie anziehen sollte. Sollte sie sich fein herausputzen oder sich einfach kleiden wie immer, also Jeans und ein weites Sweat-Shirt tragen? Argwöhnisch zupfte sie an ihren fettigen, halblangen Haaren herum. Musste sie die etwa noch waschen? Wozu? Wenn sie an seiner Türe klingeln würde, würde er öffnen, sie fragend ansehen und wenn er dann ihren Namen hörte, würde er sie vor Freude strahlend in die Arme schließen. Er liebte sie so, wie sie war. Ihren Charakter und nicht das Äußerliche!
Ärgerlich warf sie ihrem Spiegelbild noch einen letzten Blick zu, bevor sie ihre Lieblingsjeans aus dem Wäschekorb fischte und anzog. Sie mochte ihr Spiegelbild nicht besonders. Nicht mehr.
Sie war sehr dick geworden seit Jochens Tod. Schokolade war ihr einziger Freund und Seelentröster seit dem Unfall ihres geliebten Mannes. Erst 27 Jahre war er gewesen, als dieser LKW...
Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Jetzt hatte sie ja Ralf. Ihm war ihr Äußeres sicher egal. Er blickte in ihre Seele, sah das verletzliche, liebebedürftige, kleine Wesen und nicht die Zweizentner-Frau mit dem strähnigen Haar und der ungepflegten Haut. Bei Ralf war sie sich ganz sicher. Er würde nicht sein wie der Andere, wie hatte der noch geheißen? Peter?
Aber an Peter wollte sie jetzt auch nicht denken. Er war ihrer gar nicht wert gewesen und seine Strafe hatte er schließlich bekommen. Dieser entsetzte Blick, als sie sich ihm vorgestellt hatte! Dieses entsetzte: „Was willst Du denn hier?“ Und dann seine Abscheu, sein Zurückzucken, als sie ihm um den Hals gefallen war.
Seine Mails waren so lieb gewesen, er hatte sich besorgt gezeigt, mit ihr geflirtet und sie auch dazu ermuntert. Jana schüttelte sich, grinste dann aber zufrieden. Sie war immer noch froh, dass ihre hilflos herumtastenden Finger damals zufällig die Nagelfeile in der Handtasche gefunden hatten. War auch immer noch froh, dass ebendiese Nagelfeile genau sein Herz gefunden hatte. Wenigstens etwas von ihr hatte sein Herz berührt!
Doch sie wollte sich nicht mit unschönen Gedanken an diesen Mistkerl, der ihr etwas vorgegaukelt hatte, von Ralf ablenken lassen. Ralf war ganz anders, das wusste sie. Schon in seiner ersten Mail hatte Jana gespürt, dass sie beide seelenverwandt waren.
Jana war Pfarrer Weber dankbar, dass er sie damals ermuntert hatte, sich wieder dem Leben zu öffnen, wie er das nannte. Pfarrer Weber hatte ihr auch vorgeschlagen, ihre Leidenschaft fürs Schreiben wieder aufzunehmen. So war sie dann auf diese Internetseite gestoßen, in der sich Menschen „trafen“, die allesamt gerne Kurzgeschichten schrieben. Es gab auch die Möglichkeit, jemandem eine persönliche Mitteilung zu schreiben, die die anderen nicht lesen konnten und dort hatte sie dann auch erst Peter und dann Ralf kennen gelernt.
Bei Ralf hatte sie dieses Mal alles richtig gemacht, das wusste sie. Sie hatte ihm Zeit gegeben, sie gut kennenzulernen, hatte ihm ihre Gedanken und Gefühle mitgeteilt und immer mehr gespürt, wie er sich in sie verliebte.
Acht Wochen schrieben sie sich nun schon regelmäßig und als er Jana gestern schrieb, dass er im Moment so unglücklich wäre, wusste sie, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, wo sie ihn persönlich trösten musste.
Heute morgen hatte sie sich eine Zugfahrkarte gekauft und in sieben Stunden würde sie bei ihm sein. Schade, dass er so weit weg wohnte, aber sie würde ja bald zu ihm ziehen. Wie überrascht er sein würde, wenn sie vor seiner Türe stünde! Er wusste ja nicht einmal, dass sie schon seit Wochen seine Adresse und seinen vollständigen Namen kannte! Dabei war es so einfach gewesen, das herauszubekommen!
Bestimmt hatte er aber auch absichtlich die Puzzleteile verstreut, die dazu nötig waren. Da einmal den Wohnort, dort einmal einen Teil seines Nachnamens; bestimmt hatte er gehofft, sie würde die Teile zusammenfügen und die Initiative zu einem Kennenlernen ergreifen. Männer waren einfach manchmal zu schüchtern, um diesen Wunsch auszusprechen.
Ihre Nachbarin würde überrascht sein, wenn sie ihr erzählte, dass sie bald umzöge. Ob sie es gleich tun sollte, wenn sie nachher den Schlüssel hinüber brachte? Lieber nicht, letztes Mal mit Peter war es dann doch sehr schwierig gewesen, eine glaubhafte Ausrede zu erfinden, warum der Umzug doch nicht stattfand.
Was hatte sie für einen Angst ausgestanden, die Nachbarin könnte sie mit dem Fall in „Aktenzeichen XY ungelöst“ in Verbindung bringen! Aber das war natürlich Unsinn, sie und Peter hatten sich nur über die persönlichen Mitteilungen auf der Kurzgeschichten-Seite geschrieben. Auf seinem PC konnte es keine Spur von ihr geben. Gut war auch, dass es schon so spät gewesen war, als sie Peter damals besuchte. So hatte keiner der Nachbarn etwas von ihr mitbekommen. Peter war erst zwei Tage nachdem sie ihn bestraft hatte, gefunden worden, als sie längst schon wieder zuhause vor ihrem Fernseher saß und ihren Seelentröster Schokolade als Hilfe hatte.
An Peter wollte sie doch nicht denken! Sollte sie sich jetzt noch die Haare waschen? Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es zu spät war, da sie sonst den Zug verpassen würde. Schnell zog sie das hellblaue Sweat-Shirt über, griff nach der kleinen Reisetasche und wollte die Wohnung verlassen. Hatte sie nicht noch etwas vergessen? Ihre Nagelfeile! Die musste noch in die Tasche, man wusste nie, ob einem nicht ein Nagel abbrach!
Voller Vorfreude dachte sie: „Ralf, ich komme!“