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Das Böse in uns

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01.01.2010
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Das Böse in uns

Mit nacktem Oberkörper und schwitzenden Händen sitzt Mirko vor seinem Computer.
Seine Augen brennen, der Körper glüht.
Nervös blickt er hinter sich und kontrolliert zum wiederholten Mal, ob der Rollladen geschlossen ist. Die einzige Lichtquelle im Zimmer ist der Monitor.
Als Mirko den Whisky zum Mund führt, klirren die Eiswürfel. Der Alkohol schürt das Feuer in ihm, es lodert und treibt ihn nah an eine Grenze, so nah.
Die Datei trägt den schlichten Namen Archiv. Mirko fährt langsam mit der Maus drüber, zögert, klickt einmal, hält inne – spielt mit ihr, liebkost sie beinahe.
Für einen Teil seines Bewusstseins ist dies das Vorspiel – jenen Teil, der die Hitze genießt und das Adrenalin dazu verwendet, sie am Brennen zu halten. Es ist der Teil, den Mirko seit beinahe zwanzig Jahren unterdrückt, doch seit ihn Karolin verlassen hat, kommt er wieder und wieder als dunkler Trieb zum Vorschein. Immerzu flüstert er, quält ihn, lässt ihn nachts nicht schlafen und bringt ihn dazu, sich im Internet von Leuten, die sich Der Gönner nennen, Dateien senden zu lassen.
Der andere Teil seines Bewusstseins drängt ihn, ins Badezimmer zu gehen und den einzigen vernünftigen Weg zu wählen, das Feuer zu löschen. Doch je länger Mirko wartet, umso mehr wird dieses Drängen zu einem leisen Flehen, während jener Teil zunehmend im Alkohol versinkt.
Einmal nur, sagt er sich. Vielleicht ist dann endlich Ruhe. Nur am Rande nimmt er wahr, dass hier bereits das Böse spricht, der Hexenmeister, der dieses Mal gewinnt und das Feuer entfacht.
Er öffnet die Datei. Sie enthält eine Liste von etwa zwanzig Bildern, und ohne weiteres Nachdenken klickt Mirko auf das erste. Es zeigt zwei Jungen im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren, die auf einem Bett sitzen. Sie sehen wie Geschwister aus, und beide sind bis auf ihre Unterhosen nackt. Die Hitze in Mirkos Körper explodiert, wie ein Tsunami breitet sie sich aus, erreicht sein Herz, seinen Kopf und seinen Schritt.
Mit zitternden Fingern öffnet er den Reißverschluss seiner Hose und greift hinein. Sein Blick fällt auf die Gesichter, ihre jungen, unschuldigen Gesichter, ihr dichtes blondes Haar, und seine Augen gleiten hinab auf ihre Arme und Brüste, wieder zurück in die Gesichter, Klick auf das nächste Bild, Blick bis zum Bauchnabel hinunter, er fährt sich mit der Zunge über die Lippen, nächstes Bild, endlich, endlich wandert sein Blick noch tiefer, tiefer, sein Griff wird fester, wieder zurück in die Gesichter, nach unten, oben, unten, oben, und im selben Rhythmus bewegt sich nun seine Hand, nächster Klick, er sieht ihre glatte Haut, ihre schmalen Lippen, und er –
Er krampft und zuckt, während klebrige Flüssigkeit bis in sein Gesicht spritzt und sich auf seinem Bauch verteilt.
Einen Augenblick keucht er, dann reißt er seine Hand von der Maus, als sei sie eine glühende Herdplatte. Auf dem letzten Bild sieht er zwei traurige Kinder, die sich vor einem schäbigen Bett fotografieren lassen mussten. Wie immer in diesem Moment, wenn das Böse seine Befriedigung bekommen hat und verschwindet, empfindet er Ekel vor sich selbst. Dieses Mal ist es schlimmer, denn dieses Mal waren die Bilder nicht nur in seinem Kopf. Der Geschmack nach Whisky und sein eigener Geruch lassen ihn würgen.
Mirko schlägt die Hände vor sein Gesicht, und während das Sperma auf seinem Körper trocknet, beginnt er laut zu schluchzen.
„Oh Gott“, ruft er. „Hilf mir, hilf mir bitte. Hilf mir!
Für den Augenblick ist das Feuer erloschen, doch er weiß, dass der Hexenmeister irgendwann zurückkehren und es aufs Neue entfachen wird.

„Du Dreckschwein also hast Timo getötet.“
Es ist der Moment, in dem der Mann aus Davids Träumen endlich ein Gesicht bekommt. Unzählige Male wurde er nachts von seinem Sohn an die Hand genommen und eine unbekannte Straße hinunter geführt. Schau, Papa, sagte Timo und blickte mit großen Augen zu ihm auf, da vorne sitzt der Mann, der mich mitgenommen hat. Doch David sah stets nur eine Gestalt in der Ferne, die schwarz gekleidet am Straßenrand saß und das Gesicht abwendete. Und je näher er diesem Unbekannten kam, umso weiter entfernte sich dieser, ohne auch nur die kleinste Bewegung zu machen.
Jetzt sitzt er direkt vor ihm, unfähig, sich zu bewegen.
Er windet sich, doch die Fesseln halten ihn auf dem Stuhl. Durch das Klebeband hindurch hört David das Wimmern.
Die Luft im alten Wasserturm ist stickig, und David hat das Gefühl, als laste ein großes Gewicht auf seinem Brustkorb. Er beugt sich zu dem Mann hinunter, dessen Augen weit aufgerissen sind. Sein Gesicht ist schweißüberströmt, und David riecht seine Ausdünstungen, hört den keuchenden Atem.
Den ersten Schlag bohrt er in den Magen des Mannes, spürt, wie sämtliche Luft aus dessen Körper entweicht und er zusammensinkt. Panisch atmet er durch die Nase und richtet sich wieder auf. Auch wenn seine Schreie den Körper nicht verlassen, kann David sie hören. Er ballt erneut die Faust und trifft die Schläfe des Mannes. Der festgeschraubte Stuhl bewegt sich keinen Millimeter. Die Vorbereitungen sind perfekt, wie es David versprochen wurde.
Durch den Schlag wird der Mann zur Seite gerissen, seine Schreie verwandeln sich in ein gleichmäßiges Stöhnen, und David befürchtet einen Augenblick, er könne das Bewusstsein verlieren.
Er richtet sich wieder auf. Auf einem Tisch liegen zwei Gegenstände, einer davon ist der Personalausweis des Mannes. Er nimmt ihn und liest vor: „Mirko Desche, sechsunddreißig Jahre alt. Wohnhaft in Berlin.“ Er wirft ihn dem Mann ins Gesicht.
„Zwei Sachen. Ich möchte nur zwei Sachen von dir wissen.“ Er greift in seine Tasche, zieht das Foto eines blonden Jungen mit Brille heraus und hält es Desche vor die Augen. Erkenntnis blitzt in ihnen auf, doch das genügt David nicht.
Du musst dir sicher sein.
„Das ist Timo. Mein Sohn. Mein Sohn, verstehst du? Hast du ihn mir genommen?“
Desche heult, ein farbloser Rotzfaden hängt an seiner Nasenspitze.
David reißt ihm das Klebeband vom Mund, und Desche krümmt sich, hustet. David packt ihn an den Haaren, zieht sein Gesicht wieder hoch. „Antworte mir, du verdammter Bastard. Hast du ihn mir genommen?“
Desche wird von einem Weinkrampf geschüttelt. Er nickt. „Es tut mir so leid“, bringt er hervor. „Es – es tut mir so Leid. Bitte –“
„Elender Bastard“, antwortet David. „Warum? Warum?“ Er schreit es ihm ins Gesicht, bedeckt es mit feinen Speicheltropfen. Dann greift er sich den zweiten Gegenstand auf dem Tisch, eine Pistole, und presst den Lauf auf Desches Stirn.

Die Kinder befinden sich etwa fünfzig Meter vor Mirkos Auto.
Der Morgen ist ungewöhnlich warm, und Mirko hat das Wagenfenster heruntergekurbelt. Er trägt eine Sonnenbrille und eine Schirmmütze. Es ist zwar nicht wahrscheinlich, dass ein Bekannter vorbeikommt, doch er möchte kein Risiko eingehen.
Er lässt seine Blicke über die Kinder schweifen. Für ihn sind sie Verderben und Erlösung zugleich, tauchen sowohl in seinen guten als auch in den schlechten Träumen auf. Er bemerkt einen kleinen, rundlichen Jungen, der gelangweilt in Richtung Schule geht und einen Turnbeutel in der Hand schwenkt. Er ist dem Jungen nicht unähnlich, dem Mirko vor mehr als zwanzig Jahren in der Dusche des Schwimmbades begegnete. Damals ertappte er sich, wie er die Augen nicht mehr von dem kleinen Körper nehmen konnte.
Seitdem fürchtet und begehrt er sie.
Das Verlangen ist immer da, manchmal offen und direkt, manchmal wie durch eine Flut überspült. Einzig in den Jahren, als er es endlich schaffte, eine erwachsene Frau zu lieben, verschonte es ihn – oder kauerte vielleicht auch nur hungrig in einer Ecke, denn als Karolin ihn verließ, fiel es umso wilder über ihn her; erschreckend nicht aufgrund seiner Bösartigkeit, sondern wegen seiner Vertrautheit.
Ein leichter Wind weht die Stimmen und das Lachen der Schulkinder in den Wagen, und Mirko muss wieder an die Kinder auf den Fotos denken.
Vor zwei Tagen meldete sich Der Gönner bei ihm und fragte, ob er weiteres Material wolle. Mirko löschte daraufhin den Email-Account, den er eigens für diese Kommunikation eingerichtet hatte, ebenso wie die Bilder.
Er kaut an seinen Nägeln, reißt manche ein und hinterlässt blutige Fingerkuppen. Die Schmerzen lenken ihn ab.
Er sollte nicht hier sein. Gestern noch beschloss er, endlich die Kontaktstelle in der Luisenstraße aufzusuchen oder wenigstens dort anzurufen, doch stattdessen ist er wieder hier gelandet. Vor der Schule. In erster Linie interessieren ihn die Jungen. Er fragt sich, ob -
„Hallo.“
Die helle Stimme neben seinem Wagen lässt ihn aufschrecken. Er dreht sich zur Seite und sieht einen kleinen Jungen, vielleicht zehn Jahre alt, mit blondem Haar.
„Hallo“, antwortet Mirko unsicher.
„Können Sie mir helfen?“
Wo kommt der auf einmal her?, fragt sich Mirko. „Was ist denn?“
Der Junge schaut ihn mit verlegenen Augen an. Die Brillengläser lassen sie größer erscheinen, und Mirko vermutet, dass er dadurch zur Zielscheibe von Spott in seiner Klasse wird. Vermutlich ist er deshalb allein unterwegs.
„Mir ist mein Schlüssel in den Gully da hinten gefallen. Ich komm einfach nicht an ihn ran.“ Tränen schießen in seine Augen.
Mirko wirft einen letzten Blick auf die Gruppe von Kindern, dann nickt er und steigt aus. Seine Handflächen werden feucht, und er versucht, keine bösen Gedanken in sich aufkommen zu lassen.
„Es ist da hinten“, sagt der Junge.
Er kämpft dagegen an, wehrt sich.
„Alles klar. Kein Problem. Wir holen ihn da raus.“
Der Junge lächelt schüchtern; Mirko kennt dieses Lächeln und weiß, was es bedeutet.
Er beginnt, Vertrauen zu fassen.

David findet sich zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort ein. Der Mann, der sich Herr J. nennt, ist pünktlich. Er fährt in einem grauen Lieferwagen ohne Aufschrift vor, und David steigt auf den Beifahrersitz.
„Hallo David. Schön, dass Sie gekommen sind“, sagt Herr J.
David antwortet nichts. Sie fahren eine Weile schweigend durch Berlin, immer wieder wirft er flüchtige Blicke auf den Fahrer. Der Mann ist noch sehr jung, vielleicht Anfang zwanzig. Quer über sein Kinn zieht sich eine weiße Narbe. Er macht auf David nicht den Eindruck, als könne er seinen Teil der Abmachung einhalten, doch er ist der berühmte letzte Strohhalm, an den man sich klammert.
„Wo fahren wir hin?“, fragt David schließlich.
„An einen Ort, den ich kenne“, lautet die knappe Antwort.
„Und dort treffe ich ihn?“
„Das habe ich Ihnen versprochen, nicht wahr? Ich verabscheue Leute, die nicht ehrlich sind. Ich bin es in jedem Fall, darauf können Sie sich verlassen.“
„Und dann? Was passiert dann?“
Der Mann lächelt. „Das liegt ganz bei Ihnen. Sie können entscheiden.“
Sie fahren weiter, aus Berlin heraus, die Gegend wird ländlicher.
Die Stille macht David verrückt. „Wer ist es?“, will er wissen.
Herr J. antwortet nicht.
„Sagen Sie mir, wer es ist.“
„Das erfahren Sie gleich, David. Gedulden Sie sich noch ein paar Minuten, dann bekommen Sie alle Antworten. Wir haben alles vorbereitet.“
„Ich fasse es nicht, dass Sie ihn gefunden haben.“
„Nun, auf noch etwas können Sie sich verlassen: Wir finden alle.“
Herr J. steuert den Lieferwagen auf einen schmalen Feldweg, und kurze Zeit später erreichen sie ein graues, zylinderförmiges Gebäude.
Herr J. stoppt den Wagen. „Ein alter Wasserturm“, sagt er. „Er wird heute nicht mehr verwendet. Wir haben innen alles für Sie vorbereitet, David. Perfekt vorbereitet. Sie erfahren seine Identität, und Sie werden eine Waffe vorfinden. Sie enthält genau einen Schuss.“
Der Mann – der Junge, es ist noch ein Junge, sagt sich David – lächelt ihn an. „Falls Sie Gebrauch davon machen möchten.“
David zögert. Bei ausgeschaltetem Motor wirkt die Stille noch drückender. Tränen schießen in seine Augen, und plötzlich fühlt er sich müde.
„Was erwarten Sie von mir? Was soll ich tun?“
„David“, antwortet Herr J. und legt ihm eine Hand auf den Arm, „bleiben Sie ruhig. Sie sind hier das Opfer, vergessen Sie das nicht. Es liegt bei Ihnen, wie Sie den Täter bestrafen.“
„Aber – aber ich meine, ich kann da nicht einfach hingehen. Ich brauche einen Beweis, verstehen Sie? Dass Sie den Richtigen haben.“
Herr J. schüttelt den Kopf. „Ich kann Ihnen keinen Beweis geben. Aber fragen Sie ihn. Er wird gestehen.“
„Wird er das?“
„Da bin ich sicher.“
David steigt aus und geht mit langsamen Schritten auf den Wasserturm zu. Er denkt an Timo, an sein seltenes Lachen. Es verblasst von Tag zu Tag mehr, und David fürchtet den Tag, an dem er es nicht mehr vor sich sieht.
Er zieht ein Foto aus der Tasche. Es zeigt Timo vor dem Eurosat im Europapark. Schnelle Autos und Achterbahnen haben ihn immer begeistert. Einen Monat später war diese Aufnahme in der Tagesschau zu sehen.
Durch eine enge Tür betritt David den Turm. Innen ist es dunkler und deutlich kühler. In der Mitte sieht er einen Mann auf einem Stuhl sitzen. Er ist daran gefesselt, und sein Mund ist mit Klebeband überklebt. Er schaut David mit großen Augen an.
David geht auf ihn zu. Endlich hat er ein Gesicht, endlich.
Als er spricht, zittert seine Stimme, und mit ihrem Klang kommt die Wut: „Du Dreckschwein also hast Timo getötet.“

Es ist bereits spät am Abend, als das Telefon klingelt.
Mirko lässt es klingeln. Er starrt in die Dunkelheit seiner Wohnung und beobachtet, wie das letzte Licht der Abenddämmerung verschwindet. So muss es in seinem Herz ausgesehen haben, als die Dunkelheit darin Einzug fand.
Einmal nur. Vielleicht ist dann endlich Ruhe.
Was für ein schrecklicher Fehler. Dies war seine Rechtfertigung, um die verbotenen Bilder zu öffnen, und er dachte, damit den Hexenmeister vertreiben zu können.
Im Gegenteil. Im Gegenteil.
In seiner Vorstellung ist es ein alter, ausgemergelter Mann. Er flüstert immerzu, ohne dass Mirko jemals ein Wort verstehen kann. Es ist eine fremde Sprache, doch der Klang reicht aus, um zu wissen, was er möchte. Versuchen. Er möchte Mirko versuchen und ihn an Orte locken, die jenseits einer Grenze liegen. Seine Stimme ist böse und gleichzeitig anziehend, so anziehend. Mit dem Öffnen der Bilder hat er jene Grenze überschritten und befindet sich nun auf der Seite des Hexenmeisters, der nicht mehr flüstert.
Jetzt brüllt er, ohne Unterlass.
Das Telefon hört nicht auf zu klingeln, und irgendwann nimmt Mirko ab.
„Hallo?“ In der Stille der Wohnung klingt seine eigene Stimme fremd.
„Desche? Mirko Desche?“
„Ja. Wer ist da?“
Stille. Mirko hört noch nicht einmal ein Atmen. „Wer ist da?“ Ein dummer Spaß, war ja klar, wer sollte auch zu dieser Zeit –
„Ein Gönner.“
Mirkos Herz gefriert, das Blut stockt in seinen Adern, für einen Augenblick bleibt die Zeit stehen.
„Wer?“
„Sie haben schon verstanden. Wir wissen Bescheid. Über alles.“
Wir?
Mirko sinkt in sich zusammen. Plötzlich sieht er seinen eigenen Tod vor sich; er weiß, dass er diesen Schlag nicht überleben kann.
„Sind Sie – von der Polizei?“
„Machen Sie sich nicht lächerlich. Wenn wir von der Polizei wären, würden wir nicht anrufen. Hören Sie zu, Desche. Wenn Sie unsere Anweisungen befolgen, wird die Polizei nichts von Ihnen und Ihren Taten erfahren. Sind Sie interessiert?“
„Ja“, antwortet Mirko sofort, doch er keucht so stark, dass es kaum zu verstehen ist.
„Das ist gut. Sehr gut sogar. Es ist klug, zu kooperieren.“
Mirko spürt Schmerzen, als sich seine Hand um den Hörer krampft, doch er kann die Finger nicht entspannen.
„Passen Sie auf. Sie steigen jetzt in Ihren Wagen und fahren an folgenden Ort.“

Es war ihr Lächeln, in das er sich sofort verliebte, als er sie vor über fünfzehn Jahren das erste Mal traf. Seitdem begleitet ihn dieses Lächeln durch sein Leben und ist fester Bestandteil sowohl der großen Ereignisse – ihrer Hochzeit, der Geburt von Timo – als auch der kleinen, intimen Momente.
Heute sieht David dieses Lächeln nur noch auf Fotos. Er erinnert sich sogar an den Moment, als er es zum letzten Mal in der Wirklichkeit sah: Das war vor fünf Monaten, als sie von einem Ausflug mit ihrer Schulklasse zurückkam.
Sie sagte: „Oh Mann, du glaubst nicht, was das für ein schöner Tag war, wir haben –“
Er sagte: „Timo ist nicht nach Hause gekommen.“
Sie sagte: „Was?“
Er sagte: „Timo ist nicht nach Hause gekommen.“
Und dann verschwand das Lächeln und ist seitdem nicht zurückgekehrt. Manchmal denkt David, sie habe es zu Timo in den Sarg gelegt, um ihm ein wenig Hoffnung zu schenken.
Jetzt blickt ihn Kerstin mit aufgequollenem Gesicht an. Ihre Augen sind verweint, die ungepflegten Haare stehen zu allen Seiten vom Kopf ab.
„Du hast ihn gehen lassen?“, schreit sie. „Bist du wahnsinnig?“
„Kerstin, beruhige dich“, sagt er im Bewusstsein, vielleicht einen Fehler begangen zu haben.
Sagen Sie es niemandem, hat Herr J. gewarnt. Das muss Ihr Geheimnis bleiben. Doch welcher Mensch kann ein solches Geheimnis beherbergen?
„Wer ist es?“, fragt sie, die Stimme scharf wie ein Rasiermesser.
„Das hat er nicht gesagt -“
Sag mir wer es ist!“ Sie steht vor ihm, nur ein Schatten aus alten Tagen, und schlägt mit ihren Fäusten auf seine Brust, schwach, so erschreckend schwach.
David lässt es über sich ergehen. Irgendwann sinkt sie vor ihm auf den Boden, beinahe zu erschöpft zum Weinen.
„Er hat nicht gesagt, wer es ist. Er hat nur gesagt, er kennt den Mann.“
Immer ist es der Mann. Niemals der Täter. Oder gar Timos Mörder.
„Wie kann er das?“, schluchzt Kerstin zu seinen Füßen. „Wie kann er ihn kennen?“
David zittert am ganzen Körper. Dieses Zittern setzte sofort nach der Begegnung mit Herr J. ein und hält bis jetzt an.
„Er hat gemeint, er arbeitet für eine privat finanzierte Organisation. Offiziell kennt man sie nicht, doch sie haben wohl starke Sponsoren. Sie ermitteln bei Verbrechen, keine Ahnung, sie finden die Täter, wo die Polizei schon aufgibt.“
Natürlich hat die Polizei nicht aufgegeben, doch es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis sie die SOKO Timo irgendwann von ihrer heutigen Stärke von fünfzig Mann reduzieren – und eines Tages ganz auflösen.
Kerstin blickt zu ihm hoch. „Wir müssen zur Polizei. Wir müssen das der Polizei sagen.“
David leckt sich über die Lippen. „Warte, Kerstin. Warte mal. Dieser Mann hat gesagt, dass wir das auf keinen Fall dürfen, ansonsten wird er uns nicht mehr kontaktieren. Er sagt, die Gefahr ist zu groß, dass ihre ganze Organisation auffliegt. Aber er hat mir versprochen, mich zum Täter zu bringen. Das hat er mir versprochen! Verstehst du?“
Sie sieht nicht aus, als ob sie versteht. „Warum -?“
„Er sagt, er will Gerechtigkeit. Deshalb geht er auch nicht zur Polizei. Er sagt, die kann nicht für Gerechtigkeit sorgen. Er will mir selbst die Möglichkeit geben, den Täter zu bestrafen. Nur mir. Er will mich zu einer Gegenüberstellung bringen. Dann sehe ich ihn. Verstehst du?“
Ihr Blick klart ein wenig auf. „Du sollst den Täter bestrafen?“
David nickt. „Ja, das hat er gesagt.“
„Aber wie?“
„Das weiß ich auch nicht. Er hat nur gemeint, er meldet sich wieder. Mehr hat er nicht gesagt.“
Wieder beginnt Kerstin zu weinen. „Warum hast du ihn nur gehen lassen? Was, wenn er sich nicht mehr meldet? Was dann?“
David beugt sich zu ihr hinunter, nimmt ihr Gesicht in seine Hände und dreht es zu sich. „Das wird er. Weshalb hätte er sonst überhaupt zu mir kommen sollen? Hör zu, es ist wichtig, dass du das niemandem erzählst. Niemandem, verstehst du? Das ist jetzt unser Geheimnis, und wir schauen, wie es sich entwickelt.“
Er erinnert sich an seine Geschichte, sein Märchen, das er Kerstin erst vor kurzem erzählte. Ein Schauder ergreift seinen Körper und lässt ihn frösteln.
„Vor allem“, sagt er, „müssen wir jetzt ganz genau überlegen, was wir tun.“

Über die dampfenden Schüsseln mit Mais und Nudeln fällt sein Blick immer wieder auf den neuen Freund der Schwester. Ihm wird schlecht bei diesem aufgesetzten Grinsen, doch die Eltern lassen sich täuschen. Wie dumm sie doch sind.
Er hält sich zurück und spricht nur das Nötigste. Auch wenn die Wut in ihm rüttelt wie ein Gefangener an den Stangen seines Käfigs, bleibt er nach außen ruhig, wie immer.
„Die Frage ist jetzt“, sagt der Schönling und tupft sich mit einer Serviette über die Lippen, „ob es eine Legitimation dafür gab. Und nicht nur das, man muss hier zwei Aspekte berücksichtigen.“ Er spricht über Politik und begeht damit einen Fehler, den man beim ersten Besuch bei den Eltern der Freundin vermeiden sollte. Doch es ist seit einiger Zeit das beherrschende Thema. „Zum Einen stellt sich die Frage nach der rechtlichen Legitimation. Hier muss man nicht lange diskutieren, der Fall ist klar: Es gab keine. Der andere Punkt ist die moralische Betrachtung. Darf ein Land, das sich selbst Rechtsstaatlichkeit auferlegt, in ein anderes Land marschieren und einen Bürger dieses Landes rechtswidrig exekutieren? Auch hier ist die Antwort klar: Sie dürfen es nicht, ganz gleich, unter welchen Umständen. Daher ist diese Aktion mit Nachdruck zu verurteilen.“
Die Mutter lächelt, der Vater nickt. Schwächlinge, allesamt. Fallen auf diese gestelzten Worte rein. Er kann nicht verstehen, dass sie –
„Es ist doch das Natürlichste auf der Welt.“ Er ist überrascht, als er sich sprechen hört. Vier Augenpaare richten sich auf ihn.
„Bitte?“
„Ich sage, dass es ganz natürlich war, was die Amis gemacht haben. Es war ihr gutes Recht.“
Die Schwester verdreht die Augen. „Jetzt geht das wieder los.“
„Einen Augenblick“, sagt der Freund, als gebe es hier etwas zu regeln. „Recht sprechen darf nur die Judikative. Die Gesetze – insbesondere die Verfassung und die Menschenrechte – erlauben keine Ausnahme. Wenn man beginnt, dies zu missachten, ganz gleich aus welchem Grund, wird man das immer wieder tun.“ Er blickt in die Runde, setzt ein schuldbewusstes Lächeln auf. „Und gerade unsere eigene Geschichte hat uns ja gezeigt, wo so etwas endet.“
Das kleine Gefängnis, in das er seine Wut pfercht, droht zu bersten.
„Kennst du Mike Godwin?“
„Wen?“
„Nicht so wichtig. Vergiss es. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass die Judikative“ - auf dieses Wort legt er eine spöttische Betonung - „irgendwelche Urteile fällt. Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun, weil ein Verbrechen immer etwas Persönliches zwischen Opfer und Täter ist. Und nur das Opfer kann den Täter der Gerechtigkeit nach richten.“
„Er lebt in seiner eigenen Welt“, sagt die Schwester. „Er hat mal eine Schularbeit geschrieben mit dem Titel Die gerechte Gesellschaft. Da steht so Stuss drin. Sein Gemeinschaftskundelehrer hat ihm dafür eine Fünf gegeben. Wahrscheinlich hat er darüber gelacht.“
Er hätte gute Lust, ihr die Gabel ins Auge zu rammen. Weshalb muss sie das jetzt erwähnen?
„Soll das heißen, in einer 'gerechten' Gesellschaft herrscht Selbstjustiz?“ Der Schönling sieht aus, als wurde er gebeten, einem Erwachsenen die Uhr zu erklären.
„Ganz und gar nicht. Selbstjustiz besagt, dass der Bürger das Recht selbst in die Hand nimmt und eigenverantwortlich handelt, abseits staatlicher Kontrolle und Gesetze. In einer gerechten Gesellschaft“ - hier straft er die Schwester mit einem bösen Blick - „sorgt der Staat selbst dafür, dass das Opfer den Täter bestrafen kann. Die Strafverfolgung liegt in staatlicher Hand, doch statt vor ein Gericht wird der Täter zu seinem Opfer geführt, und dieses entscheidet – unter staatlicher Aufsicht – über die Strafe, und führt diese auch gleich selbst aus. Dies ist das einzige Gesetz. Das ist genau das Gegenteil von Selbstjustiz.“
„Eine etwas seltsame Philosophie, die du da vertrittst.“
„Warum? Menschen wie Marianne Bachmeier oder Witali Kalojew haben das verstanden.“
Die Mutter seufzt und nennt vorwurfsvoll seinen Namen, doch er lässt sich jetzt nicht mehr bremsen. „Kalojew, kennst du den?“
Kopfschütteln auf der anderen Seite des Tisches.
„Das ist der Russe, der bei dem Flugzeugunglück von Überlingen seine Frau und zwei Kinder verloren und später den verantwortlichen Lotsen erstochen hat. Weil die ach so tolle Judikative überhaupt nichts getan hat. Der Lotse hat über siebzig Menschenleben auf dem Gewissen und wurde nicht einmal offiziell schuldig gesprochen. Was ist das für eine Judikative? Was hättest du getan, wenn es deine Kinder gewesen wären? Schlaue Sprüche geklopft?“
Schweigen zieht über den Tisch, wie immer, wenn die Argumente ausgehen.
„Du musst darauf nicht eingehen“, sagt die Schwester irgendwann. „Er redet immer so wirres Zeug.“
Doch der Schönling lässt das nicht auf sich sitzen. Vermutlich ist er gewohnt, dass jeder bewundernd zu ihm aufschaut und ihm nach dem Mund redet. Eine andere Meinung zu hören scheint ihn zu irritieren. „Und was geschieht in deiner gerechten Gesellschaft, wenn das Opfer – oder einer der Angehörigen im Falle eines Mordes – den Täter nicht bestrafen möchte? Käme der dann ungestraft davon?“
„Ausgeschlossen. Im Gegenteil, es gäbe keine Mörder mehr in unserer Gesellschaft, weil sie alle ihrer gerechten Strafe zugeführt würden. Sie würden alle sterben für ihre Tat.“
„Bitte entschuldigen Sie sein Verhalten“, sagt die Mutter. „Er meint es nicht so.“
Auch der Vater raunzt etwas in seine Richtung. Sie fallen ihm in den Rücken, halten zur Ignoranz. Wie immer lachen sie über ihn.
„Du glaubst wirklich, dass alle Hinterbliebenen die Täter tot sehen wollen? Und sie auch noch selbst umbringen?“
„Ich bin überzeugt davon.“
Die Schwester schüttelt den Kopf. „Das ist so dumm. Das funktioniert nur in einer Welt, in der in jedem von uns etwas Böses steckt. Und so ist es einfach nicht.“
„Es ist nichts Böses. Nur der Instinkt nach Gerechtigkeit, und ja, der steckt in jedem von uns.“
„Rache ist immer etwas Böses. Und um nichts anderes geht es hier, nicht um Gesetze und nicht um Gerechtigkeit. Merk dir das, Bruderherz.“
Rache. Sie versteht noch nicht einmal das Grundsätzliche. In diesem Moment wird ihm klar, dass er sie nicht überzeugen kann.
Vielleicht hat er genug über seine These nachgedacht, geschrieben und gesprochen.
Vielleicht ist es endlich an der Zeit, sie zu beweisen.

Die Schnur schneidet scharf in Mirkos Handgelenke.
Er wimmert, möchte sprechen, traut sich nicht. Natürlich war es ein Fehler, sich ins Auto zu setzen und zu dem alten Wasserturm zu fahren. Er erinnert sich, wie ihn während des Telefonats das Gefühl beschlich, bald zu sterben. Und vielleicht würde er das, hier, an diesem dunklen Ort.
Vielleicht ist er nur deshalb gekommen.
„Ist er fest?“, fragt der Mann mit der Narbe am Kinn. Er ist jung, so jung. Wie kann er nur so jung sein, fragt sich Mirko.
Der andere steht hinter dem Stuhl und gibt keine Antwort, hat vielleicht nur genickt. Mirko spürt, dass er fest ist.
Er will fragen, was sie wollen. Er will wissen, wie sie an seine Telefonnummer kamen. Er möchte so vieles erfahren, aber Schweigen ist die bessere Alternative. Das haben sie ihm klar gemacht.
Der Mann mit der Narbe – offenbar der Anführer – legt seinen Personalausweis auf einen Tisch.
„Er hat das Recht, zu wissen, mit wem er es hier zu tun hat“, sagt er zu seinem Kumpel.
Dann zieht er eine Pistole aus der Tasche, und Mirko spürt, wie seine Blase nachlässt. Er fährt damit über Mirkos Gesicht. „Hör zu, Kinderficker. Das hier ist ein Spiel, verstehst du? So etwas wie ein Experiment. Dir passiert nichts, wenn du mitspielst. Wenn du dich weigerst, bist du dran. Verstanden?“
Mirko nickt, er weiß, dass er so oder so dran ist.
„Also. Wie du weißt, kenne ich deine Vorlieben, du perverses Stück Dreck. Du hast dir von mir und Gott weiß von wem noch diese Bilder schicken lassen. Wer weiß, was du sonst noch alles gemacht hast, Kinderficker.“
Mirko laufen Tränen über das Gesicht. Und jetzt spricht er doch, weil die Wahrheit hier so wichtig ist. „Ich habe nie – ich habe nie ein Kind angerührt. Niemals! Das mit den Bildern, ja, das geb ich zu, und es war ein dummer dummer Fehler. Aber ich habe nie ein Kind angerührt!“
Der Mann mit der Narbe zuckt mit den Schultern. „Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht. Ist vielleicht auch egal, weil wenn du es noch nicht getan hast, tust du es demnächst, wie alle Pädos. Was macht das für einen Unterschied?“
„Ich habe es nie getan und werde es nie tun. Das macht einen Unterschied.“
„Wie auch immer. Hör mir jetzt zu. In etwa zwei Stunden wird ein Mann hier sein, dem du noch nie begegnet bist. Er wird – vermutlich nicht ganz nett sein. Er wird denken, du hast seinen Sohn ermordet.“
„Was?“
„Was auch immer er dich fragt, du wirst zustimmen. Und wenn er dich beschuldigt, den Heiland persönlich ans Kreuz genagelt zu haben, wirst du auch das gestehen. Das sind die Regeln. Wenn du sie befolgst, kommst du davon. Wenn nicht, wird alle Welt erfahren, was für ein perverses Stück Scheiße du bist, als erstes einmal Karolin. Also, hast du das verstanden?“
Mirko versteht überhaupt nichts. Der Mann vor ihm wedelt erneut mit der Waffe. „Mach dir keine Sorgen deswegen. Die ist nur ein Requisit. Nicht geladen. Also Mirko, spiel mit, und dir passiert nichts. Es liegt bei dir.“
Dann verschließen sie seinen Mund mit Klebeband, und die Worte fliegen durch Mirkos Kopf wie ein Komet.
Wenn nicht, wird alle Welt erfahren, was für ein perverses Stück Scheiße du bist.
Als erstes einmal Karolin.

„Du Dreckschwein also hast Timo getötet.“
Die Stimme ist klar, doch das Bild könnte besser sein. Sie sitzen im hinteren Teil des Lieferwagens und blicken auf das Notebook.
„Ich fasse es nicht, dass wir das durchziehen. Ich fasse es nicht“, sagt Dirk.
Jan ignoriert ihn, er klebt mit seinen Augen nur wenige Zentimeter vor dem Bildschirm. Es sind diese Momente, derentwegen Dirk seine Gesellschaft sucht und seine durchaus eigentümlichen Wege mit ihm geht. Hier vermischt sich ein freidenkerischer Geist mit zielgerichtetem Tatendrang, und er ist überzeugt, dass Jan eines Tages Großes vollbringen wird. Er ist Vordenker und Macher zugleich.
„Das Bild ist nicht gut“, sagt Jan.
„Ich weiß. Schlechte Lichtverhältnisse da drin. Aber es reicht, oder?“
Keine Antwort.
Sie haben Monate in die Vorbereitung investiert. Als Jan die Geschichte des kleinen Timo hörte, sprang er sofort darauf an.
Genau das ist es, so ein Verbrechen brauchen wir. Das ist ein emotional, das ist grausam, schau doch nur, wie manche Leute hier gleich wieder nach der Todesstrafe schreien. Das ist perfekt.
Sie beobachten, wie das Opfer dem Täter in den Bauch schlägt – noch bevor er die erste Frage gestellt hat. Jan klatscht in die Hände. „Jawohl, mach ihn fertig!“ Seine Augen glänzen.
Als nach drei Monaten noch immer kein Täter präsentiert wurde, nahm eine vage Idee langsam Gestalt an.
Wir nehmen den Vater. Die Mutter ist zu labil. Wir liefern ihm, was er will, und weil wir ihm das liefern, stellt er nicht zu viele Fragen. Wir behaupten, so etwas öfter zu tun, behaupten, wir kommen von einer Organisation oder so. Es klingt vielleicht nicht glaubwürdig, aber in diesem Moment wird er uns glauben, weil wir diejenigen sind, die ihm geben, was er braucht. Und Menschen glauben immer denen, die ihnen das geben, was sie brauchen.
Ein zweiter Schlag geht in das Gesicht des Täters, und Jan ballt eine Hand zur Faust. „Hast du gesehen?“, kreischt er. „Hast du das gesehen? Es ist noch besser, als ich dachte. Mann, Mann, ich habe Recht. Ich habe Recht! Er bestraft ihn!“
Dann brauchen wir einen Täter. Er muss eine Vorliebe für Kinder haben, so wird es kein großer Verlust für die Gesellschaft, und wir kommen der Wahrheit zumindest nahe. Aber er muss gleichzeitig auch ein normales Leben führen, denn er muss etwas zu verlieren haben. So jemanden finden wir im Internet, und wir schicken ihm einen Trojaner. Dann finden wir heraus, wo er wohnt, und kontaktieren ihn. Und er wird für uns den Täter spielen, eben weil er etwas zu verlieren hat.
Erst jetzt beginnt das Opfer zu sprechen und entlockt dem Täter das falsche Geständnis.
Weil er etwas zu verlieren hat.
Dirks Arme überziehen sich mit einer Gänsehaut angesichts der Perfektion, mit der Jans Plan aufgeht. Keine Frage, hier sitzt ein großer Geist.
Und dann schauen wir, ob das Opfer bereit ist, den Täter zu bestrafen. Wir beweisen meine Theorie, denn ich bin überzeugt, das Opfer wird den Täter hinrichten. Und das Opfer ist in diesem Fall kein Wahnsinniger, kein Psychopath, und es lauert auch nichts Böses in ihm. Er ist ein normaler Mensch, wie du und ich, und genauso wie er würden auch wir in einer gerechten Gesellschaft den Täter hinrichten. Wir alle würden das tun.
Jetzt nimmt das Opfer die Pistole und hält sie dem Täter an den Kopf.
„Scheiße, er drückt ab. Er drückt ab, wetten?“
Dirk hat sich noch vor wenigen Minuten selbst überzeugt, dass genau ein Schuss im Magazin ist.
Und wenn er ihn tötet, haben wir nur Gutes getan. Das Opfer wird seinen Frieden finden, es gibt einen Kinderficker weniger auf der Welt, und das Wichtigste – ich habe einen Beweis, dass ich im Recht bin. Dass meine Gesellschaft funktioniert.
Das Opfer drückt den Lauf der Waffe fest auf den Kopf des Täters. Selbst bei den schwachen Lichtverhältnissen ist das Zittern seiner Hand nicht zu übersehen. Dirk spürt, wie seine Knie weich werden. Er blickt kurz zu Jan; dieser scheint kaum mehr zu atmen.
Plötzlich beugt sich das Opfer erneut zu dem Täter hinunter und flüstert etwas in dessen Ohr.
„Was sagt er da?“, kreischt Jan. „Was hat er gesagt? Ich will das hören!“
Dirk fummelt am Lautstärkeregler, doch dieser ist bereits voll aufgedreht.
„Ich hab es nicht hören können. Aber wir haben es ja aufgezeichnet. Vielleicht können wir nachher -“
Doch er spricht den Satz nicht zu Ende, denn in diesem Augenblick passiert zum ersten Mal an diesem Nachmittag etwas völlig Unerwartetes.

„Hör mir zu, Kerstin, ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Ein Märchen. Ich habe davon geträumt.“
Im Dunkel des Wohnzimmers kann David nicht einmal Kerstins Gesicht sehen, doch anhand ihrer Körperhaltung vermutet er, dass sie noch wach ist. Als sich vor etwas mehr als einer halben Stunde das letzte Tageslicht zurückzog, waren ihre Augen wenigstens halb offen. Mehr kann er bei den Tabletten und dem Alkohol nicht erwarten.
Es ist ihre Art, damit umzugehen. Ihre Flucht aus der Realität.
Nach Timos Tod begann sie, überall in der Wohnung seine Sachen zu verteilen. Modellflugzeuge, Kuscheltiere, Raumfähren. Inzwischen wirkt die Wohnung wie ein übergroßes Kinderzimmer und beherbergt in jeder Ecke eine Erinnerung. Hin und wieder wird sie durch einen Autoscheinwerfer erhellt, und in diesen Momenten spiegelt sich das Licht in den Augen der Kuscheltiere und lässt sie beinahe lebendig wirken.
„Es war einmal ein Ehepaar, das hatte einen Sohn“, beginnt David, ohne zu wissen, ob Kerstin ihm zuhört. „Es waren arme, aber sehr gerechte Leute. Eines Tages wird ihr Sohn in einen dunklen Wald verschleppt und dort getötet.“
Von Kerstin kommt keine Reaktion.
„Das Ehepaar ist untröstlich, sie wissen nicht, ob sie über den Verlust des geliebten Kindes jemals hinwegkommen. Sie wenden sich an den König und bitten um Hilfe, er möge doch seine Soldaten zur Verfügung stellen, um das schreckliche Verbrechen aufzuklären, doch der König schickt sie weg. Weil sie arm sind, schenkt man ihnen keine Beachtung und lässt sie mit ihrer Trauer allein. Doch weil es gerechte Leute sind, hat Gott Mitleid und schickt ihnen eines Tages einen Engel. Der Engel sagt: 'Ich kann euren Sohn nicht wieder lebendig machen, aber Gott hat Erbarmen und will euch helfen.' Er stellt sie vor zwei Alternativen: Entweder werden sie von Gott viel Kraft und weitere Kinder geschenkt bekommen; sie werden wieder eine richtige Familie und eines Tages sogar glücklich sein, doch der Mord an ihrem Sohn bleibt ungesühnt. 'Oder', sagt der Engel, 'Gott lässt den Täter Höllenqualen leiden und schickt ihn in die ewige Verdammnis. Dort wird er bis an das Ende aller Zeiten im Fegefeuer schmoren, ihr jedoch werdet an der Trauer über den verlorenen Sohn zerbrechen.'“
David wartet auf eine Reaktion von Kerstin, doch sie bleibt aus.
Der Scheinwerfer eines Autos zuckt durch die Dunkelheit und erhellt eines von Timos geliebten Modellflugzeugen.
Wenn ich groß bin, Papa, fliege ich bis über die Wolken. Doch diese Pläne durchkreuzte jemand und stieß ihn stattdessen in ein dunkles Grab.
„Wie würdest du entscheiden?“, fragt David.
Kerstin antwortet; ihre Stimme klingt monoton und schläfrig, gleichzeitig aber auch bestimmt.
Im Grunde seines Herzens war David die Antwort klar. In seinem Traum hat er ebenso entschieden.

„Wie kann er ihn gehen lassen? Wie kann er das tun?
Jan ist außer sich. Er ist aufgesprungen und läuft im Heck des Lieferwagens hin und her.
„Vielleicht ist er nicht überzeugt“, antwortete Dirk. „Oder er hat gerochen, dass was nicht stimmt.“
„Er verschont den Täter? Er spaziert einfach so davon und verschont den Täter? Wie kann er das?“ Jans Stimme überschlägt sich, er packt Dirk am Kragen und zieht ihn nach oben. „Wie kann er das?
„Ich – ich weiß nicht –“, stammelt Dirk.
Jan lässt von ihm ab, sinkt auf seinen Stuhl und fährt sich mit der Hand durch die verschwitzten Haare. Er lacht. „Unglaublich. Ich fasse es nicht. Da präsentieren wir ihm den Mörder seines Kindes, und er haut einfach ab. Wie kann er nur?“
Dirk schweigt. Schlauer Junge. Er kann jetzt ohnehin nichts Richtiges sagen.
„Das spricht nicht gegen meine Theorie. Das besagt nur, dass wir es hier mit einem Geisteskranken zu tun haben. Die sind natürlich ausgenommen. Nur gesunden Opfern wird erlaubt, die Täter zu bestrafen. Verstehst du?“ Wieder lacht er.
Dirk nickt, doch Jan sieht die Zweifel in seinen Augen.
Die Worte der Schwester hallen in seinem Kopf, und zum ersten Mal rütteln sie am Grundgerüst seiner Anschauung.
Das funktioniert nur in einer Welt, in der in jedem von uns etwas Böses steckt. Und so ist es einfach nicht.

Lange nachdem Mirkos Zeitgefühl ihn verlassen hat, betritt einer der beiden Jungen den Wasserturm. Nicht der Anführer, zum Glück nicht.
Mirko weint. Seine Handgelenke schmerzen, die Muskeln in seinen Unterarmen brennen. Er weiß, was jetzt kommt. Nie hat er geglaubt, diese Sache lebend zu überstehen.
Er sieht, wie der Junge ein Messer zückt. Nein, will Mirko schreien, doch im nächsten Moment steht der Junge bereits hinter ihm und durchtrennt die Fesseln. Mirko zieht die Arme nach vorne und blickt ungläubig auf seine Hände. Das Seil hat tiefe Abdrücke in der Haut hinterlassen.
„Hau ab“, sagt der Junge.
Mirko blickt auf. „Was?“
„Hau ab. Mach, dass du verschwindest. Du hast es hinter dir.“
„Ihr – ihr lasst mich gehen?“
Der Junge nickt.
Mirko kann seine Tränen nicht mehr halten, er schluchzt wie ein kleines Kind. „Warum habt ihr das getan? Was sollte das?“
Der Junge sieht sich um, er scheint verlegen zu sein. „Es sollte dir eine Lehre sein“, sagt er schließlich. „Es sollte dir eine Lehre sein, in Zukunft die Hände von Kindern zu lassen. Wenn du auch nur ein Wort von dem erzählst, was hier vorgefallen ist, kommt alles raus. Hast du verstanden?“
Mirko nickt und steht langsam auf. „Ich erzähle es niemandem. Ich schwöre das. Ich werde mich bessern. Ich mach eine Therapie, das wollte ich sowieso schon seit langem machen. Ich – ich hab mich nur nie getraut, wegen Karolin und Tim – wenn sie etwas davon mitbekommen, wird sie mich ihn nie wieder sehen lassen, das weiß ich. Schon jetzt sehe ich ihn praktisch nie.“
„Schon gut. Verschwinde jetzt.“
„Aber jetzt, jetzt mache ich die Therapie. Ich fang von vorne an. Das verspreche ich.“
Obwohl Mirko weiterhin das Bedürfnis hat, seine Einsicht in Worte zu packen und sie so realistischer werden zu lassen, geht er schließlich mit unsicheren Schritten aus dem Turm. Die untergehende Sonne taucht den Himmel in ein tiefes Rot, und Mirko nimmt jede Farbe, jedes Geräusch viel intensiver wahr. Es riecht nach Blumen und frisch gemähtem Gras. Es riecht nach Sommer, nach Leben.
Es ist vorbei, denkt er. Er kann diese Wahrheit kaum fassen, da er seit dem Anruf gestern Abend davon ausgegangen war, den nächsten Abend nicht mehr zu erleben.
Es ist vorbei, und ich habe es überstanden.
Während er sich dies immer wieder sagt, breitet sich eine Wärme der Zuversicht in seinem Körper aus – nicht zu vergleichen mit jenem drängenden Brennen des Hexenmeisters. In diesem Augenblick, als die Sonne in der realen Welt untergeht, erscheint sie in seinem Inneren in neuem Licht. Er ist überzeugt, jedes Problem zu lösen. Für einen Mann, der dem Tod ins Auge gesehen hat, ist keine Hürde zu hoch.
Er wird die lang aufgeschobene Therapie angehen.
Er wird aufhören zu trinken.
Er wird wieder einen Arbeitsplatz finden.
Und vielleicht, ja vielleicht kann er eines Tages auch mit Karolin eine Übereinkunft treffen und erreichen, dass er mehr Zeit mit Tim verbringen darf als ihn nur ein Mal alle vierzehn Tage zu sich zu holen. Vielleicht hört er dann auch endlich auf, sich morgens vor die Schule zu stellen, um einen kurzen Blick auf seinen Sohn zu werfen, den er so sehr vermisst.
Nur einen Augenblick denkt er zurück an die letzten Worte des verzweifelten Mannes; wie ein Schatten legen sich diese über seine innere Sonne, begleitet von einem fernen Grollen.
Jetzt weiß ich, wer du bist.

***​

„Da kommt jemand.“
„Sind sie es? Kannst du sie erkennen?“
„Noch nicht. Moment.“
David sitzt im Keller seines Hauses und trommelt ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. Seine Hand zittert so stark, dass ihm beinahe der Hörer herunter fällt. Gleich wird Kerstin den einen Satz sagen.
Gleich.
Vor ihm liegt angekettet und geknebelt ein spindeldürrer Mirko Desche. Nachdem sie ihn erwischt hatten, war es nicht schwer, sämtliche Einzelheiten über sein Leben in Erfahrung zu bringen. Er gab ihnen sehr bereitwillig Auskunft, vor allem dann, als sie drohten, ihn mit kochendem Wasser zu übergießen.
Er lebt getrennt von seiner Partnerin, das gemeinsame Kind – ein zehnjähriger Junge namens Tim – wohnt bei ihr. Zunächst waren sie skeptisch, ob es sich bei Desche wirklich um diesen Mann handelte, vor allem auch weil er das Verbrechen mit einem Mal vehement abstritt, doch nachdem sie in seiner Wohnung waren, verschwand auch der letzte Zweifel. Er war offensichtlich Alkoholiker und hatte die Kontaktdaten des Präventionsprojekts Dunkelfeld der Charité sowohl in seinem Geldbeutel als auch auf seinem PC. Dort konnte David gelöschte Dateien wiederherstellen, die jeden Zweifel aus der Welt räumten.
Mirko Desche ist pädophil, er hatte die Gelegenheit, und schließlich hatte er den Mord gegenüber David bereits gestanden. Das genügte. Er war Timos Mörder.
„Erkennst du sie jetzt?“
„Noch nicht. Sieht aber so aus, als ob sie es sind.“
Über die Lautsprecher hört David, wie Kerstin den Motor des Geländewagens startet. Ein tiefes, schweres Geräusch. Sein Herz rennt und rennt.
Vor vier Wochen erfuhr Desche zum ersten Mal, was wahre Schmerzen sind – seine Eltern kamen bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Mitten in der Nacht fuhren sie bei Regen auf einer Landstraße. Es gab keine Zeugen, wenn man einmal davon absieht, dass David mit dem Telefon und dem Lautsprecher in Desches engem Verlies saß und sie alles mitanhörten.
„Sie sind es.“
Das ist die Nachricht, auf die David wartete. „Bist du sicher?“
„Klar. Desches Partnerin. Karolin. Und Tim. Kein Zweifel.“
Sie würden ins Gefängnis gehen, das war ihnen klar. Doch welche Rolle spielt es, ein Leben in Gefangenschaft zu verbringen, wenn die innere Welt längst in sich zusammengefallen ist?
Nur noch eine Sache ist entscheidend.
Der Tod wäre zu gut für ihn. Er soll leiden, so wie wir. Wir nehmen ihm nach und nach alles, was er liebt. Ihn aber lassen wir am Leben, damit er erfährt, was wirkliches Leid bedeutet.
David lächelt, er fühlt sich losgelöst von sich selbst, fern seines Körpers, fern seines Gewissens, ein Zustand, in dem nichts mehr eine Rolle spielt. Wie kann ihn noch irgendetwas berühren, wo ihn sein Sohn doch für immer losgelassen hat?
Er blickt in das eingefallene Gesicht von Desche, der nackt vor ihm liegt und panisch in seinen Knebel schreit.
„Dann los“, sagt er und schließt die Augen.
Durch die Lautsprecher hört er, wie der Motor aufheult, immer lauter wird und irgendwann selbst die erstickten Schreie Desches übertönt.

 

die geschichte gibst doch schon hab ich gelesen
So sagt das erstmal gar nuescht - aber den Autor interessiert bestimmt die Quelle (fuer Schwups wuerd ich auch jederzeit die Hand ins Feuer legen): der link wär mal nicht schlecht. Falls jemand den Text tatsächlich geklaut hat, kann Schwups - notfalls mit rechtlicher Unterstuetzung - von dem schlimmern Finger Löschung verlangen (mindestens).

 

Habe Petti zwecks Klärung eine PN geschickt.

die-magd hat ja bereits darauf hingewiesen, dass es diesen Titel schon gibt, es ist der deutsche Titel des Romans "The Darker Side" von Cody McFadyen. Das wusste ich tatsächlich nicht, als ich die Geschichte hier gepostet habe, allerdings hat auch der Roman - zumindest der Inhaltsangabe zufolge - überhaupt nichts mit der Geschichte hier zu tun.

Von daher bin ich sehr daran interessiert, wie der Satz von Petti gemeint war und hoffe auf rasche Klarstellung.

 

Nachtrag: Petti hat mir inzwischen bestätigt, dass besagter Roman gemeint war.

Die Sache ist damit erledigt.

 

Das Meiste ist ja schon angesprochen worden. Was ich an dieser Stelle nur noch loswerden will, ist die Parallele zwischen deinem 'Hexenmeister' und dem 'Dark Passenger' in der US-Serie "Dexter". Der Protagonist setzt sich unumwunden mit jener Dunkelheit auseinander, die nach und nach von seinem gesamten Wesen Besitz ergreift.

Vielleicht hättest du Mirko noch mehr fadenscheinige Rechtfertigungen für seinen Trieb vorbringen lassen können, damit er - zumindest in der eigenen Wahrnehmung - die Opferrolle des Süchtigen und Machtlosen verlässt. Unter Umständen hättest du die Kommunikation zwischen ihm und seinem Hexenmeister noch ein Stück weit interaktiver gestalten können, wobei dies schwierig wäre, ohne dass man etwa bei "Dexter" abkupfern und einen inneren Monolog verwenden würde, im Rahmen dessen der Protagonist mit sich selbst ringt.

Überdies möchte ich hervorheben, wie bemerkenswert ich es finde, dass du deinen Stil stets bedingungslos in den Dienst deiner Erzählung stellst und dich nicht in blumigen Periphrasen ergehst oder gar (peinliche) Stilblüten aus dem Hut zauberst, wie man sie gelegentlich antrifft. Mit anderen Worten: deine Schreibe ist punktgenau, ökonomisch und effizient - wodurch Passagen wie jene mit dem ins Grab gelegten Lächeln umso mehr 'Punch' kriegen.

 

Hallo Schwups,

dass jemand mit deinem Pseudonym so eine Geschichte zu schreiben vermag :D

Ich bin, wie so oft bei solchen Themen, zwiegespalten. Wenn ich den Titel nochmal rekapituliere – Das Böse in uns – ja das trifft uns ja alle. In dieser Geschichte kommt das Böse in mehrfacher Hinsicht vor. Eigentlich sind alle Hauptpersonen irgendwie böse. Insofern trifft der Titel zu. Aber insgesamt ist mir das dann doch etwas zuviel des Bösen. Das wirkt in manchen Szenen schon sehr konstruiert. Das ein Pädophiler, ein irrer Rächer, die Eltern eines Mordopfers aufeinandertreffen und sich alle auf ihre Weise dem Bösen so hingeben, wie du das dargestellt hast, das finde ich schon außergewöhnlich. Eigentlich sind es drei Geschichten, die du erzählt und die meines Erachtens eher zufällig bzw. schon geplant, aber geplant von dir als Autor, weniger aus dem Verlauf der Geschichte heraus, zusammenlaufen und sich im schrecklichen Ende kulminieren. Das ist für mich irgendwie unglaublich, um nicht zu sagen unglaubwürdig.

Da ist einmal der Pädophile, der mit seinen Neigungen kämpft, der seiner Frau und seinem Sohn nachtrauert, die er verloren hat, wohl nicht auf Grund seiner Neigung, da muss noch was anderes gewesen sein, was man aber nicht erfährt. Allein das wäre Potential für eine eigenständige Geschichte.

Dann haben wir den selbsternannten Hobbyjuristen, der glaubt, zu verstehen, wie der Rechtsstaat bzw. gerechte Strafe zu funktionieren hat, der von seiner Familie und dem Freund seiner Schwester, vermutlich einem ausgebildeten Juristen, entsprechend behandelt wird, worüber seine Wut noch mehr wächst. Auch da könnte man gut eine Geschichte über das Entstehen, das Ausleben und schließlich das Scheitern oder den Erfolg seiner hirnrissigen Ideen schreiben.

Und dann haben wir die Opfer, die in ihrer Verzweiflung und im Gefühl des Alleingelassenseins von Staat und Gesellschaft schließlich zu Selbstjustiz am, was sie nicht wissen, in diesem Fall unschuldigen, Täter greifen. Das wäre auch eine Thematik, vor allem den inneren Kampf des Vater, soll man Rache üben oder es der Justiz/der göttlichen Gerechtigkeit überlassen und nochmal neu anfangen? Das ist allerdings in der Traumsequenz, wie ich finde, gut dargestellt. Aber insgesamt könnte man diesen Konflikt auch allein in einer Kurzgeschichte raumfüllend unterbringen.

Du hast diese drei Geschichten zu einer zusammengeführt, ich sage nicht verdichtet, weil das hätte sie einerseits leichter lesbar gemacht, anderseits wäre die Charakterzeichnung vielleicht zu kurz ausgefallen, um Empathie oder eben totale Ablehnung für die Handelnden zu empfinden.

Keine Frage, die Story hat Suspense, sie ist stilistisch gut geschrieben, man sitzt teilweise wirklich entsetzt vor dem gerade gelesenen und hofft auf eine bestimmte Wendung oder befürchtet eine andere. Aber irgendwann wird es mir zu viel des Ganzen. Ständig ist man hin- und hergerissen, wer ist jetzt der eigentliche Böse und mit wem muss man mehr Mitleid oder Mitgefühl haben. Das kann man natürlich als Spannungsmittel ansehen, anderseits verliere ich da die Linie. Vielleicht geht es nur mir so, vielleicht müsste ich die Geschichte öfter lesen. Sicher, Figuren können und sollen sich ja in einer Geschichte entwickeln. Aber hier findet meines Erachtens zu viel auf einmal statt. Um das differenziert und nachvollziehbar erzählen zu können, glaube ich, ist die Form der Kurzgeschichte zu kurz. Ich könnte mir deine Geschichte aber gut als Novelle oder Roman vorstellen. Da kann man die Fäden, die die drei Schicksale verknüpfen gut und langsam aufbauen und zusammenführen. In der Kurzgeschichte kann man das allenfalls anreißen.

Zum Beispiel erfährt man in deiner Geschichte nicht wer der wahre Mörder von Timo ist, nun vielleicht wird er ja tatsächlich nie überführt, aber auch das wäre interessant zu erfahren. Auch über das weitere Schicksal des Rächers, Jan, erfährt man am Schluss nichts mehr. Am Schluss bleibt nur die Rache der Eltern und auch da weiß man nicht, wie die das letztendlich verarbeiten, dass sie selbst zu Mördern werden. Oder auch wie Mirko sein Schicksal verarbeitet – es endet mit einem Schrei. Verstehst du , da würde ich dann wiederum gern mehr erfahren, wie geht es weiter und das würde aber dann den Rahmen der Kurzgeschichte sprengen.

Um als Parabel zu gelten , fehlt mir dann am Schluss irgendein Fazit, irgendeine Erkenntnis. Nein, kein Happy End, solche Geschichten gehen nie gut aus, weil es immer einen Verlierer gibt. Aber das Ende wirkt so – naja, das Böse ist immer und überall (um ein Lied der EAV zu zitieren) und da kann man nichts machen, ist halt so. Das darf eigentlich nicht die Botschaft sein. Wahrscheinlich hast du sie so auch gar nicht so gemeint, will dir da um Gottes Willen nichts unterstellen, und vielleicht muss eine Kurzgeschichte auch gar kein Botschaft haben. Aber wenn man über das Thema „Das Böse in uns“ schreibt, mit so einem Ende – da bleibt ein schaler Geschmack bei mir zurück.

Nix für ungut und schöne Grüße

Fred B

 

Hallo Schwups,

handwerklich ist die Geschichte gelungen. Du hast einen guten Spannungsbogen und einen saubere Sprache, die flüssig und ohne Ruckler zu lesen ist.
Der Aufbau mit mehreren Strängen funktioniert (nur an der Stelle, da David mit J. im Wagne sitzt, da habe ich das Gefühl, dass könnte eigentlich raus, weil nicht wirklich was neues kommt; der Absatz mit Mirko und David zuvor sagt eigentlich alles nötige.)

Jetzt zum Thema/Inhalt:

Ich bin mir nicht ganz sicher, um was es dir geht. Sind mehrere Themen, wenn man so will - Ermordung meines Kindes, Selbstjustiz und eben "Das Böse in uns".

Und ich finde, für jedes dieser Themen hast du die "einfache" Variante genommen.

Erstmal zum Komplex Ermordung meines Kindes, Selbstjustiz - bei dieser Art Geschichte habe ich immer das Gefühl, der Autor schreibt am eigentlichen Problem vorbei. Denn in Wirklichkeit bzw. im absolut größten Teil der Fälle gibt es keine Selbstjustiz, sondern eben ein Gerichtsverfahren oder der Täter entkommt. Und wie Menschen damit zurecht kommen, dass ist für mich das eigentliche Thema. Nicht diese Rachegeschichten. Die können intelligent gestrickt sein und gut ausgeführt, wie hier, aber sie vereinfachen für mich, sie reduzieren in gewisser Weise die Komplexität des Themas - was schade ist. Weil der eigentliche Konflikt ist für mich: Ich will Gerechtigkeit, aber kann der Staat diese bringen? Aber den beschneidest du, indem du sagt, nein, wir machen das Selbst und dann darauf eingehst.
Für das Thema ist Jan sehr interessant. Aber nicht, wenn er sein Experiment startet, dann wird er nur zu einer kalten Wissenschaftlerfigur. Sagen wir so, die Gedanken sind gut, aber in der Ausführung rutschen sie dann ins Horror/Thriller-Genre ab, was ihnen meiner Meinung nach nicht gerecht wird.
Auch das Märchen fand ich gut. Aber in einem anderen Kontext wäre es für mich noch stärker gewesen.

Dann zum Bösen in uns. Auch hier vereinfachst du für mich. Bei Mirko gelingt es dir am besten, obwohl der Hexenmeister für mich etwas klischeehaft wirkt. Aber da ist eben ein Verlangen, das als schlecht erkannt wird und dennoch Macht hat.
Das mit David dagegen und Karolin - das ist wieder reduziert, weil du ihn so ein starkes Motiv gibst, weil du es ihnen so einfach machst, böse zu sein.
Weil um das Böse zu zeigen, muss man sich eben nur die Nazis ansehen, wie da aus normalen Menschen und ohne Not, Böses wird.

Fazit: Du gehst diese Themen für mich von der wohl effektvollsten, aber nicht besten Seite an.

So und um das Ganze zu relativieren. Die Geschichte ist nicht schlecht und ich vermute, du wolltest einfach einen spannenden Thriller schreiben und das ist dir gelungen. Aber ich wollte dir auch nicht vorenthalten, was ich zu dem Thema und der Umsetzung denke.

Gruß,
Kew

 

Hallo zusammen

@tutorialslave

Ich muss deine Antwort im Januar irgendwie übersehen haben, ist mir erst jetzt aufgefallen als die Geschichte wieder nach oben gerutscht ist, sorry. „Dexter“ und „Dark Passenger“ sagt mir leider überhaupt nichts :).

Vielleicht hättest du Mirko noch mehr fadenscheinige Rechtfertigungen für seinen Trieb vorbringen lassen können, damit er - zumindest in der eigenen Wahrnehmung - die Opferrolle des Süchtigen und Machtlosen verlässt.

Dann würde er aber nicht mehr so sehr darunter leiden. Er soll ja ein Opfer seines Triebes sein, ich denke die Sache ist zu ernst, als dass ein geistig gesunder Mann sie mit fadenscheinigen Rechtfertigungen abhandeln könnte.

Überdies möchte ich hervorheben, wie bemerkenswert ich es finde, dass du deinen Stil stets bedingungslos in den Dienst deiner Erzählung stellst und dich nicht in blumigen Periphrasen ergehst oder gar (peinliche) Stilblüten aus dem Hut zauberst, wie man sie gelegentlich antrifft. Mit anderen Worten: deine Schreibe ist punktgenau, ökonomisch und effizient - wodurch Passagen wie jene mit dem ins Grab gelegten Lächeln umso mehr 'Punch' kriegen.

Vielen Dank für das Kompliment und dein Feedback!

@Resi26

Auch dir herzlichen Dank für den Kommentar und die interessanten Gedanken zu der Geschichte. Ich hatte sie nicht mehr so gut im Kopf und musste sie nochmal lesen, würde heute wohl auch ein paar Dinge anders machen. Dazu gehört auch der Schlussabschnitt, nicht seine Intention, aber die Umsetzung.

In dieser Geschichte kommt das Böse in mehrfacher Hinsicht vor. Eigentlich sind alle Hauptpersonen irgendwie böse.

Würde ich so nicht unterschreiben. Ist Mirko böse? Sind David und Kerstin böse? Der einzige, auf den es mMn wirklich zutrifft, ist Jan, aber bei den anderen finde ich es schwieriger.

Das wirkt in manchen Szenen schon sehr konstruiert.

Ja, dem kann ich nicht widersprechen. Ich habe deshalb versucht, jederzeit zu beschreiben, warum die Personen so handeln wie sie es eben tun. Und schliesslich sitzt mit Jan jemand im Hintergrund, der alles irgendwie „konstruiert“, also dass er auf David / Kerstin und insbesondere Mirko trifft ist ja zufällig, und er führt sie dann zusammen.

Und dann haben wir die Opfer, die in ihrer Verzweiflung und im Gefühl des Alleingelassenseins von Staat und Gesellschaft schließlich zu Selbstjustiz am, was sie nicht wissen, in diesem Fall unschuldigen, Täter greifen. Das wäre auch eine Thematik, vor allem den inneren Kampf des Vater, soll man Rache üben oder es der Justiz/der göttlichen Gerechtigkeit überlassen und nochmal neu anfangen?

Ja das ist ein interessanter Punkt. Die eigenen Ansichten über den Rechtsstaat und Gerechtigkeit werden sehr schnell über den Haufen geworfen, wenn aus Aussenstehenden Betroffene werden. Und wer will es ihnen wirklich verübeln? Natürlich geht es nicht, die Täter durch die Opfer bestrafen zu lassen, aber wie soll das Opfer damit umgehen, dass der Täter nach 15 Jahren wieder frei herumläuft?

Ich habe neulich (also lange nach dieser Geschichte) den Film Les 7 jours du Talion gesehen, der ebenfalls dieses Thema behandelt. Darin entführt der Vater eines getöteten Mädchens den bereits durch die Polizei geschnappten Täter, bringt ihn in ein einsames Haus am See und will ihn sieben Tage lang foltern und am Ende töten.

Er foltert ihn auch ziemlich brutal, lässt ihn am Ende aber am Leben. Der Vater wird verhaftet, und am Ende des Films fragt ihn eine Reporterin (sinngemäss), ob es gut war, was er getan hat. Er sagt „Nein“, als sie ihn aber fragt, ob er es nochmal tun würde, antwortet er mit „Ja“. Das finde ich fasst die Situation sehr gut zusammen, und wenn es mir damals eingefallen wäre hätte ich wohl so ein ähnliches Ende für diese Geschichte genommen ;).
Der Film behandelt das Thema viel differenzierter als diese Geschichte, weil er sich – wie du auch hier vorschlägst – nur diesem Thema widmet. Ich gebe dir in dem Punkt recht, dass es hier in der Geschichte eher oberflächlich abgehandelt wird.

Um das differenziert und nachvollziehbar erzählen zu können, glaube ich, ist die Form der Kurzgeschichte zu kurz.

Es ist halt immer auch die Frage, worauf kam es an? Es gibt ja haufenweise Geschichten hier, die auch schwierige Dinge thematisieren (es soll ja schliesslich interessant sein und auch mal zum Nachdenken anregen), über die auch schon ganze Romane geschrieben wurden. Und oft funktioniert das auch in einer Kurzgeschichte, weil immer nur einzelne Aspekte beleuchtet werden. Hier ging es mir – wie du ja selbst feststellst – nicht um eine tiefenpsychologische Analyse; die Geschichte sollte ein hohes Tempo haben, spannend sein und den Leser überraschen.

Zum Beispiel erfährt man in deiner Geschichte nicht wer der wahre Mörder von Timo ist, nun vielleicht wird er ja tatsächlich nie überführt, aber auch das wäre interessant zu erfahren.

Ok, ich finde das nicht. Hat mit der Geschichte selbst ja nichts mehr zu tun.

Auch über das weitere Schicksal des Rächers, Jan, erfährt man am Schluss nichts mehr.

Ja stimmt, aber ich würde mich hier auch schwer tun, dem Leser noch etwas interessantes liefern zu können. Dass er ziemlich verbohrt ist und an seinen Ideen weiterhin festhält wird ja angedeutet.

Am Schluss bleibt nur die Rache der Eltern und auch da weiß man nicht, wie die das letztendlich verarbeiten, dass sie selbst zu Mördern werden.

Ja, wie ich oben geschrieben hatte, den Schluss würde ich heute anders gestalten, vielleicht mehr so in Richtung des Films, den ich oben angesprochen habe. Das ist tatsächlich die bessere Lösung, und David / Kerstin müssten an ihrer „Rache“ letzten Endes zerbrechen, so wie es ja auch im Traum schon angedeutet wurde.

Um als Parabel zu gelten , fehlt mir dann am Schluss irgendein Fazit, irgendeine Erkenntnis.

Es lag nicht in meiner Absicht, eine Erkenntnis zu präsentieren. Wenn der Leser über die Figuren und ihre Handlungen nachdenkt und sich vielleicht an der einen oder anderen Stelle fragt, wie würde ich entscheiden, dann ist schon viel erreicht.

Nix für ungut und schöne Grüße

Wieso für ungut? Ich finde das gute und interessante Gedanken zu der Geschichte.


@Kew

Der Aufbau mit mehreren Strängen funktioniert

Freut mich, da war ich mir nicht sicher ob das ankommt, vor allem weil einer der Stränge ja in umgekehrter Reihenfolge erzählt wird.

Denn in Wirklichkeit bzw. im absolut größten Teil der Fälle gibt es keine Selbstjustiz, sondern eben ein Gerichtsverfahren oder der Täter entkommt. Und wie Menschen damit zurecht kommen, dass ist für mich das eigentliche Thema. Nicht diese Rachegeschichten. Die können intelligent gestrickt sein und gut ausgeführt, wie hier, aber sie vereinfachen für mich, sie reduzieren in gewisser Weise die Komplexität des Themas - was schade ist.

s. dazu meine Anmerkungen zum Kommentar von Resi.
In meinen Augen ist das einfach ein anderer Aspekt desselben Themas. Weniger komplex finde ich ihn nicht, aber wie oben schon geschrieben lässt er sich natürlich ausführlicher darstellen.

Ich will Gerechtigkeit, aber kann der Staat diese bringen?

Ja das ist durchaus eine Kernfrage. Und man kann das weiter ausführen: Wenn der Staat in meinen Augen diese Gerechtigkeit nicht bringen kann, beschaffe ich sie mir dann selbst (dann wird Rache daraus)? In diesem Fall könnte man Jan und Mirko komplett aus der Geschichte kicken und hätte dann einfach die Essenz dessen, was auch im o.g. Film thematisiert wird. Man kann das durchaus machen, aber wie gesagt, meine Intention hier war eine andere.
Sagen wir so, die Gedanken sind gut, aber in der Ausführung rutschen sie dann ins Horror/Thriller-Genre ab, was ihnen meiner Meinung nach nicht gerecht wird.

Könnte daran liegen dass ich ein Faible für diese Genres habe ;). Es ist schon ein Stück weit effekthascherisch, wie gesagt, manche Dinge würde ich heute auch anders schreiben. Ich will dir da gar nicht widersprechen; in meinen Augen ist die Bearbeitung des Themas in dieser Form schon gerechtfertigt, aber natürlich kann man den Schwerpunkt auch anders setzen.

Das mit David dagegen und Karolin - das ist wieder reduziert, weil du ihn so ein starkes Motiv gibst, weil du es ihnen so einfach machst, böse zu sein.

Es ist eine interessante philosophische Frage, ob sie wirklich böse sind. Vermutlich schon, weil sie Unschuldige mit hineinziehen, aber nimm mal an, sie würden „nur“ Mirko foltern und er wäre tatsächlich der Täter? Sind sie dann immer noch böse? Ich finde das ist ein schmaler Grat hier.

Fazit: Du gehst diese Themen für mich von der wohl effektvollsten, aber nicht besten Seite an.

Ja. Ich stimme dir zu, auch wenn „beste Seite“ natürlich immer Geschmackssache ist. Heute würde ich es vielleicht etwas nachdenklicher angehen mit weniger Tempo.

Die Geschichte ist nicht schlecht und ich vermute, du wolltest einfach einen spannenden Thriller schreiben und das ist dir gelungen.

Genau, wie oben geschrieben sollte die Spannung im Vordergrund stehen. Bei einer differenzierteren Betrachtung würde es dann vielleicht auch eher in die Gesellschaftsrubrik passen.

Danke für deine Rückmeldung und Gedanken zu dieser Geschichte!

Viele Grüsse.

 

Hallo Schwups!

Der Text wurde bereits ausführlich analysiert und auseinander klamüsert, daher fasse ich mich kurz und schreibe dir einfach meine Meinung dazu:

Wow.

Das ist das erste mal, dass mir hier eine Geschichte an die Nieren geht. So abgründig, so düster, sprachlich hervorragend.
Die nicht-chronologische Anordnung der Szenen ist sehr gut, es wird immer ein neues Puzzleteil offenbart.
Der Schluss hinterließ bei mir ein ungutes Gefühl in der Magengegend; ich wollte unbedingt zu David und Kerstin und ihnen die Sache erklären - ja, so eindringlich und packend ist deine Geschichte!
Das böse Ende ist angenehm anti-mainstream, und die Tatsache, dass die vorletzte Szene für Mirko so optimistisch ist, macht es noch grausamer.
So einen feinen Thriller habe ich schon lange nicht mehr gelesen (inkl. Gekaufte!), die Empfehlung und Nominierung für die Top 2011 sind wirklich verdient.

MfG
Tim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Tim

Ganz herzlichen Dank für dein Feedback zu dieser Geschichte.

Es ist immer ein schönes Lob für den Autor, bestätigt zu bekommen, dass die Geschichte jemanden unterhalten hat.

Viele Grüsse,
Schwups

 

«Still falls the rain –
Dark as the world of man, black as our loss –
Blind as the nineteen hundred and forty nails
Upon the Cross.»
Edith Sitwell (1940), zitiert nach Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Berlin 2010, S. 301

Und wenn er dich beschuldigt, den Heiland persönlich ans Kreuz genagelt zu haben, wirst du auch das gestehen.

13 Seiten Manuskript unter TNR 12 pt. engzeilig bedeuten ca. 17 Normseiten Manuskript, also wieder Sitzfleisch und Kondition des Konzentrationsvermögens. Aber sei’s drum,

lieber Schwups,

nicht, dass mir das Horrorgenre gefiele – aber für einen, der weiß, dass wir immer noch die Troglodyten von anno Tobacco sind auf freilich technisch höherem Niveau, um sich auch ggfs. nicht nur des störenden Nachbarn zu entledigen, sondern sich selbst als Gattung ratzekahl und zugleich ratzeputz ausrotten zu können, und, wo denn die Vergewaltigung von Frau und Kind durch den Sieger zur Demütigung der überlebenden Besiegten zählt (nicht etwa im fernen Kongo, sondern inmitten des christlichen Abendlands) und das organisierte Verbrechen mit den geweißten Kragen geschäftstüchtig Erfolge einheimst und seine Lobbyisten den Gesetzgeber bei dessen Entscheidungen hilfreich unterstützen, da sollte einen die alte Regel des Auge um Auge und der Blutrache bis ins letzte Glied schwerlich überraschen. Aber darf man Mitleid haben, mit allen, die sich als Opfer gebärden und zugleich als Täter berufen fühlen? Wohl eher nicht.

In einem seiner Kurzcomics des Charles M. Schulz muss Snoopy durch heftigen Regen gehen. Der Beagle denkt dabei in biblischen Ausmaßen, Gott lasse es auf Gute wie Böse regnen. Direkt nach den Bibelstellen stellt Snoopy die trockene, aber weltbewegende Frage, warum aber ausgerechnet auf die in der Mitte.

Gelungen ist auf jeden Fall – um es abzukürzen - die Darstellung, dass das Böse gönnerhaft Böses brandmarkt und das niemand nur gut oder böse sei. Nie sollte aber vergessen werden, dass das Böse sich zunächst in Projektionen des offensichtlich nicht Bösen und umgekehrt des nicht offensichtlich Bösen äußert. Warum geilen sich arme Seelen an pornografischer Phantasie auf? Die Frage darf selbstverständlich dann auch fürs Genre hier gestellt werden – als hätten wir nicht schon auf natürliche Weise genug Fieberschauer und / oder Schüttelfrost. Und wie ist das bei nicht nur labilen Charakteren mit der Identifikation mit dem Bösen? Weil aber schon alles gesagt zu sein scheint, noch einiges, was vielleicht durchgegangen oder verschwiegen worden ist – in der Reihenfolge seines Auftritts:

Mit nacktem Oberkörper und schwitzenden Händen sitzt Mirko vor seinem Computer.
Allein, dass statt des Körpers Hände feucht werden, spricht für Nervosität & Angst, aber können Handinnenflächen für sich schwitzen? Ich weiß es nicht, zweifel aber daran.

Sie enthält eine Liste von etwa zwanzig Bildern, und ohne weiteres Nachdenken klickt Mirko auf das Erste.
M. E. „das erste“ [Bild] , als zugehörigem Substantiv.
Ähnliches findet sich noch einmal weiter unten.

Mirko schlägt die Hände vor sein Gesicht, und während das Sperma auf seinem Körper trocknet, beginnt er laut zu schluchzen.
Boy Scouts bilden einen Kreis ums Lagerfeuer und dann greifen alle Mann an ihre Schläuche, das Feuer zu löschen. Aber von einem so mächtigen Strahl hab ich noch nie gehört. Wird vielleicht mal olympische Disziplin.
Durch das Klebeband hört David sein Wimmern.
Die Präposition/das Adverb „durch“ ist hier mehrdeutig, vor allem lässt es – wie das Pronomen – Fehldeutungen zu (es gibt genug flüchtige Leser, sogar solche, denen es niemals auffiele). Wirkt nämlich nebenbei, als ermögliche gerade das Klebeband, was auch immer zu hören. Ein Klebeband ist kein guter Leiter, ist weder Verstärker noch Hörgerät.
David hört „trotz des Klebebandes“ oder „durch das Klebeband hindurch“ Wimmern, und zwar nicht sein eigenes –
es stünde dann kein „sein“, sondern korrekterweise ein „sich“, doch wer wüsste das schon so einfach zu unterscheiden außer uns beiden, jetzt -
sondern des geknebelten Andern.

„Es tut mir so Leid“, …
Nach der Rechtschreibreform kann „zuleide“ oder „zu Leide tun“ geschrieben werden, nicht aber leidtun. Kleines „leid“ also!

…, dass jemand Bekanntes vorbeikommt, …
Ja, so umständlich spricht man. Aber muss man auch so schreiben? Warum nicht einfach
…, dass [ein Bekannter] vorbeikomm[e], …

Ist noch nicht eingedenglisht, besser: Gully!

Manchmal denkt David, sie hat es zu Timo in den Sarg gelegt, um ihm ein wenig Hoffnung zu schenken.
Besser Konjunktiv, „hätte“, zumindest aber „habe“.
Hier gejt's ähnlich zu:
Er sagt, die Gefahr ist zu groß, dass ihre ganze Organisation auffliegt.

Sie sieht nicht aus, als ob sie versteht.
Sie sieht nicht aus, als [verstehe / verstände] sie […].
Und abschließend nochmals:
Im Dunkel … kann David nicht einmal Kerstins Gesicht sehen, doch anhand ihrer Körperhaltung vermutet er, dass sie noch wach ist.
besser Konjunktiv I "wach sei".

Was sagt Woyzeck zum Freund Andres?
»Ja Andres, das ist er – der Platz ist verflucht. Siehst du den leuchtenden Streif, da über das Gras hin, wo die Schwämme so nachwachsen? da rollt Abends der Kopf, es hob ihn einmal einer auf, er meint' es sey ein Igel, 3 Tage und 3 Nächte, er wurde zwerch, und er war todt. Leise. Das waren die Freimaurer, ich hab' es haus.« Und Freund Andres singt von der schönen Jägerey und dem Hasen wider die Angst in Büchners Woyzeck.

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel

Mensch, jetzt wäre mir vor lauter tiefen Wassern und der Ferienzeit fast dein Kommentar auf eine doch schon etwas ältere Geschichte durch die Lappen gegangen ... also sorry für die späte Rückmeldung.

13 Seiten Manuskript unter TNR 12 pt. engzeilig bedeuten ca. 17 Normseiten Manuskript, also wieder Sitzfleisch und Kondition des Konzentrationsvermögens.

Jepp, da musst du durch bei meinen Geschichten ;).

nicht, dass mir das Horrorgenre gefiele – aber für einen, der weiß, dass wir immer noch die Troglodyten von anno Tobacco sind auf freilich technisch höherem Niveau, [...]

Gut gesprochen, die EAV hat das ja auch mal musikalisch umgesetzt: [ame="http://www.youtube.com/watch?v=7IlUCJfl79M"]http://www.youtube.com/watch?v=7IlUCJfl79M[/ame]

Aber darf man Mitleid haben, mit allen, die sich als Opfer gebärden und zugleich als Täter berufen fühlen? Wohl eher nicht.

Da geb ich dir recht, aber sucht man sich aus, mit wem man Mitleid hat?

Gelungen ist auf jeden Fall – um es abzukürzen - die Darstellung, dass das Böse gönnerhaft Böses brandmarkt und das niemand nur gut oder böse sei.

Ich denke allein über diesen Punkt - und die Frage, was eigentlich "böse" ist und wer das definiert - lassen sich unzählige Bücher schreiben. Manchmal kann man das sehr einfach beantworten, manchmal aber vielleicht auch gar nicht.

Warum geilen sich arme Seelen an pornografischer Phantasie auf? Die Frage darf selbstverständlich dann auch fürs Genre hier gestellt werden – als hätten wir nicht schon auf natürliche Weise genug Fieberschauer und / oder Schüttelfrost.

Der Grat zum Voyeurismus ist sicherlich schmal, aber warum sollte man - auch in diesem Genre - die Augen davor schliessen?
Mit nacktem Oberkörper und schwitzenden Händen sitzt Mirko vor seinem Computer.
Allein, dass statt des Körpers Hände feucht werden, spricht für Nervosität & Angst, aber können Handinnenflächen für sich schwitzen? Ich weiß es nicht, zweifel aber daran.

Ich denke, es schwitzen sogar eher die Innenflächen als die Aussenseiten. In der Geschichte erwähnt sind ja aber nur die Hände.

Danke für die anderen Hinweise, hab die noch eingearbeitet, bis auf:

Sie sieht nicht aus, als ob sie versteht.
Sie sieht nicht aus, als [verstehe / verstände] sie […].
Und abschließend nochmals:
Zitat:
Im Dunkel … kann David nicht einmal Kerstins Gesicht sehen, doch anhand ihrer Körperhaltung vermutet er, dass sie noch wach ist.
besser Konjunktiv I "wach sei".

Ich kann mich an den Stellen hier mit dem Konjunktiv nicht anfreunden. Grammatikalisch mag das richtig sein, aber es klingt einfach allzu seltsam, finde ich.

Was sagt Woyzeck zum Freund Andres?
»Ja Andres, das ist er – der Platz ist verflucht. Siehst du den leuchtenden Streif, da über das Gras hin, wo die Schwämme so nachwachsen? da rollt Abends der Kopf, es hob ihn einmal einer auf, er meint' es sey ein Igel, 3 Tage und 3 Nächte, er wurde zwerch, und er war todt. Leise. Das waren die Freimaurer, ich hab' es haus.«

Ich kann mich nicht mehr genau an den Woyzeck erinnern (haben wir in der Schule mal gelesen, aber das ist lange her ...), aber wenn ich aus dem Wikipedia-Artikel zitieren darf (der wiederum Alfred Kerr zitiert):

Woyzeck ist der Mensch, auf dem alle rumtrampeln. Somit ein Behandelter, nicht ein Handelnder. Somit ein Kreisel nicht eine Peitsche. Somit ein Opfer nicht ein Täter.

dann passt die Thematik auch zu dieser Geschichte.

Vielen Dank Friedel für deinen erfrischenden Kommentar und bis zum nächsten Mal.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Schwups,

unglaublich, dass wir hier jetzt schon Jahre aneinander vorbeileben. Ich hab noch nie einen Text von Dir kommentiert und Du glaub ich noch keinen von meinen. Bei mir liegt's an der Rubrik, in Horror treib ich mich nicht so viel rum. Ich hab bisher von Dir nur einen Text gelesen, "das Loch", aber dabei hab ich mich echt gegruselt. Das hat gut geklappt. Aber hey, schoener Nebeneffekt des Copywrite, dass man seine langjaehrigen Nachbarn mal kennenlernt. :D

Auch praktisch, dass ich mein Auto vor Kurzem aufgeben musste. So fahre ich nun statt einer halben Stunde im Auto, 1,5 Stunden im Bus zur und von der Arbeit (1 Strecke wohlgemerkt) und hatte mir heute fuer die Heimfahrt ein huebsches Schwupspaket geschnuert. Diese Geschichte lag obenauf und weil ich sie nicht kopieren werde, mir aber trotzdem Gedanken dazu gemacht habe, kommentier ich die jetzt.

Also erstmal: Ich werd sie nicht kopieren, weil mir das Kinderfickerthema grundsaetzlich fies ist. Also klar, ich find Missbrauch jeder Art schlimm und finde auch, dass da Aufklaerung und oeffentliche Debatten sehr wichtig sind. Aber die Art und Weise wie das Thema in unserer Gesellschaft oft behandelt wird, ist mir echt unangenehm. Zum einen hab ich das Gefuehl, dass Kinderficker so zum Pruegelknaben aller gemacht werden. Dabei geht es mir weniger darum, dass die echten Kinderficker mir dafuer so leid tun (tun sie nicht), sondern darum, dass mir die Gruende dieses Bashings der offensichtlich konstruieren Kinderfickerfigur oft zwielichtig erscheinen. "Der Kinderficker" ist so nach allgemeinem Konsens das allerunterste Element der Gesellschaft, noch unter Nazis und Moedern und unter einfachen Erwachsenenvergewaltigern schon eh. Der fungiert dazu, dass sich selbst der niedrigste Wicht, der seine eigenen Kinder taeglich verpruegelt und auch der Meinung ist, eine 18-Jaehrige im kurzen Rock duerfe sich nicht wundern, wenn sie vergewaltigt wird, sich noch moralisch erhaben fuehlen kann. "Dem Kinderficker" gegenueber sind ploetzlich Haltungen erlaubt, die sonst indiskutabel waeren - man kann lauthals nach Kastration und Lynchjustiz und Todesstrafe schreien und es ist irgendwie akzeptabel, wird teilweise sogar beklatscht - vor einiger Zeit musste ich ne Bekannte von der Schule auf Facebook entfreunden, weil die immer son Mist gepostet hat. Ich frag mich immer, worum es solchen Leuten bei sowas geht, um die Opfer, oder darum sich selbst zu profilieren? Als muesse man staendig vor sich hertragen wie abscheulich man Sex mit Kindern finde; als sei das nicht selbstverstaendlich. Na ja, insofern hast Du die Themen Selbstjustiz und Kinderficker schon gut verknuepft - ist halt immer so ein Paradefall an dem man das Thema im Extrem, also am schlimmsten aller Unmenschen durchspielen kann.

Auf der anderen Seite gibt es in der U-Kultur kaum ein Thema, an dem sich das Publikum so aufgeilt, wie an Kindesmissbrauch. "Sexgangster" sind immer das Groesste. Top Themen in der Presse und verkaufstraechtige Sujets in Literatur und Film. Und da muss alles moeglichst grausam, detailreich und reisserisch aufbereitet werden. Ist ja auch kein Zufall, dass ausgerechnet die "Special Victims Unit" von Law and Order mittlerweile eine eigene Sendung ist. Ich hab mal "Der Vogelmann" von Mo Hayder gelesen, halb zumindest, wie da die abartigsten Folterdetails an Kindern genuesslich ausgebreitet werden. Da muss man sich als Leser doch schon fragen, warum man sowas liest. Um sich aufklaeren zu lassen sicher nicht. Um zu lesen, wie der Moeder gestellt wird und um sich moralisch zu eschauffieren, moeglicherweise. Um sich dabei, huebsch eingemummelt auf dem Sofa, irgendeine Art von Kick zu holen, bestimmt. Und wenn unsere Gesellschaft da einerseits so nen Nervenkitzel aus Kindesmissbrauch und -folter zieht und dann andererseits nach Todesstrafe kraeht, find ich das so verlogen, dass mir schlecht wird.

So, das hat jetzt alles nur peripher mit Deinem Text zu tun. Du bleibst ja sehr dezent, auch mit dem Bild der beiden Jungen, was ich sehr gut finde. Aber es waren so die Gedanken, die Deine Geschichte auf der langen Busfahrt in mir ausgeloest haben. Und das ist auch der Grund, warum ich diese Geschichte nicht kopieren werde. Ich haette das hier jetzt aber auch nicht geschrieben, wenn ich nicht auch das Beduerfnis gehabt haette, zu Deiner Aufbereitung des Themas was zu sagen.

Also:

Zum Stil kann ich gar nicht so viel sagen. Der ist sehr sauber, mir persoenlich sogar eine Spur zu glatt. Gerade am Anfang diese Markoszene mit dem Trieb als Feuer, das ist mir von der Metaphorik etwas konventionell. Der Hexenmeister und dieser "Oh Gott"-Ausruf dann wieder zu pathetisch. Da kommt mir die Figur nicht wirklich nahe. Auch David bleibt mir irgendwie fremd.

Ich weiss, dass er sich fuer die Rache-Seite entscheidet, aber wie das genau vor sich geht, wie ein Familienvater ein Kind in den Tod schicken kann, bleibt mir letztlich im Dunkeln, das bleibt zu ausserlich irgendwie. Das Ende ist mir insgesamt zu krass - da verliert der Text fuer mich an Glaubwuerdigkeit und Relevanz.
Was ich ziemlich gut finde ist die Verknuepfung der Szenen, einmal sogar mit Cliffhanger - man verliert nie die Orientierung. Ich find auch gut, wie Deine Sprache die Handlung vorantreibt. Handlung ueberhaupt - da bin ich ja immer neidisch. Werde versuchen das zu kopieren. Das Schnoerkellose ist durchaus reizvoll.
Aber mein Hauptkritikpunk, warum ich ueberhaupt anrufe, liegt in der Plotkonzeption. Du waehlst Dir mit Selbstjustiz ein sehr komplexes Thema, das wirklich so in die Grenzbereiche der Moral vordringt. Vordringen koennte. Denn Du ziehst es m.E. nicht konsequent durch. Du gehst nicht dahin, wo es wehtut, wo der Leser sich selbst schwierige Fragen stellen muss und evtl. keine eindeutige Antwort finden wird.
Das liegt einmal daran, dass der Kinderficker hier gar kein aktiver Kinderficker ist, und zum zweiten daran, dass die beiden Racheeltern es mit dem Mord an Mutter und Kind einfach uebertreiben. Damit hab ich als Leser kein Problem mehr, da kann ich eindeutig verurteilen. Selbst ein grundsaetzlicher Befuerworter von Selbstjustiz haette kein Problem damit festzustellen, dass Unschuldige zu bestrafen und ihre Angehoerigen zu meucheln (nicht etwa im Affekt zu erschlagen sondern kaltbluetig zu ermorden!) doof ist. Da laesst Du Dein Publikum vom Haken. Die besten, das heisst am meisten zum Nachdenken anregenden Filme ueber Todestrafe sind nicht die, in denen der Verurteilte unschuldig sondern in denen er schuldig ist. Das fuehrt einen an die eigenen Grenzen. Der Kinderficker haette wirklich einer sein muessen und die Strafe haette "angemessen" ausfallen muessen, damit man diese Schraube haette anziehen koennen. Denn das ist doch die wirklich interessante Frage: Ist es jemals okay Selbstjustiz zu begehen, selbst wenn es sich um Rache fuer das denkbar abscheulichste Verbrechen am denkbar schuldigsten Taeter handelt?

Eine weitere Frage, die Du reinbringst ist die, ob jeder Mensch etwas Boeses in sich traegt. Und auch hier finde ich, dass Du die Frage nicht richtig zuspitzt. Dadurch, dass die Rache so ueberzogen ausfaellt, kann ich mich nicht mehr damit identifizieren, muss mich nicht fragen, ob ich selbst zu sowas faehig waere. Eindeutig nein, dafuer muss man verrueckt sein. Da waere weniger sicherlich mehr.


Ich hab noch ueberlegt, ob ich hier kommentieren soll. Wollte ja nicht direkt die froehliche Copywrite-Atmosphaere verstaenkern. Aber es hat mich doch beschaeftigt, deshalb musste es raus. Aber morgen les ich gleich weiter und finde bestimmt etwas, was mir mehr gefaellt (wie gesagt "Das Loch" - super gruselig). Und dann wird eine liebevoll und puenktlich gezimmerte Kopie hoffentlich fuer das Gemecker entschaedigen. :shy:

lg,
fiz

 

Hallo fiz

unglaublich, dass wir hier jetzt schon Jahre aneinander vorbeileben.

Nun, ich habe dich schon wahrgenommen, aber es stimmt, in unseren Geschichten sind wir uns bislang noch nicht begegnet. Das muss aber wirklich an den Genres liegen, ich hab gesehen deine letzten Geschichten waren oft in der Kreativwerkstatt, wo ich bis zur ersten Maskenball-Geschichte noch gar nichts kommentiert hatte, und bei Romantik / Erotik, wo du auch schon gepostet hast, bin ich ein wirklich ganz ganz seltener Gast.

Aber hey, schoener Nebeneffekt des Copywrite, dass man seine langjaehrigen Nachbarn mal kennenlernt. :D

Absolut, sehe ich genauso!

"Der Kinderficker" ist so nach allgemeinem Konsens das allerunterste Element der Gesellschaft, noch unter Nazis und Moedern und unter einfachen Erwachsenenvergewaltigern schon eh.

Ich stimme mit dir absolut überein, was du in diesem Absatz schreibst. Im Gefängnis sieht man das auch ganz gut: Dort gibt es ja auch diese Ranglisten, und man wird seinem Verbrechen entsprechend eingeordnet. Da kannst du dann am ersten Tag mit deinen Einweisungspapieren zum Rangobersten gehen, und dann wird erstmal geschaut, wo in der Hierarchie du dich einzuordnen hast. Bei Verbrechen gegen Kinder, insbesondere Vergewaltigung und Mord, stehst du ganz unten. Mörder von Erwachsenen sollen, nach dem was ich gehört habe, übrigens recht weit vorne rangieren.

"Dem Kinderficker" gegenueber sind ploetzlich Haltungen erlaubt, die sonst indiskutabel waeren - man kann lauthals nach Kastration und Lynchjustiz und Todesstrafe schreien und es ist irgendwie akzeptabel, wird teilweise sogar beklatscht - vor einiger Zeit musste ich ne Bekannte von der Schule auf Facebook entfreunden, weil die immer son Mist gepostet hat.

Ja, das ist richtig. Aber es liegt halt auch daran, dass diese Verbrechen immer sehr emotional sind und in den Medien dann auch entsprechend ausgeschlachtet werden. Wird ja dann auch oft von Rechtsradikalen instrumentalisiert, die in diese Orte einfallen und nach der Todesstrafe schreien.

Ich finde es wichtig, dass auch bei solchen Verbrechen rechtstaatliche Prinzipien greifen, habe aber auch Verständnis für Betroffene (wohlgemerkt), die das anders sehen. Letzen Endes ist ja auch das eines der Themen in dieser Geschichte.

Ich hab mal "Der Vogelmann" von Mo Hayder gelesen, halb zumindest, wie da die abartigsten Folterdetails an Kindern genuesslich ausgebreitet werden. Da muss man sich als Leser doch schon fragen, warum man sowas liest.

Der Vogelmann kenne ich nicht. Mir fällt The Girl Next Door von Jack Ketchum ein, das ja sogar auf einer wahren Begebenheit beruht. Ja, warum liest man sowas? Das ist immer die Frage bei solchen Themen ... ich kanns von The Girl Next Door sagen, ich finde da wird ein gesellschaftliches Thema literarisch aufbearbeitet. Es geht auch nicht so sehr um das Opfer und die immer widerlicheren Foltermethoden, die Geschichte liefert auch einen Erklärungsversuch, weshalb ein so scheussliches Verbrechen inmitten einer kleinstädtischen Idylle passieren kann. Und sie liefert ein gesellschaftliches Bild dieser Zeit und zeigt auch auf, welche Umstände ein solches Verbrechen begünstigen.

Das regt zum Nachdenken an, und dann hat es ein solches Thema auch verdient, umgesetzt zu werden. Dann geht es über den blossen Gewalt-Voyeurismus hinaus, der bei diesem Thema sicher in viele Umsetzungen sicher auch eine Rolle spielt.

Ich weiss, dass er sich fuer die Rache-Seite entscheidet, aber wie das genau vor sich geht, wie ein Familienvater ein Kind in den Tod schicken kann, bleibt mir letztlich im Dunkeln, das bleibt zu ausserlich irgendwie. Das Ende ist mir insgesamt zu krass - da verliert der Text fuer mich an Glaubwuerdigkeit und Relevanz.

Ja man hätte das sicher dezenter machen können. Ich will dem nicht widersprechen, und wahrscheinlich bin ich dann bei der Figur auch zu oberflächlich, um das richtig zu vermitteln. Ich selbst kann mir die Verzweiflung eines Menschen, dessen Kind das Opfer eines solchen Verbrechens wurde, gar nicht vorstellen. Aber ich kann mir vorstellen, dass damit auch das moralische Gefüge vollständig zusammenbricht. Darum geht es hier ja auch, dass die Welt komplett in sich zusammenstürzt. Ähnliches geschieht auch mit Soldaten in einem Krieg. Wer kann da noch sagen, wie die Menschen reagieren? Sicher, die Reaktion ist sehr extrem, aber für mich auch nicht ganz unwahrscheinlich.

Was ich ziemlich gut finde ist die Verknuepfung der Szenen, einmal sogar mit Cliffhanger - man verliert nie die Orientierung.

Das war schon die Idee (es sollten eigentlich auch mehr als ein Cliffhanger in der Geschichte sein :)). Ich hab da ja auch ein bisschen mit den Zeiten gespielt, also die Stellen von David sind ja in zeitlich umgekehrter Reihenfolge erzählt.

Denn Du ziehst es m.E. nicht konsequent durch. Du gehst nicht dahin, wo es wehtut, wo der Leser sich selbst schwierige Fragen stellen muss und evtl. keine eindeutige Antwort finden wird.

Ich weiss es nicht mehr sicher, aber ich glaube, das war auch damals nicht so sehr der Fokus. Ich glaube, man könnte da noch viel aus dem Thema herausholen, was jetzt nicht im Text drinsteckt (auch Jans Idee von einer Gesellschaft, in der ein Opfer den Täter selbst bestraft, finde ich nach wie vor interessant). Vermutlich würde ich den Text heute auch anders schreiben. Und vielleicht würde ich heute auch genau deinen Punkt kritisieren, wenn jemand anderer den Text einstellen würde.

Aber es hat mich doch beschaeftigt, deshalb musste es raus.

Ich finde es auch schön, wenn ältere Texte nach wie vor gelesen - und kommentiert - werden.

Und dann wird eine liebevoll und puenktlich gezimmerte Kopie hoffentlich fuer das Gemecker entschaedigen.

Als Gemecker hab ich das gar nicht empfunden. Von daher gab es nichts zu entschädigen, aber die Kopie hat mir trotzdem gut gefallen :)

Viele Grüsse,
Schwups

 
Zuletzt bearbeitet:

http://www.kein-taeter-werden.de
Diesen Link habe ich ausgegraben, als ich nach den Ursachen für Pädophiles Verhalten gegoogelt habe. Mirko hätte sich dort Hilfe holen können, anstatt Pornos anzuschauen.
Hallo Schwups,
feirefiz hat diese Geschichte ausgegraben und mir fiel auf, dass ich deine Geschichte kenne, aber nicht kommentiert habe. Mir ist das Thema der Pädophilen auch unangenehm. In unserer Lokalpresse ist das Thema Kindesmissbrauch zu oft zu lesen gewesen, es geht um die Wiedergutmachung. Ich frage mich, wie kann je durch Wiedergutmachung den Opfern Gerechtigkeit gegeben werden. Wie soll mit den Tätern verfahren werden, wenn die Vorfälle verjährt sind und unsere Gesetze lückenhaft bleiben. Auch der runde Tisch war bislang enttäuschend für die Opfer. Was sind das für Menschen, die Kinder missbrauchen. Sind sie wirklich soweit zu verachten, dass ihnen die Menschenrechte abzuerkennen sind? Die Ursache soll in einer verzögerten Entwicklung des limbischen Systems liegen. Ist jemand schuldig zu sprechen für einen Trieb, den er nicht beeinflussen zu vermag, oder nur schuldig zu sprechen, weil er sich nicht zu erkennen gegeben hat, als er die Gelegenheit dazu hatte.
Nun zu deiner Geschichte!
Der Titel hat mich erinnert an die Fremde in dir. Letztendlich ist der Focus deiner Geschichte mit das Böse in uns nicht auf den Bösen Kinderficker gelegt worden, sondern auf die Wandlung der Opfer zu Tätern. Gerade in diesem Film wird deutlich wie sehr sich das Gerechtigkeitsempfinden verschiebt, wenn Missetäter zu den Opfern Zählen. In der Öffentlichkeit nehmen wir wahr, dass denen die gerechte Strafe erteilt wurde. Kein Bedauern mit dem Opfer. Die Tragik ist jedoch, dass die Selbstjustiz ehemalige Opfer dann auch zu Tätern gemacht hat. Sie mögen ihre Gründe vor sich moralisch rechtfertigen können. Oder etwa doch nicht?
Diese Geschichte ist sehr "böse", als das es um , ich nenne es, "erweiterte Selbstjustiz", geht. Irgendwie tragisch ist, dass der falsche Mann bestraft wird, indem dessen Frau und Kind getötet werden und die eigentlichen Opfer sich zum Täter gewandelt haben. Was unterscheidet sie dann noch? Was passiert mit Ihnen, wenn sie erfahren, dass Mirko ihren Sohn nicht missbraucht und getötet hat? Hierzu hätte ich mir noch mehr Geschichte gewünscht.

LG, GD

 

Hallo Goldene Dame

Über den Link bin ich damals auch gestossen, als ich zur Geschichte recherchiert habe.

http://www.kein-taeter-werden.de/berlin

Die Kontaktstelle hat es dann auch in die Geschichte geschafft:

Er sollte nicht hier sein. Gestern noch beschloss er, endlich die Kontaktstelle in der Luisenstraße aufzusuchen oder wenigstens dort anzurufen, doch stattdessen ist er wieder hier gelandet.

Ich frage mich, wie kann je durch Wiedergutmachung den Opfern Gerechtigkeit gegeben werden.

Gar nicht. Vielleicht hab ich es irgendwo hier in den Antworten schonmal geschrieben, aber es rufen auch oft Leute bei Domian an und erzählen dann von Missbrauch, der zwanzig oder dreissig Jahre zurückliegt. Und man merkt, wie sehr die Leute immer noch darunter leiden. Oder schau dir die Diskussion zu den kirchlichen Missbrauchsfällen an. Wie willst du einem Menschen Jahre seines Lebens zurückgeben? Das geht schlicht nicht.

Sind sie wirklich soweit zu verachten, dass ihnen die Menschenrechte abzuerkennen sind? Die Ursache soll in einer verzögerten Entwicklung des limbischen Systems liegen.

Mich überzeugen solche "wissenschaftlichen" Antworten nicht, aber ich bin da ein Laie, also vielleicht tue ich den Experten unrecht. Ich glaube aber nicht, dass man mit dem Finger auf eine Stelle zeigen und sagen kann, schau, deswegen ist XY zum Pädophilen geworden. Da spielt sicher eine ganze Reihe von Ursachen eine Rolle, sowohl angeborene als auch gesellschaftliche.

In der Öffentlichkeit nehmen wir wahr, dass denen die gerechte Strafe erteilt wurde.

Solche Aussagen hört man immer von Leuten, die nicht direkt betroffen sind. Vermutlich liegt das daran, dass die Opfer seltener zu Wort kommen, mich würde es aber nicht überraschen, wenn dieser explizite Rache-Gedanke bei den direkten Opfern weniger ausgeprägt ist als bei Angehörigen oder gänzlich Aussenstehenden.

Irgendwie tragisch ist, dass der falsche Mann bestraft wird, indem dessen Frau und Kind getötet werden und die eigentlichen Opfer sich zum Täter gewandelt haben.

... war so natürlich beabsichtigt :)

Was unterscheidet sie dann noch? Was passiert mit Ihnen, wenn sie erfahren, dass Mirko ihren Sohn nicht missbraucht und getötet hat? Hierzu hätte ich mir noch mehr Geschichte gewünscht.

Gerade die erste Frage, was sie noch vom Täter unterscheidet, kann sich der Leser ja selbst stellen. Ich finde es schön, wenn dann solche Fragen aufkommen, denn es lohnt sich, darüber nachzudenken.

Vielen Dank für deinen Kommentar, Goldene Dame!

Grüsse,
Schwups

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Schwups,

ich habe die Geschichte erst kürzlich noch einmal gelesen. Das ist schon ein sehr durchdachtes Teil mit spannendem Aufbau und ambitioniert verknüpft.

Du bist ein sehr "filmisch" schreibender Autor, jedenfalls habe ich diesen Eindruck hier gewonnen. Du inszenierst diese Geschichte in geschickt verschachtelten und "geschnittenen" Episoden, die in einer ungewöhnlichen Abfolge und in besonderen Blickwinkeln ineinander greifen. Das las sich für mich so, als wäre in deinem Kopf bereits ein fertiger Film vorhanden, zu dem du dann die Geschichte geschrieben hast - was ich nicht negativ meine. Ich arbeite bei manchen Texten ähnlich, und daran fühlte ich mich erinnert.

Du vermischt und verwischt die Grenzen Gut & Böse und zeigst eine Rachestory, die etwas anders ist, als dieses "Ein Mann sieht rot", "Die Fremde in Dir" oder "Death Sentence" Motiv. Du zeigst uns Strippenzieher, die andere Menschen manipulieren, nur um eigene Theorien zu beweisen, was letztendlich eine böse Form über dem Bösen ist.

Auch da sehe ich natürlich spezielle Filmzitate (wobei mir klar ist, mit welcher Zwangsläufigkeit bestimmte Themen solche Vermutungen erzeugen, ob nun vom Autoren gewollt oder nicht).

Insofern behandele ich diese Erkenntnisse mehr für mich, so wie jeder Leser ja immer aus den Geschichten das für sich interpretiert, was er aufgrund eigener Erfahrungen zu deuten glaubt, völlig unabhängig von der Inspiration und Intention des Autors.

Dein Stil ist sehr professionell und der Spannungsbogen gut ausbalanciert. Doch krankt die Geschichte insgesamt an dem, was man als Autor nie vermeiden kann, wenn sich nur unsympathische Figuren durch die Handlung bewegen. Man liest das Ganze mit einem sehr distanziertem Interesse. Bei mir ging das so weit, dass ich mich immer wieder dabei ertappte, mich mehr mit deiner Technik und deinem Stil zu beschäftigen, als mich zu 100% auf den Inhalt einzulassen. Ich habe deine Figuren und Szenen klar vor mir gesehen und mir dann Gedanken gemacht, warum du den Blickwinkel so und nicht anders gewählt hast, deinen Aufbau nachvollzogen und, und, und.

Ja, emotional hat mich der Text nicht wirklich gepackt, und wenn du das noch geschafft hättest (wenn das überhaupt in deiner Absicht lag) dann wäre die Sache aus meiner Sicht richtig rund geworden.

So habe ich eine gute & interessante Geschichte gelesen, die ein sehr klassisches Thema etwa anders angeht, während sie die handwerklich professionelle Schiene konsequent einhält, was einen leicht unterkühlten Einruck hinterlässt, dessen analytischer Schwerpunkt im Lauf des Geschehens ein wenig übergewichtig wird.

Die Coen Brüder könnten aus dem Stoff bestimmt einen geilen Film machen ;-)

Rick

 

Hi Rick

Entschuldige meine späte Antwort, mir ist dein Kommentar irgendwie durch die Lappen gerutscht und ich hab ihn kürzlich erst gesehen.

Das ist schon ein sehr durchdachtes Teil mit spannendem Aufbau und ambitioniert verknüpft.

Du bist ein sehr "filmisch" schreibender Autor, jedenfalls habe ich diesen Eindruck hier gewonnen. Du inszenierst diese Geschichte in geschickt verschachtelten und "geschnittenen" Episoden, die in einer ungewöhnlichen Abfolge und in besonderen Blickwinkeln ineinander greifen.


Ja, das war hier schon der Fokus. Es liegt auch daran, dass ich selbst so etwas gerne lese oder mir auch gerne Serien anschaue, die so aufgebaut sind, also mit mehreren Handlungssträngen, die erstmal unabhängig voneinander erzählt werden und dann irgendwann zusammentreffen. So etwas wollte ich hier auch versuchen, zudem war es ein Reiz, die Szenen zeitlich "gegeneinanderlaufen" zu lassen.

Das las sich für mich so, als wäre in deinem Kopf bereits ein fertiger Film vorhanden, zu dem du dann die Geschichte geschrieben hast - was ich nicht negativ meine. Ich arbeite bei manchen Texten ähnlich, und daran fühlte ich mich erinnert.

Ja, das ist gut beobachtet :). Tatsächlich stelle ich mir vieles schon als Film vor und hab gerne viel Handlung und Tempo in den Geschichten - aber eben, das sind halt auch die Dinge, die ich selbst gern lese / schaue.

Du vermischt und verwischt die Grenzen Gut & Böse und zeigst eine Rachestory, die etwas anders ist, als dieses "Ein Mann sieht rot", "Die Fremde in Dir" oder "Death Sentence" Motiv. Du zeigst uns Strippenzieher, die andere Menschen manipulieren, nur um eigene Theorien zu beweisen, was letztendlich eine böse Form über dem Bösen ist.

Genau, und es soll auch um die Frage gehen, wer aus welchem Grund "Böses" tut - und was das überhaupt ist. Ist es etwas, was durch eine gesellschaftliche Moral definiert ist, oder gibt es das "absolut" Böse, das man fernab von seinen Motiven und den Umständen als solches bezeichnen kann? Gut, das sind jetzt philosophische Fragen, der Text hier ist sicher nicht philosophisch, aber das wären so Punkte, in deren Richtung man den Text auch entwickeln könnte. Auch wäre ein Blick in eine Gesellschaft interessant, die ein Rechtssystem hat, das wirklich auf dem Modell "das Opfer bestraft den Täter" basiert. Was würde eine solche Gesellschaft aus den Menschen machen?

Doch krankt die Geschichte insgesamt an dem, was man als Autor nie vermeiden kann, wenn sich nur unsympathische Figuren durch die Handlung bewegen.

Auch das finde ich eine interessante Beobachtung. Der Text ist ja nun schon ein bisschen älter, als ich den geschrieben habe war mir das gar nicht so bewusst. Ja, als Autor sollte man nie den Wert einer Figur unterschätzen, die die Sympathien des Lesers bindet. Ich gebe dir da Recht, wenn die fehlt, ist eine gewisse Distanz zwischen dem Leser und der Geschichte wohl unvermeidlich. Aber, um ehrlich zu sein, mit der Fragestellung hab ich mich damals beim Schreiben gar nicht beschäftigt. Der Spannungsbogen lag da eher im Fokus, wobei beides natürlich auch zusammenhängt - je sympathischer einem eine Figur ist, umso mehr fiebert man dann auch mit ihr mit und als umso "spannender" kann man eine Geschichte empfinden.

So habe ich eine gute & interessante Geschichte gelesen, die ein sehr klassisches Thema etwa anders angeht, während sie die handwerklich professionelle Schiene konsequent einhält, was einen leicht unterkühlten Einruck hinterlässt, dessen analytischer Schwerpunkt im Lauf des Geschehens ein wenig übergewichtig wird.

Das ist ein schönes und sehr durchdachtes Fazit.

Die Coen Brüder könnten aus dem Stoff bestimmt einen geilen Film machen ;-)

:)

Vielen Dank Rick für den interessanten Kommentar.

Grüsse,
Schwups

 

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