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Das Duell
Das Duell
M. sah in die glasigen Augen seines Gegenübers. Nicht ein Funke Mitleid war in ihnen zu erkennen. Nur eisige Kälte. Unwillkürlich musste M. an die Augen aller Mädchen denken, die er in seinem kurzen Leben geliebt hatte. Diese wunderbaren Erinnerungsbilder stellten einen großen Kontrast dar zu diesen kalten blauen Augen des Verbrechers vor ihm.
Die vielen Äderchen darin sahen aus, als habe eine merkwürdige Spinne ihr rotes Netz hineingewebt. Wenn die Augen wirklich der Spiegel der Seele waren, war die Seele dieses Menschen bereits verdammt und er stand schon mit einem Bein in der Hölle. Der Rahmen, in dem diese Furcht einflößenden Organe steckten, war noch schlimmer:
M. hatte eine ekelhafte Fratze vor sich. Ein schmaler, diabolischer Mund versteckte sich in einem Unkrautbeet von Bartstoppeln. Das Gesicht hatte ebenso viele Krater wie der Mond, auch dessen kränkelnde Blässe besaß es. In der Mitte dieser Ansammlung anatomischer Widerlichkeiten saß eine für das hagere Gesicht viel zu breite Nase.
Der scharfe Geruch von billigem Alkohol lag in der Luft. Kein Wort durchbrach die Stille, die in dem engen Raum herrschte. Das kalte, unwirkliche Licht der Deckenbeleuchtung wurde allerdings plötzlich von einer scharfen Klinge in der Hand des Verbrechers reflektiert. Die Zeit für den geplanten Mord war gekommen. Schon lange hatte M. diesen Überfall befürchtet. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das erste Mal die schlurfenden Schritte gehört hatte, die ihn nachts auf der Straße verfolgten. Es war schon mehrere Jahre her.
Aber er konnte sich an seine immer stärker werdende Angst vor diesen Schritten erinnern, seinen immer schlechter werdenden Schlaf, den mit der Zeit immer leisere Geräusche beeinträchtigen konnten.
Zur gleichen Zeit hatten diese merkwürdigen Anrufe begonnen. Jedesmal wenn M. seinen Namen genannt hatte, wurde nach einer kurzen, bedrückenden Stille aufgelegt.
Für M. lag die Sache von Anfang an auf der Hand. Der Verbrecher wollte, dass M. wusste, dass er verfolgt wird. Vielleicht machte es ihm Spaß, zu beobachten, wie M.s Angst immer unerträglicher wurde.
M. hatte es Freunden erzählt. Doch niemand hatte ihn ernst genommen. Alle hatten es auf seine überreizte Fantasie zurückgeführt. Er hatte dann irgendwann die Idee gehabt, ihnen Beweise zu liefern, vielleicht sogar mit ihrer Hilfe seinen nächtlichen Verfolger zu stellen. Eine Woche lang hatten seine beiden besten Freunde eine Eskorte gebildet, die ihn nachts begleitete. Doch der Verbrecher war nicht so dumm gewesen, ihm zu folgen, wenn er in Begleitung war. Diese fehlgeschlagenen Versuche, seine Vermutungen zu beweisen, hatten natürlich nicht gerade zu seiner Glaubwürdigkeit beigetragen. Auch auf der Polizeiwache, bei der er mit zitternder, fast wahnsinnig klingender Stimme Anzeige gegen Unbekannt erstattet hatte, hatte man ihm nicht geglaubt.
Und nun stand er dieser angeblichen Einbildung seiner Fantasie leibhaftig gegenüber und strafte alle Lügen, die ihm nicht geglaubt hatten.
Bisweilen hatte M. den Verdacht gehabt, dass einer seiner beiden besten Freunde sein Verfolger sein könnte. Vielleicht versteckte sich ja hinter der Maske des Freundes ein Geisteskranker. Das hätte auch erklären können, warum er in Begleitung der beiden nie verfolgt wurde. Doch dieser Verdacht erwies sich nun als unbegründet. Er kannte den Mann vor ihm nicht. Warum wollte dieser Verbrecher aber einen ihm völlig fremden Menschen umbringen? Geld konnte nicht der Grund sein. M. besaß so gut wie nichts. Und der Verbrecher, der ihn ja schon seit Jahren beobachtete, musste das doch wissen. Warum also? Wären die eisigen Augen des Verbrechers nicht gewesen, hätte M. vielleicht nie eine Antwort auf diese Frage erhalten. Aber der Blick seines Gegenübers beantwortete die Frage nach dem Warum. Hass war die Antwort. Er wollte M.s Tod.
Vielleicht war es gar nicht von Anfang an der Plan des Verbrechers gewesen, M. umzubringen. Vielleicht hatte er nur vorgehabt, ihn zu beobachten, etwas zu verängstigen. Doch Hass wird, ebenso wie Wein, von der Zeit verfeinert, wenn man ihn nur lange genug lagert. „Doch warum hasst er mich?“, dachte M., „wie kann man einen fremden Menschen hassen?“. „Erinnere ich ihn an jemanden, der ihm in der Vergangenheit ein schreckliches Leid zugefügt hat? Oder habe ich irgendwann einmal in meinem Leben etwas getan, was eine unbeabsichtigte böse Auswirkung auf sein Leben hatte? Vielleicht hat eine alltägliche Handlung von mir eine Kettenreaktion ausgelöst, an deren Ende der Ruin dieses Mannes gestanden hat. Oder war er einst in die Augen eines Mädchens verliebt gewesen, das dann meine Freundin wurde? Oder hat er sich zufällig irgendjemanden aus der Menge herausgesucht, den er hasst?“
Langsam und leicht wie die Berührung eines jungen Mädchens glitt die Klinge über das Gesicht des Opfers. Kleine Härchen des Gesichtes wurden abgeschnitten und fielen lautlos zu Boden. Dieser Unmensch sah anscheinend einen Genuss darin, mit ihm zu spielen. Er wollte zusehen, wie M.s Angst immer größer wurde, ins Unermessliche wuchs und auf dem Höhepunkt dessen Angst lustvoll zustechen. Wie den Pinsel eines Malers ließ er die Klinge über das Gesicht streifen, so als betrachte er seinen Mord als ein Kunstwerk. Schweiß floss in die Augen des Opfers. Das scharfe Metall sank in das weiche Fleisch von M.s Hals. M. wehrte sich nicht. Was sollte er auch mit seinen bloßen Händen gegen einen Mann mit einer Klinge ausrichten. Er gab sich der Strömung seines unabwendbaren Schicksals hin. Das Gesicht seines Gegenübers verschwamm wie das Spiegelbild eines Menschen in einem Fluss, in den man einen Stein hineinwirft.
Ein Baum, der im menschenleeren Wald umfällt, macht kein Geräusch. Niemand hört die Stimme eines Einsamen, der alleine in seinem Badezimmer stirbt. „Ich hasse dich!“ Mit diesen Worten fiel M. die Rasierklinge aus der Hand, mit der er sich umgebracht hatte.