Das letzte Gefecht
Günther Reichert erreichte seine vorgegebene Flughöhe. Er drehte zwei, drei Runden um den Flugplatz und wartete auf das Zeichen, um mit seinen Flugkunststücken mit seinem Flugzeug zu beginnen.
Diese Kisten, dachte er traurig, die Franzosen haben doch echt keine Ahnung, vom Flugzeug bauen.
Als altes Fliegerass des Dritten Reiches hatte er feindliche Flugzeuge nur so vom Himmel gefegt, 27 Abschüsse allein an der Ostfront. Ja, das waren noch Zeiten gewesen, als er mit seiner Messerschmitt der Luftkönig genannt worden war. Im Cockpit hatte er immer das Foto seiner Frau gehabt, es hatte ihn begleitet, auf jeden seiner Flüge.
Aber dann hatten sie den Krieg verloren und er musste in Gefangenschaft. Das Foto sah er ebenso wenig wieder, wie sein Flugzeug (das er wie seine Frau „Elfriede“ getauft hatte) oder seine geliebte Frau selbst.
Nach der Gefangenschaft war der Weg zurück mehr als nur schwer. Als er in die Freiheit entlassen wurde, versuchte er verzweifelt, zuerst seine Frau, dann eine Arbeit zu finden. Doch für ihn gab es nichts mehr. Günther wanderte aus, zuerst nach Österreich, wo er ebenfalls kein Glück hatte und schließlich gelang es ihm irgendwie, nach Frankreich zu gelangen.
Vor einem halben Jahr hatte er dann einen Job als Flugakkrobat erworben. Er hatte ausgezeichnete Flugkenntnisse, die Akrobatik war für ihn kein Problem.
Und dann – endlich – sah er das Zeichen. Er begann mit einem Looping, zog dann zwei, drei Schliefen über dem Publikum. Dann drehte er das Flugzeug in der Luft und nun das letzte Kunststück.
Dieses bestand darin, die Maschine kerzengerade in den Himmel zu jagen, den Motor abzustellen und das Flugzeug quasi abstürzen zu lassen, dann jedoch den Sturz abzufangen und knapp über die Köpfe der Menge zu fliegen.
Dann wäre der Arbeitstag für ihn gelaufen und er konnte in seine Wohnung zurückkehren.
Er steuerte das Flugzeug in die Höhe, der Motor jaulte auf. Das war ein bisschen beunruhigend, aber Günther ignorierte sein ungutes Gefühl. Ihm wurde leicht schwindlig, als der di Geschwindigkeit erhöhte, mit der er in den Himmel stach.
Plötzlich begann der Motor zu qualmen. Günther wollte abdrehen, damit der Motor nicht endgültig abkackte, aber so sehr er auch am Steuerknüppel herumriss, die Maschine reagierte nicht mehr. Sie beendete den Steigflug und begann abzustürzen.
Sofort versuchte er sich mit dem Schleudersitz aus der defekten Maschine zu befreien. Er betätigte den Hebel. Nichts geschah.
Gott, nein ...
Der Brand griff bereits auf das äußere Flugzeug über. Wie ein lodernder Feuerball stürzte die Maschine in die Tiefe.
Rasend näherte sich der Boden.
In seiner Verzweiflung riss Günther noch einmal am Steuer und endlich reagierte sein Flugzeug darauf.
Aber es war zu spät.
Das letzte, was Günther sah, als er mit weit aufgerissenen Augen aus dem Cockpit starrte, waren die Flammen, die rundum ausschlugen, der Rauch und durch ihn die Baumgruppe, in die Günther raste.
„Günther. Günther“
Der Wind strich sanft über sein Gesicht. Etwas drückte hart gegen seinen Rücken. Günther öffnete die Augen. Am Himmel zogen blutrote Wolken vorbei. Hier und da zuckte in feuriger Blitz herab.
Er wendete den Kopf und sah sich um. Grau in Grau. Er lag in den Trümmern einer Stadt.
Er konnte eingestürzte Häuser sehen, Betonbrocken lagen herum und Nebel wallte durch die Straßen.
Günther selbst lag auf den harten Gesteinsbrocken eines zerstörten Hauses.
„Günther“, sagte eine so entsetzlich bekannte Stimme erneut. Er drehte sich um.
Hinter ihm stand seine Frau.
„Elfriede“, hauchte er, den Tränen plötzlich nahe. Dann bemerkte er, dass sie nicht alleine waren. Rundum bewegten sich Gestalten durch den Nebel. Seltsam vertraute Gestalten.
Günther stand auf und wankte langsam auf Elfriede zu.
Sie sah so aus, wie er sie zuletzt am Tag seiner Abreise im Krieg gesehen hatte.
Kastanienbraune Haare. Dunkle, wachsame Augen, aus denen Intelligenz sprach.
Elfriede lächelte, irgendwie war es ein trauriges Lächeln.
Er streckte ihr die Hände entgegen, aber sie schüttelte langsam den Kopf.
Dann erkannte er, was ihm so vertraut an den Gestalten vorgekommen war.
Es waren Männer. Soldaten. Seine früheren Kameraden und Freunde.
Günther erkannte Hans Sohl, über Kasachstan abgeschossen ... und dort war Edi Bauman, von einem Erkundungsflug nicht mehr zurückgekommen.
Aber da waren noch mehr Männer. Sie marschierten in einer Art stummen Prozession durch die Straßen der zerstörten Stadt.
Günther sah wieder seine Frau an. Er sagte: „Endlich sind wir wieder vereint...“
Sie schüttelte traurig den Kopf. Er glaubte Tränen zu erkennen, die feucht an ihrer Wange glitzerten.
„Noch nicht Liebling. Jetzt noch nicht.“ Elfriede drehte sich um und begann, sich in die Reihen der toten Soldaten einzuordnen. Günther wollte sie aufhalten, stolperte und stürzte. Der Nebel wurde immer dichter.
„Elfriede, nein! Bleib bei mir!“ Er hastete auf und rannte in den wogenden Nebel hinein.
Die Luft war plötzlich erfüllt von einem Dröhnen.
Günther konnte nichts mehr sehen und dieses Geräusch hüllte ihn komplett ein. Er schloss die Augen, hielt sich die Hände vor die Ohren.
Etwas stimmte nicht. Günther öffnete die Augen und – er saß in einem Cockpit.
Und er raste auf den Boden zu. Rein instinktiv riss er den Steuerknüppel nach hinten und fing so den Sturz auf.
Günther blinzelte verwundert. Er war nicht in irgendeinem Flugzeug.
Es war sein Flugzeug. Da, rechts neben dem Höhenmesser war das Bild seiner Frau. Deutsche Anzeigen. Er saß in seiner Messerschmitt!
Der Himmel war blutrot. Unter ihm sah er zerstörte Städte. Dicke Rauchschwaden quollen empor. Von hier oben sah das ganze aus wie riesige Scheiterhaufen.
Plötzlich überholte ihn ein anderes Flugzeug, dessen Typ ihm komplett unbekannt war.
Günthers Herz stockte, als er, für einen Augenblick, sah, er im Cockpit saß.
Die Gestalt hatte Hörner und die Augen leuchteten in dunklem Rot.
Im Funk von Günther hörte er rätselhaftes Zischen und Schreien. Von tausenden, so, als hätte er eine Direktverbindung zur Hölle.
Das Flugzeug des Gehörnten war ebenso in rot gehalten, völlig deformiert, aber es flog schnell. Und zwar verdammt schnell. Sein Gegenüber wendete und flog direkt auf Günther zu.
Dann eröffnete er das Feuer.
Günther drehte ab, die Salve verfehlte ihn. Er hörte schallendes Gelächter im Funk.
Dann brachte er sich selbst in Schussposition.
Zwei Feuerlanzen brachen unter seinem Flugzeug hervor und auf der Tragfläche seines Feindes platzten Löcher auf.
Günther flog über ihn hinweg, drehte und noch während sein Gegner versuchte, ihm zu entkommen, spie er die nächste Ladung Blei auf den Gehörnten.
Diesmal saß sein Feuer. Der hintere Teil des Flugzeuges wurde durchlöchert, aber es flog in eine dieser riesigen Rauchschwaden und Günther verlor seinen Feind aus den Augen.
Er schaute in den Spiegel, schaute nach unten.
War sein Feind abgestürzt?
Da tauchte er schon wieder auf. Diesmal hatte Günther keine Zeit zu reagieren, die Salve jagte nur knapp am Cockpit vorbei und beschädigte seine Messerschmitt.
Das Spiel hatte sich gewendet. Günther musste ausweichen, weil der Gehörnte hinter ihm war und ihn beschoss, so war es Günther nicht möglich selbst einen Angriff zu starten. Der Rauch lichtete sich und er konnte unter sich einen Flugplatz erkennen.
In der Mitte von diesem stand, ganz in weiß gekleidet, Elfriede. Und die Menge rundherum waren seine ehemaligen Kameraden, die den Kampf beobachteten.
Das gab ihm neuen Mut.
Denk nach, verdammt denk nach...
Schön langsam schoss sich der Gehörnte hinter ihm ein.
Dann hatte Günther eine Idee. Er steuerte sein Flugzeug, wie bei der Flugshow kerzengerade Himmelwärts. Der Gehörnte folgte ihm bei diesem Manöver.
Jetzt konnte Günther nur hoffen, dass die Maschine des Gehörnten zuerst schlapp machte. Er stieg weiter auf. Sein Gegner feuerte Salve um Salve in den Himmel.
Mehrere Male schlug es in Günthers Flugzeug ein.
Der Teufel kam näher, holte auf.
Die Messerschmitt bockte leicht.
Komm schon, Baby, das schaffst du doch leicht ...
Dann veränderte sich das Lachen in seinem Funk. Er hörte überraschtes Keuchen und als er in den Spiegel schaute, sah er, wie Flammen aus dem Motor seines Gegners schlugen.
Dann stürzte der Gehörnte ab. Günther beendete den Steigflug, bevor ihm dasselbe Schicksal zu teil werden konnte.
Wie ein glühender Feuerball raste der Teufel zu Boden. Schreie hallten durch den Funk, dann brach der Kontakt ab, denn im selben Moment bohrte sich die Maschine des Gehörnten in die Erde.
Günther jubelte. Endlich konnte er zu seiner Frau zurückkehren.
Dann sah er den Flugplatz. Seine Kameraden hatten ihre Helme abgenommen und winkten ihm zu. Seine Frau stand einfach nur da.
Günther setzte die Messerschmitt sicher auf und noch bevor der Propeller aufgehört hatte, sich zu drehen, war er aus dem Flugzeug.
Er rannte auf seine Elfriede zu. Sie lächelte ihn an.
Jubelnd streckte er im Laufen die Hände in die Höhe und schrie: „Ich hab’s geschafft. Jawohl ich hab’s-“
Für die französische Nachtschwester war dies eine ruhige Nacht. Sie musste in einem Zimmer ungewöhnliche Aktivitäten des Patienten melden. Während sie im gedämpften Licht der Lampe etwas las, dachte sie über den Mann nach, der hier lag.
Der Chefarzt sagte, dass er die Nacht nicht überstehen würde. Er war schwerst verletzt aus einem Flugzeugwrack geborgen worden. Die meisten Knochen in seinem Leib waren mehrfach gebrochen, er hatte Brandwunden.
Sie blätterte eine Seite um.
Ohne Vorwarnung richtete sich der Patient kerzengerade im Bett auf und schrie:
„ –geschafft!“
Die Krankenschwester hätte fast einen Kollaps bekommen.
Wie war das möglich? Ohne den verwirrten Mann zu betrachten, stolperte sie aus dem Zimmer, nicht aufhörend: „Herr Doktor!“ zu kreischen.
Chefarzt Claude beendete die Visitation des Piloten. Ihm fehlte nichts. Rein gar nichts. Ein Wunder, das war ein Wunder. Anders konnte er sich das nicht erklären. Aber eigentlich selbst für ein Wunder schlichtweg unmöglich. Wo sie ihn eingeliefert hatten, konnten die Ärzte bereits nichts mehr für ihn tun, außer seine Brandwunden zu verbinden. Es war praktisch jeder Knochen im Leib gebrochen gewesen, ja mehr noch, es war sogar überraschend gewesen, dass er überhaupt noch gelebt hatte.
Und nun das.
„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er den Piloten.
„Ich will zu meiner Frau.“
Soweit Claude wusste, war dieser Mann ein Deutscher, der sich ohne Frau hier in Frankreich aufhielt. Vielleicht hatte er schon eine neue.
„Haben Sie körperliche Schmerzen?“
„Nein. Ich will nur zu Elfriede.“
Claude verließ den Mann und ging zu dem draußen wartenden Direktor der Luftakrobaten.
„Und? Wie geht es ihm?“, fragte der Direktor.
„Unglaublich. Aber alles ist verheilt. Ihr Pilot ist ... kerngesund. Auch wenn ich Ihnen nicht sagen kann, wie das gehen konnte. Er war praktisch schon tot!“
Claude schwieg einen Moment.
Dann sagte er: „Das werde ich nicht vergessen. Bei Gott und wenn ich hundert Jahre alt werde.“