Was ist neu

Das Rübezahlfüllhorn

Seniors
Beitritt
13.02.2008
Beiträge
1.091
Zuletzt bearbeitet:

Das Rübezahlfüllhorn

„Eine Gemüsekiste würde unser Leben perfekt machen“, sagt mein Mitbewohner Jan, „Stell Dir mal vor: Wir müssten kein Gemüse mehr schleppen und wir würden mehr Gemüse essen, Biogemüse, und wir wären viel gesünder, gerade im Winter.“
"Wieso unser Leben?", frage ich.
"Die kleinste Kiste ist für zwei."
Auf dem Werbeflugblatt ist ein quadratischer Gnom mit roten Haaren zu sehen. Er steht auf einem Berg von glänzendem Gemüse, lacht und reibt sich den Bauch, aber für mich sieht es aus, als stünde er auf einem Leichenfeld, schreiend, weil ihm gerade ein Schrappnell in die Gedärme gefahren ist.
„Ich esse eigentlich kein Gemüse“, sage ich.

Jan studiert das Sortiment der Genossenschaft „Rübezahl“ im Internet und bestellt schließlich die Saisonkiste „Füllhorn“.
„Das ist wie eine Überraschungstüte, dann lernen wir auch mal andere Gemüse kennen, mit den Rezepten dazu. Man isst notgedrungen viel kreativer. Hier, wir können auch Extras dazubestellen, Markknochen und so.“
Ich sage: „okay“, weil er anfängt, mir Rezepte für Schwarzwurzel, Melde und Topinambur vorzulesen, die er als "vergessene" Gemüse bezeichnet. Mir klingt das alles eher unheimlich, schon weil ich mir denke, diese Gewächse werden wohl aus gutem Grund vergessen worden sein. Meine Mutter musste als Kind Schwarzwurzeln essen und die sagt immer: „Wenn Krieg ein Gemüse wäre...“
„Ich hoffe, man kann das jederzeit abbestellen“, sage ich noch.
„Klar“, sagt Jan.

Als es am nächsten Morgen klingelt, liege ich noch im Bett. Ich warte darauf, dass Jan aufsteht und seine blöde Kiste entgegennimmt, aber Jan steht nicht auf und der Kistenmensch klingelt weiter wie ein Specht. Ich springe aus dem Bett, Shorts und T-Shirt, und drücke den elektrischen Öffner, gehe zur Wohnungstür und lehne sie an. Dann trete ich gegen Jans Tür.
„Der Rübezahl ist da! Nimm mal bitte dein Scheiß Gemüse entgegen!“
„Ja, ich bin da“, spricht es hinter mir und ich fahre erschrocken herum. Im Flur steht ein kurzer Mann mit roten Haaren und einem großen Sack über der Schulter. Er trägt ein mintgrünes Polo-Hemd auf dem „Rübezahl“ steht. Als er sich bückt, um den Sack zu öffnen, sehe ich einen dunklen Schweißstriemen auf der Rückseite des Hemdes. Er beginnt zwischen den Schulterblättern, verbreitert sich nach unten und verschwindet zuletzt mit Hemd unter dem Gürtel, „gesund und lecker“ steht darüber.
„Wo ist denn die Kiste?“, frage ich.
„Ich bin gekommen, um das Füllhorn einzubauen“, antwortet er und rupft weiter mit dicken Fingern an dem eng geknoteten Bastseil herum. „Wo ist die Küche?“
Ich deute wortlos auf die Tür am Ende des Flures und Rübezahl schleift seinen Sack an mir vorbei, verliert im Rückwärtsschlurfen fast seine Sandalen.
Ich renne in Jans Zimmer. „Jetzt komm mal raus hier, ein bisschen zügig! Der baut da irgendwas in die Küche ein. Das ist doch Mist. Sag das ab!“

Als ich Jan endlich in den Flur schiebe, steht Rübezahl schon wieder da, den schlaffen Sack über der Schulter. „Jetzt brauch ich nur noch eine Unterschrift.“
Ich gucke an ihm vorbei in die Küche und sehe dort das Füllhorn neben dem Kühlschrank aus der Wand ragen. Ein großer Metalltrichter, etwa einen Meter über dem Boden.
„Das ist doch echt unnötig“, sage ich, aber in dem Moment drückt Rübezahl mir schon den Stift in die Hand.
„Aua, Scheiße!“, fluche ich und lasse den Stift fallen. Er landet mit einem dumpfen Ton auf dem Boden und hinterlässt eine Macke im Parkett. Es muss ein elektrischer Schlag gewesen sein, denke ich. Ein blöder, handgeschmiedeter Kugelschreiber von manufactum, bei dem man die Tinte selbst nachfüllen kann, der Umwelt zuliebe und überhaupt. Nur dass er sich auflädt wie ein Weidezaun, wenn man mit solchen dummen Plastiklatschen rumschlurft.
„Sind Sie nicht Herr Schneider?“, fragt Rübezahl mit gerunzelter Stirn.
„Nein, Jan ist Herr Schneider“, sage ich und schüttele mein Handgelenk.
„Ja, das bin ich“, sagt Jan „wo soll ich unterschreiben?“
Der Zwerg hält ihm ein mintgrünes Klippboard mit grauem Umweltpapier hin. „Hier, hier und hier. Drei Mal, bitte.“ Er grinst mit kurzen breiten Zähnen und langem Zahnfleisch.
Ich schüttele den Kopf und mache Schicksalsergebenheitsgesten mit den Händen, während Jan mit roter Tinte unterschreibt.

„Ah, und hier kommt das Gemüse dann raus“, sagt Jan und steckt seinen Kopf in das Füllhorn. Ich schnippe gegen das Blech, damit ihm drinnen die Ohren dröhnen, aber auch, damit er den Kopf wieder raus nimmt. Es ist mir unwohl, wenn er so mit dem Kopf im Metalltrichter steckt und blechern spricht.
„Vor allem zieht es jetzt wie Sau“, sage ich und fuchtele mit der Hand unter der Trichteröffnung umher, aus der wirklich kalte Luft weht. Ich kann es an meinen flatternden Shorts sehen.
„Wir können ja was davor machen. Was meinst du, wann kommt die erste Lieferung?“
„Weiß nicht“, sage ich und dann horchen wir beide eine Weile konzentriert am Trichter. Nichts ist zu hören. Erst als Jan „hallo!“ hineinruft, kommt ein „hallo!“ zurück, aber es klingt seltsam, nicht nach normalem Echo, sondern höher und mehrstimmig, irgendwie gehässig.
„Du blutest“, sage ich, denn Jan trägt einen roten Striemen auf der Wange. Er untersucht sich. „Oh, wo? Ah, ich muss mich an diesem Stift gepiekt haben. Ich hab das gefühlt.“
Er steckt den Daumen in den Mund.
Mir wird langsam kalt, mit bloßen Füßen und nur in Unterwäsche. „Jedenfalls werde ich jetzt nicht den ganzen Tag davor hocken und warten“, sage ich, doch ein Blick in Jans glänzende Augen macht mir klar, dass es genau das ist, was er den Rest des Tages tun wird.
Er zieht sich einen Stuhl heran und ich koche Kaffee, mit dem ich mich schließlich in mein Zimmer zurückziehe. Dort sitze ich dann im Bett und lese Parzival, bis Jan anfängt zu kreischen.

Als ich in die Küche komme, tanzt er vor dem Füllhorn wie vor einem goldenen Kalb. „Es kommt, es kommt! Hör doch!“
Und tatsächlich rumpelt es tief unten im Trichter, ein leises Grollen nur, das jedoch stetig lauter wird, bis das Horn anfängt zu rattern. Es schüttelt und faucht. Wir treten ein paar Schritte zurück. Tiefe Risse wachsen durch den Wandputz um den Trichter und ich blicke Jan vorwurfsvoll an. Doch Jan ist nicht empfänglich für meine stummen Vorwürfe, denn jetzt scheppert etwas laut gegen die Metallwand des Füllhorns, scheppert und springt die tieferliegende Röhre hinauf, bis es schließlich unzeremoniell aus dem Trichter fällt und unter den Tisch rollt. Ich stupse die schmutzige Kugel mit der Fußspitze an und fahre erschrocken zusammen, als ein Placken Erde abspringt.
„Was in Gottes Namen ist das?“, flüstere ich und halte mich an Jans Ärmel fest.
„Das ist rote Beete“, sagt er und lächelt.

Zum Mittagessen kocht Jan die rote Beete. Ich habe noch nie rote Beete angefasst, aber Jan hat eine e-mail von der Rübezahl Genossenschaft erhalten, mit Rezeptvorschlag. Also backt er die einzelne rote Beete erst 90 Minuten im Ofen, lässt sie eine halbe Stunde abkühlen und versuppt sie dann zu pinkem Schaum, der um fünf Uhr fertig ist. Eine halbe Schüssel für jeden von uns. Ich habe die Wurzel unter Jans Anleitung lange geschrubbt, aber die Suppe schmeckt trotzdem erdig. Insgesamt kommt mir das Ganze unpraktisch vor.
„Sehr viel Gemüse ist es ja nicht gerade“, bemerke ich.
„Sie haben geschrieben, dass sie erst die Leitungen testen wollten. Wir kriegen bald mehr.“
Und in diesem Moment fühlen wir auch schon den Boden erzittern. Diesmal hört es sich an, als käme eine ganze Gnuherde das Metallrohr heraufgalloppiert. Und dann fängt das Füllhorn an, Erde zu spucken, immer mehr, bis ihm der Haufen fast zur Unterlippe reicht, und dann schüttelt es ganz fürchterlich und hustet ein paar Brocken in diesen Erdhaufen hinein, dass der Dreck nur so stiebt. Jan zählt laut gegen den Lärm, „sechs, sieben, acht, neun!“, dann hört das Schütteln auf. Nur noch ein leises Fiepen ist aus dem Trichter zu vernehmen. Als der Staub sich legt, treten wir vorsichtig an den Haufen heran. Ich sehe an Jans Gesicht, dass mein Gesicht schmutzig sein muss. Das Gemüse kann ich kaum erkennen, es ist zu sehr mit Erde verkrustet. Aber die daumendicken Goldstücke, die im Dreck liegen, glänzen blank wie in Dagobert Ducks Geldspeicher.
„Echtes Gold“, hauche ich, aber Jan schüttelt den Kopf. Er hat einen Taler aufgelesen und ihm die Goldhaut abgezogen. Jetzt steckt er sich den braunen Kern in den Mund. „Kaubonbon“, sagt er und renkt sich fast den Kiefer aus.
Doch da ist noch was in der Erde. Klein, pink und wimmelig.
„Äch, Würmer“, sagt Jan und wir starren.
„Nein, das sind Putten“, rufe ich, als die kleinen Wesen sich die Erde aus den goldenen Locken schütteln und von den rosigen Hintern klopfen. Hinten haben sie Arschritzen aber von vorne sieht es aus, als ob sie winzige Hautunterhosen tragen. Eine nach der anderen fächert ihre schwarzblau schillernden Flügel auf und schwirrt hinauf zur Küchenlampe. Dort tanzen sie schließlich alle durcheinander, mindestens zwanzig Stück, und beginnen mit Glockenstimmen zu summen und zu singen.
„Was singen die da?“, fragt Jan, „ist das Griechisch, so kyrie eleyson?“
Doch ich weiß es auch nicht, bin mir nicht mal sicher, ob es überhaupt Worte oder nur Töne sind.
„Es klingt auf jeden Fall schön“, sage ich.
Jan beginnt nun, das Gemüse und die Goldtaler aus der Erde zu sammeln. „Drei Kartoffeln, drei Möhren und zwei Sellerieknollen“, verkündet er. „Das könnte Eintopf sein.“
Die Markknochen stecken in einem durchsichtigen Plastikbeutel.
Ich putze das Gemüse, Jan kocht Eintopf daraus und die Engel singen dazu im Chor. Sie singen noch um die Lampe herum als wir essen und manchmal lassen sie winzige Tropfen auf den Fußboden fallen, grün wie Vogelschiss. Als ich die Lampe probeweise ausschalte, murren sie und ziehen sich in die dunklen Spalten über den Küchenschränken zurück.

Am nächsten Tag schippen wir den Erdhaufen weg, damit das Füllhorn nicht verstopft, wenn es die nächste Lieferung spuckt. Ich finde zwei weitere Goldstücke und denke, vielleicht sollte ich die Erde aufheben, die ist bestimmt ganz gut für die Kräuter. Mittlerweile bin ich sehr hungrig, den letzten Eintopfrest habe wir mittags in der Uni gegessen. Jan erlaubt mir trotzdem nicht, einkaufen zu gehen, schon gar nicht Gemüse. „Ich kaufe nie Gemüse“, sage ich, bleibe aber daheim. Wir essen Brot mit Leberwurst.

Mitten in der Nacht werde ich von Gerappel geweckt und denke „aha!“. Ich drehe mich um und will weiterschlafen, doch dann höre ich ein schrilles Greinen, ein Greinen, das so jammervoll und schmerzerfüllt klingt, dass ich sofort auf den Beinen bin. Im Flur treffe ich Jan, der blass und nackt ist. Zusammen stürzen wir in die Küche. Dort liegt ein neuer Erdhaufen und ich rutsche fast auf einer Lauchstange aus. Um die Lampe herum summt es, ein ganzer Schwarm Putten, und aus dem Haufen greint es, dass es mir das Herz zusammenschnürt. Noch halb in der Erde steckt eine Putte, deren linker Flügel in einem fürchterlichen Winkel absteht. Glitzerndes Blut sickert auf das schwarze Gefieder. Silberne Knöchelchen, dünn wie Gräten, stehen mit scharfen Bruchkanten heraus. Das Gesicht ist ein winziger Krümel konzentrierter Schmerz. Ich kann weder Nase noch Auge erkennen, nur das greinende Maul mit den spitzen Zähnchen.
„Mein Gott, tu doch was, Jan!“, schreie ich und will ihn am Kragen packen, doch er ist nackt, deshalb packe ich ihn an den Schultern.
„Halts Maul! Was soll ich denn tun?“, schreit er zurück.
„Mach, dass es aufhört! Du musst es töten! Es leidet!“ Ich schüttele ihn und er schubst mich von sich.
„Ich kann das nicht anfassen. Du musst das machen!“, heult er, aber mir ist auch ganz schwindelig.
Dann erst erinnere mich der fröhlich um die Lampe schwirrenden Gefährten. Doch die schwirren nicht mehr fröhlich. Das fällt mir erst jetzt auf, da ich den schlimmen Anblick verspätet vor ihnen zu verbergen suche. Sie kreisen jetzt dicht über uns, das helle vielstimmige Zwitschern ist zum Brummen geworden, wie aus einer Kehle. Ich frage mich, was der Resonanzraum für dieses Brummen sein mag, bis ich merke, das mein ganzer Körper vibriert. Ich stopfe die zappelnde Putte hektisch in den Erdsack, der noch immer in der Küche steht, und spüre wie etwas Eiskaltes herausquillt. Trotzdem verliere ich die Fassung erst, als eine der übrigen Putten gegen mein Ohr summt und sich in meinen Haaren verfängt. Ich raufe sie hysterisch heraus und schleudere sie zu Boden. Sie beginnt sofort zu greinen. Dieses doppelte Greinen ist unterträglich. Ich krieche auf allen Vieren in die Ecke neben den Mülleimer und halte mir die Ohren zu. Ich sehe, wie sich mehrere Putten auf die Putte stürzen, die ich mir vom Ohr gerupft habe. Sie reißen ihr das Goldhaar büschelweise aus, beißen Fetzen aus dem prallen Hinterteil und ich höre silberne Knochen splittern, obwohl ich meine Finger tief in die Ohren gebohrt habe. Das Greinen wird schriller und verstummt dann abrupt. Die Putte im Erdsack ist schon lange still. Der Schwarm steigt auf und ein paar Federn trudeln herab. Jan sitzt auf dem Boden, zitternd, voll Rotz und Tränen.
Wir kriechen aus der Küche, schlagen die Tür hinter uns zu und lagern eine Weile auf dem guten alten Flickenteppich im Flur, bis wir wieder atmen können.
„Scheiß Gemüsebox!“, sage ich schließlich, nehme meine Jacke vom Haken und renne mit dem Müllsack, den ich noch immer schwitzig umkrallt halte, in den Hof hinunter. Während ich die Sackzipfel dort zu einem sehr haltbaren Knoten vertäue, überlege ich welche Tonne. Sondermüll, oder noch besser eine Säuretonne, denke ich. Aber wir haben natürlich nur Haus, Papier und Bio. Ich schlage den Biodeckel zweimal zu.
Jetzt spüre ich auch wieder die Kälte auf meiner Hand brennen. Im weißen Hoflicht glitzert es vielfarbig. Es ist ganz eindeutig dieser Glanzstaub, den man im Baumarkt kriegt, mit dem wir als Kinder Weihnachtsbilder gemalt haben. Mit Uhu vorgemalt und dann draufstäuben und so lange nicht niesen, bis die Mutter den Überschussglitzer in die Gläschen zurückgeschüttet hat. Dieser Staub hier ist auch nass von klebriger Trägerflüssigkeit. Ich wische die Hand an meiner Hose ab und denke „Mist“, als ich das alte Handtuch über meinem Fahrrad hängen sehe.

Als ich wieder hochkomme, hat Jan eine Hose an und zwei Gläser Korn bereitgestellt, weil Korn ordentlich fürchterlich ist, ein gutes, erwartbares Grauen. Er fragt: „Junge, hast du dich mit deinem Kanarienvogel gestritten?“, und zupft mir eine winzige schillernde Feder vom Kopf.
„Wir sollten aber trotzdem das Licht in der Küche ausschalten, sonst kommen die nie wieder runter“, sagt er noch und bleibt dann auf dem Flickenteppich stehen, während ich vorsichtig die Küchentür öffne.
„Ich weiß gar nicht, was du hast, jetzt sind sie ganz ruhig“, sage ich grinsend und stoße die Tür weit auf. Da fliegen sie wieder um die Lampe, nicht lebhaft durcheinander, sondern in einem perfekten Zirkel, die Hände vor der Brust gefaltet. Mit lieblichen Stimmen singen sie die Tonleiter hinauf und hinunter.

„Sie haben gesagt, wir sollen die Putten einfach rausscheuchen. Das hätten wir von Anfang an machen sollen, es sind nur Parasiten. Wenn es kälter wird, sollte sich das Problem von selbst erledigen.“
Als Jan mir dies nach Rücksprache mit der Rübezahl Genossenschaft verkündet, bin ich nur zu bereit, die Kannibalenbrut eigenhändig rauszuschmeißen. Ich knipse das Licht an und fange sie in Jans Kopfkissenbezug, schüttele sie ungeachtet allen Greinens und Knochensplitterns aus dem Fenster. Dort tanzen sie noch eine Weile, summen lächelnd wieder und wieder gegen die geschlossene Scheibe, bis sie erschöpft herabtrudeln und von ihren Artgenossen zerfetzt werden. Einige wenige geben schließlich auf und fliegen jubilierend davon.

Man kann die Putten leicht einsammeln, wenn sie noch in der Erde stecken, aber für das Füllhorn kann ich mich nicht mehr begeistern. Wir latschen den Dreck aus der Küche in alle Teppiche der Wohnung, sogar in den guten alten Flickenteppich, und die Nachbarin beschwert sich, dass wir die Biotonne mit Erde befüllen. Ich habe keine Lust mehr, das Gemüse zu putzen, bis meine Hände rot sind. Die Möhren sind menschenförmig und lassen sich mit all ihren Auswüchsen sehr schlecht schälen. Die Kartoffeln haben zentimeterlange Keime. Ich will überhaupt kein Wurzelgemüse mehr und gehe dem Füllhorn fremd. Obwohl ich mich noch nie sonderlich für Gemüse interessiert habe, fühle ich mich nun unwiderstehlich von den prallen Kurven glänzender südafrikanischer Paprika und dem süßen Duft grasgrüner mexikanischer Zuckerschoten angezogen, die ich roh und ungewaschen auf dem Weg vom Supermarkt nach Hause verschlinge. Jan putzt und kocht tapfer weiter, Eintopf, Suppe und Auflauf, aber er sieht nicht glücklich aus, nicht mal besonders gesund. Er geht nicht mehr zum Sport oder zum Duschen und kommt trotzdem nicht hinterher mit dem Essen. Mehr und mehr Möhren, die zu dreckig für den Kühlschrank sind, verschrumpeln neben dem Füllhorn zu alten Männern.
Als ich ihn eines Abends dabei ertappe, dass er wie hypnotisiert auf meine Tiefkühlpizza starrt, sage ich: „Jan, du bist zum Sklaven des Füllhorns geworden. Jetzt kündige doch endlich diesen vermaledeiten Vertrag!“
Er bricht in Tränen aus, schiebt den Teller grauer Suppe von sich und verbirgt das Gesicht in seinen rohen Händen. Tiefe Schluchzer erschüttern seinen ausgemergelten Körper, dann ist er eine Weile ganz still. Ich will schon nach seinem Puls tasten, doch da hebt er den Kopf und spricht ruhig: „Du hast Recht. Es muss aufhören. Morgen rufe ich an.“

Am Tag darauf komme ich nach Hause und der Trichter ist weg. Stattdessen klafft ein riesiges schwarzes Loch in der Küchenwand. Ich wundere mich, wie es da so weit und so schwarz klaffen kann, wo doch das Nachbarhaus von außen ganz eng neben unserem steht, und ärgere mich, weil es jetzt noch mehr zieht. Jan ist nicht zu Hause. Wahrscheinlich ist er zu seinen Eltern gefahren, um sich mit Schweinebraten aufpäppeln zu lassen. Hat mich einfach mit dem Loch allein gelassen.

Als es ein paar Tage später beginnt, aus dem Loch zu stinken wie hungriger Atem, habe ich noch immer nichts von ihm gehört. Ich fluche ihm auf die Mailbox und fahre zum Baumarkt, um eine Rigipsplatte zu kaufen. Mit langen Spaxschrauben befestige ich sie über dem Loch. Dann stelle ich das Regal davor und gehe mir Currywurstpommes holen.

 

Hallo Feirefiz!

Mit deinem Humor triffst du bei mir voll ins Schwarze. Ich hab ständig gelacht. Dabei ist es einfach dein Gefühl fürs Komische und nicht irgendwelche Pointen. Tatsächlich fand ich beinahe jeden Satz lustig. Angefangen beim ersten Satz:

„Eine Gemüsekiste würde unser Leben perfekt machen“,
über
Mir klingt das alles eher unheimlich, schon weil ich mir denke, diese Gewächse werden wohl aus gutem Grund vergessen worden sein
und „
Der Rübezahl ist da! Nimm mal bitte dein Scheiß Gemüse entgegen!“
und
Mehr und mehr Möhren, die zu dreckig für den Kühlschrank sind, verschrumpeln neben dem Füllhorn zu alten Männern
und und und...

Ich bin einfach begeistert und das Ende find ich auch fantastisch. Der Gesundheitswahn wird von dir so erfrischend anders dargestellt. Und ich denke, dass viele vergessen, dass ne Currywurst, die man genießt, im endeffekt vielleicht gesünder ist, als ne runtergewürgte Rübe mit Stresshormonsoße.

Grüße

Herrlollek

 

Hey Herlollek,

freut mich sehr, dass Du das hier noch mal ausgebuddelt hast und den Text so magst. Ich hatte noch heimlich ein bisschen dran rumgedoktort (gedorktert?) und eines der neuen Witzchen hat es direkt in Deine Hitlist geschafft. :D
Currywurst, hmmm, wahrscheinlich hab ich die reingeschrieben, weil die mir hier so fehlt.

lieben Gruss und schoenen Dank,
fiz

 

Hey feirefiz!

Ich mag deine detailierten Beschreibungen, da sehe ich die ganze Szenerie vor mir. Und jetzt wein nicht, aber ich hab den Typen auch für ein Mädchen gehalten, kommt aber daher, weil du eins bist. :P
Ich glaube, wenn die Geschichte von einem Typen geschrieben worden wäre, hätte ich es auch aus dieser "männlichen Sicht" gelesen. Das heißt jetzt aber nicht, dass er als männliche Figur unglaubwürdig ist, ja ich kenne solche Exemplare.

Figuren sind toll, plot auch, Stil super, leider zieht sich der Mittelteil so elendig lang dahin. Ich weiß auch nicht warum, dabei habe ich das echt gern gelesen, aber ich hätte auch gern einige Stellen abgekürzt gehabt.

Und worum geht es da eigentlich? Da werden offenbar Menschen recycelt, iii, und die Putten? Ich krieg keinen Zusammenhang hergestellt, sollen sie die Seelen dieser verwerteten Menschen darstellen? Oder sogar die Schutzengel? Sind diese fetten Engel dafür verantwortlich? Keine Ahnung, vielleicht lese ich die Geschichte noch einmal, wenn ich Lust dazu habe.
Es hat mir jedenfalls Spaß gemacht, bei jeder Passage zu denken, ah, ich glaubs, ich habs gecheckt und dann kommt eine andere, die das alles zunichte macht. Jetzt lach nicht. Hat Spaß gemacht, tschö!

JoBlack

 
Zuletzt bearbeitet:

Guten Abend, Fraeulein Black,

Und jetzt wein nicht, aber ich hab den Typen auch für ein Mädchen gehalten, kommt aber daher, weil du eins bist. :P
Ich glaube, wenn die Geschichte von einem Typen geschrieben worden wäre, hätte ich es auch aus dieser "männlichen Sicht" gelesen.
Nee, da wein ich nicht. Bin ja kein Maedchen! Ausserdem geht mir das genauso. Wenn ich mir einen Autor vorstelle, ist Ich immer erstmal ein Mann und bei Autorin eben andersrum. Das kann man natuerlich im Nachhinein mit abstrusen Gender-Theorien verbraemen wie gewisse Vorkommentatoren :P, oder einfach zugeben.

Den Mittelteil knoepf ich mir vielleicht nochmal vor, obwohl der ja schon herzhaft ausgekaemmt wurde. Ich habe den Text mittlerweile auch auf Englisch uebersetzt, damit mein Mitbewohner ihn auch lesen kann. Dabei habe ich ihn auch gekuerzt. Dann muesste das hier auch moeglich sein.

Und worum geht es da eigentlich? Da werden offenbar Menschen recycelt, iii, und die Putten? Ich krieg keinen Zusammenhang hergestellt, sollen sie die Seelen dieser verwerteten Menschen darstellen? Oder sogar die Schutzengel? Sind diese fetten Engel dafür verantwortlich? Keine Ahnung, vielleicht lese ich die Geschichte noch einmal, wenn ich Lust dazu habe.
Ich gebs nicht gerne zu, aber da bist Du zu schlau fuer die Geschichte. Da wird niemand recycled, Jan wir ganz klassisch vom Ruebezahl "geholt". Und die Putten sind eben nur Parasiten, fies zwar, aber damit hats sich. Ich schaeme mich auch dafuer.

Adios!
fiz

 

Ich gebs nicht gerne zu, aber da bist Du zu schlau fuer die Geschichte. Da wird niemand recycled, Jan wir ganz klassisch vom Ruebezahl "geholt". Und die Putten sind eben nur Parasiten, fies zwar, aber damit hats sich. Ich schaeme mich auch dafuer.
Das dachte ich, weil eben irgendein Gemüse nach langer Zeit wie ein alter Mann aussieht. Oder die Kartoffeln, die menschliche Erscheinungen annehmen?Dann noch der Troll, der das Ding da anbauen sollte, und auf seinem Hemd war irgendwas, da stand auch was mit Berg aus Menschen. Und dann wird Jan, der sich die ganze Zeit davon ernährt hat, geholt. Damit der Kreislauf auch erhalten bleibt.
Hab vielleicht auch nur das gelesen, was ich lesen wollte. :P Aber Hinweise gibt es! Jawohl!

 

Das dachte ich, weil eben irgendein Gemüse nach langer Zeit wie ein alter Mann aussieht. Oder die Kartoffeln, die menschliche Erscheinungen annehmen?Dann noch der Troll, der das Ding da anbauen sollte, und auf seinem Hemd war irgendwas, da stand auch was mit Berg aus Menschen. Und dann wird Jan, der sich die ganze Zeit davon ernährt hat, geholt. Damit der Kreislauf auch erhalten bleibt.
Das hoert sich sehr ueberzeugend an. Der Trichter ist ja auch ein Schlund, also wird Jan natuerlich schon auch gefressen und mit dem drohenden Leichenberg, klar, das ist prophetisch. Soweit hatte ich das schon angedacht, aber der entscheidende Recyclingedanke ist mir nicht so gekommen, obwohl es ja logisch ist. Ich haette es halt detailliert ausdenken, zueinanderkoordinieren und zu einem ordentlichen Geheimgeruest der Geschichte ausbauen sollen. Die menschliche Erscheinung der Gemuese war mehr ne Anspielung auf den Ruebezahlmythos.
Schon verlockend, da jetzt nochmal umzubasteln und kuerzen auch vielleicht noch, aber im Moment muss ich leider ganz anderen Mist schreiben. Tja

 

Hallo feirefiz,

Deine Geschichte hat mir wirklich sehr gut gefallen. Das liegt vor allem an Deinem ungewöhnlich souveränen Schreibstil – und an den originellen Einfällen, die sich durch den gesamten Text ziehen. Und zwar sowohl, was die pointierten Dialoge angeht, den Inhalt bzw. die Idee des Textes allgemein und die sprachliche Umsetzung. Du streust immer wieder kleine, amüsante Zwischenhäppchen ein (die Beschreibung des quadratischen Gnoms, oder die Schweißstriemen von Rübezahl). Und Deine Art zu formulieren, die Mittel, mit denen Du im Leser Bilder erzeugst, sind sehr wirksam. Deine Sprache ist sehr reduziert und präzise – Du beschreibst originell und ohne Umwege. Ich meine zum Beispiel Formulierungen wie „Schicksalsergebenheitsgesten“ – gleiches gilt für die Charakterisierungen: Du hältst Dich nicht damit auf, die Figuren zu beschreiben, die Figuren beschreiben sich sozusagen selbst, durch die Art und Weise, wie sie sprechen oder handeln. Ein gutes Bespiel ist Jans „vergessenes Gemüse“: Diese schrullige, sympathische Formulierung, die den Enthusiasmus der Person brillant wiedergibt ersetzt umständliche Charakterbeschreibungen. Das finde ich wirklich sehr, sehr gelungen.

Gruß

Hal

 

Hallo Hal,

hier werden einem die Adjektive ja gerne mal um die Ohren geschlagen, aber Deine gefallen mir ausgezeichnet: souveraen, originell, pointiert, reduziert, praezise, schrullig, sympathisch. Wenn es so ankommt, macht mich das sehr gluecklich. Und das timing Deines Kommentars ist auch super. Ich hatte naemlich die englische Version der Geschichte bei einem Wettbewerb eingereicht und erst vorgestern die Nachricht erhalten, dass ich nicht gewonnen hab. Dabei hatte ich das Preisgeld schon ausgegeben, hrmpf. Und dann schrieben sie noch troestend dazu, dass es doch immerhin ganze 9 Einsendungen gegeben habe. Grrrrrrr!

Du hältst Dich nicht damit auf, die Figuren zu beschreiben, die Figuren beschreiben sich sozusagen selbst, durch die Art und Weise, wie sie sprechen oder handeln.
Ja, das ist so ein Tick von mir. Ich will aber jetzt auch mal ueben, direkt zu charakterisieren. Ich les ja grad Zadie Smith und die kann das ganz hervorragend. Das macht macht mich neidisch.

Vielen Dank fuer Deinen Kommentar und viele Gruesse,
fiz

 

Hallo feirefiz,

fairerweise wollte ich nach kitty68 etwas von deinen richtig guten Sachen kommentieren, da ist mir dieser Text eingefallen, den ich schon einige Male überflogen hatte. Ich habe ihn sehr gerne gelesen! Dieses magische Element - zuerst Rohrpost ohne Leitung, dann die Putten - wird von den Protagonisten so selbstverständlich akzeptiert, dass es sich gut in die Geschichte einfügt. Trotzdem lässt es ein Gefühl zurück, dass hier etwas nicht stimmt. Wobei: Wir wissen ja auch nicht wirklich, wie die Signalübertragung im Internet funktioniert und posten trotzdem in diesem Forum. :)

Sehr schön finde ich die Einzelheiten bei den Beschreibungen, etwa:

Er trägt ein mintgrünes Polo-Hemd auf dem „Rübezahl“ steht. Als er sich bückt, um den Sack zu öffnen, sehe ich einen dunklen Schweißstriemen auf der Rückseite des Hemdes. Er beginnt zwischen den Schulterblättern, verbreitert sich nach unten und verschwindet zuletzt mit Hemd unter dem Gürtel, „gesund und lecker“ steht darüber.
und:
„Nein, das sind Putten“, rufe ich, als die kleinen Wesen sich die Erde aus den goldenen Locken schütteln und von den rosigen Hintern klopfen. Hinten haben sie Arschritzen aber von vorne sieht es aus, als ob sie winzige Hautunterhosen tragen. Eine nach der anderen fächert ihre schwarzblau schillernden Flügel auf und schwirrt hinauf zur Küchenlampe. Dort tanzen sie schließlich alle durcheinander, mindestens zwanzig Stück, und beginnen mit Glockenstimmen zu summen und zu singen.

Was für mein Gefühl nicht ganz stimmt, ist das Verhältnis zwischen Jan und dem Erzähler. Die wirken eher wie ein Paar, nicht wie wie Studenten, die in einer WG zusammenwohnen. Etwa hier:
„Mein Gott, tu doch was, Jan!“, schreie ich und will ihn am Kragen packen, doch er ist nackt, deshalb packe ich ihn an den Schultern.
Sowohl das "tu doch was" als auch das Nackt-Herumstehen.

Sonst fand ich alles sehr plausibel und wundere mich ein wenig, dass nach all den guten Kritiken noch niemand diese Geschichte empfohlen hat.

Freundliche Grüße,

Berg

 

Was für eine schöne Geschichte!
Voller absurder Komik, spannend, Gruselelemente sind enthalten. Sehr gut, dass Berg diese Geschichte wieder hervorgeholt hat.
Ich hab mich prächtig amüsiert an diesem frühen Morgen und mich über deine originellen Einfälle gefreut und über deine sehr sinnlichen und treffenden Beschreibungen. Richtig was zum Anpacken.
Das fängt an mit dem Troll, über dessen Schweißschleifspur "gesund und lecker" steht. Und es hört bei den davonfliegenden jubilierenden Putten noch lang nicht auf. Wär ich Currywurstbude, ich würd sofort deine Geschichte kaufen und zur Werbung verwenden.
So - für mehr keine Zeit ... ist ja auch alles gesagt. Einfach nur Daumen hoch.
Liebe Grüße
Novak

 
Zuletzt bearbeitet:

Super, ich möchte Berg danken, dass er diese unheimlich gute Geschichte ausgegraben hat, außerdem auch Dank an dich, feirefiz, für eine meiner Lieblings-KG.de-Geschichten aus 2010. Hab mich dazu nie geäußert, welch Schande. Aber ich wollte dich seinerzeit nicht damit nerven, dass mir der Prot auch sehr weiblich vorkam, das machte für mich auch Rübezahl viel glaubwürdig absurder, der die Frau für den Herren hielt ... :D

 

Sonst fand ich alles sehr plausibel und wundere mich ein wenig, dass nach all den guten Kritiken noch niemand diese Geschichte empfohlen hat.

das hat mich vor einem Jahr schon gewundert und wenn die jetzt wieder niemand empfiehlt, wundere ich mich weiter. obwohl die Geschichte so als absoluter Geheimtipp gelten kann, das ist auf ganz eigene Art sexy.

 

Oh schade, Kubus, jetzt haben Berg und ich dir die Tour vermasselt
schadenfreut sich Novak

 

Dort sitze ich dann im Bett und lese Parzival,
und der da auf der Suche nach dem Gral durchs Tal geht wundert sich, wie er bisher vorbeikommen konnte an diesem Kleinod, das den sagen- & volksmärchenhaften Musäus (Rübezahl) mit den märchen- & sagenhaften Grimm Bros. (u. a. Tischlein deck dich!) verknüpft und dem schwarzen Loch in der Wand – das noch reparabel durch Rigips erscheint – durch seine negative Hawkings-Strahlung als Verdauungs- bzw. Mundgeruch Theorie und Praxis real werden lässt,

lieber großer Bruder.

Kunst findet an ihren Ursprung in der Religion mit Anklängen an moderne Entwicklungen der Pädagogik zurück:

Doch da ist noch was in der Erde. Klein, pink und wimmelig.
„Äch, Würmer“, sagt Jan und wir starren.
„Nein, das sind Putten“, …

Gibt’s das „wimmelig“? Wimmeln als schnelles hin- und herbewegen in der Nachbarschaft zum ach so viel populäreren „ficken“ - man stelle sich den Titel vor "Wimmeln bis zum Tod" - das gleichwohl nicht ganz so schnell wie’s wimmeln ist und nur ein „hin und her bewegen“ (Duden Bd. 7, S. 215, rechte Spalte) bedeutet.

Wie dem auch sei, neig ich dazu: spätestens mit seinem ersten Auftauchen (wahrscheinlich hier) wird wimmeln als Adjektiv aktiviert!, da wird selbst das starren (starr = steif) zum bewegenden Erlebnis –

auf Putten, im Barock auftauchende und beliebte Knaben- und Engelgestalten, aus dem italienischen Knäblein („putto) geschaffen. Und weil wir nichts mit Päderastern zu tun haben, will ich das Gewimmel als Ameisen ansehen, deren Männchen (Drohnen, nicht zu verwechseln mit der elektronischen Waffe oder dem Bienenvolksteil) vom Licht angezogen werden und singen mit glockenhellen Stimmen des Thomanerchores „Herr, erbarme Dich!“

Bissken für die Kleinstkrämerseele – Flüchtigkeit:

Dieses doppelte Greinen ist unterträglich.
Da saachich ma’ nix …

… und stosse die Tür …
Sollte die ß-Taste inzwischen verschollen sein?

… und im Übergang zur Zeichensetzung:

Mitten in der Nacht werde ich von Gerappel geweckt und denke „aha!“.
Da denkt also einer „eigentlich“ gar nix, bräuchte also nicht mal des Ausrufs, um somit den Punkt abschließend von Notwendigkeit zu befreien und entbehrlich zu machen. Aber so, elend Schicksal! –
hat sich der abschließende Punkt durchs Ausrufezeichen entbehrlich gemacht …

Zeichensetzung:

Sie singen noch um die Lampe herumKOMMA als wir essenKOMMA und manchmal lassen sie …

Während ich die Sackzipfel dort zu einem sehr haltbaren Knoten vertäue, überlege ichKOMMA welche Tonne.
Aber auch für mich problematisch:

„Das ist rote Beete“, sagt er und lächelt. / Zum Mittagessen kocht Jan die rote Beete.
Die besondere Zuchtvarietät der Runkelrübe ist vom lateinischen Beta vulgaris var. Esculenta abgeleitet und schreibt sich danach (schon seit althochdeutscher Zeit) üblicherweise „Bete“ und hat nix mit dem „Beet“ zu tun, das hierzlande vom „Bett“ wiederum abgeleitet wurde.

Könnt’s ein Anglizismus sein? Deine Schreibweise (engl.: beet = Rübe, beetroot = rote Bete, von Amerika kommt gar „red beet“, aber das weißtu besser als ich) wird gleichwohl von der anpassungswilligen Dudenredaktion zunehmend anerkannt, als wenn Volksentscheide & -etymologien jemals die Todesstrafe beseitigt hätten …

Wie dem auch künftig werde: bei dieser fem. Begriffspaarung schien mir die Pluralbildung allein übers Adjektiv und / oder das beigestellte Verb möglich zu sein, dergestalt:

„Das ist rote Be[.]te“, sagt er und lächelt. / Zum Mittagessen kocht Jan die rote[n] Be[.]te.
Alternativ:
„Das [sind] rote Be[.]te“, sagt er und lächelt.

Und dann der Schock: Sprachgefühl und eigener Sprachgebrauch (ein Tipp an Jan: Rote Bete Salat ist klasse! und i. d. R. einfach, weil eh schon fast fertig, zuzubereiten) hat getäuscht: die rote Bete sing., die rote Beten pl. Also wieder abgeändert:
„Das ist rote Be[.]te“, sagt er und lächelt. / Zum Mittagessen kocht Jan die rote Be[.]te[n].

Tatsächlich noch was zugelernt und das auf höchst amüsante Weise.
Ich will überhaupt kein Wurzelgemüse mehr und gehe dem Füllhorn fremd,
und wieder gehts durchs Tal auf der Suche nach'm Gral.

Gern gelesen vom

Wolframverehrer

 

Hallo Leute,

bitte entschuldigt, dass ich mich erst so spaet melde. Ich hab mich sehr ueber die Kommentare und die Empfehlung gefreut, aber ich musste so so viel arbeiten, so viel wie nie zuvor in meinem faulen Leben. Also vielleicht haette ich schon mal einen Moment gehabt, um zu antworten, aber ich hatte keinen Kopf dafuer. Auch mein Privatleben, voellig vernachlaessigt. Mein ganzer Kalender war voll mit Galgenmaennchen und Totenkoepfen. Mein Auto, in dem ich meinen gesamten Hausstand samt Hamster umziehen wollte, ist auf der A43 liegen geblieben und musste abgeschleppt werden ... So:

Lieber Berg,

vielen Dank fuer's Ausgraben. Es freut mich auch sehr, dass Dir der Text plausibel vorkam. Ja, Jan und der Erzaehler. Manchmal brauch ich halt ne Weile, aber ich werd mich da jetzt echt noch mal ranmachen und das Verhaeltnis deutlicher machen. Vielleicht einfach so "mein Mitbewohner Jan". Das ist zwar nicht extrem elegant aber extrem eindeutig und unkompliziert.

Hallo Novak,

Wär ich Currywurstbude, ich würd sofort deine Geschichte kaufen und zur Werbung verwenden.
Ich werde mal versuchen, den Text in die Richtung zu vermarkten. Oder vielleicht klaut ihn ja auch jemand und nimmt mir die laestige Vermarktungsarbeit ab. Schoenen Dank auch Dir fuer's Spassdranhaben und Kommentieren.

Hallo Webmaster

Dank an dich, feirefiz, für eine meiner Lieblings-KG.de-Geschichten aus 2010. Hab mich dazu nie geäußert, welch Schande. Aber ich wollte dich seinerzeit nicht damit nerven, dass mir der Prot auch sehr weiblich vorkam, das machte für mich auch Rübezahl viel glaubwürdig absurder, der die Frau für den Herren hielt ...
Ach, das freut mich! Und wie gesagt, ich setzt mich noch mal ran, um das mit dem Geschlecht des Prots deutlicher zu machen, obwohl der Gedanke, dass Ruebezahl so durch den Wind ist, dass er Frau Meier fuer Herrn Schneider haelt, mir auch gefaellt.

Hallo Friedel,

und der da auf der Suche nach dem Gral durchs Tal geht wundert sich, wie er bisher vorbeikommen konnte an diesem Kleinod, das den sagen- & volksmärchenhaften Musäus (Rübezahl) mit den märchen- & sagenhaften Grimm Bros. (u. a. Tischlein deck dich!) verknüpft und dem schwarzen Loch in der Wand – das noch reparabel durch Rigips erscheint – durch seine negative Hawkings-Strahlung als Verdauungs- bzw. Mundgeruch Theorie und Praxis real werden lässt,
Aber da musst Du die Parzival Geschichte auch noch reinstecken, wo Du den Hinweis doch als erster aufpickst. Der ist doch aelter als Tischlein deck dich! Auch wenn das eines meiner Lieblingsmaerchen ist, schon wegen diesem in Reimen luegenden Ziegenaas.

Wie dem auch sei, neig ich dazu: spätestens mit seinem ersten Auftauchen (wahrscheinlich hier) wird wimmeln als Adjektiv aktiviert!, da wird selbst das starren (starr = steif)
Das freut mich, dass Du mir hier die okassionelle Adjektivierung zugestehst. Es ist doch auch ein nuetzliches Wort.

Sollte die ß-Taste inzwischen verschollen sein?
Wieso inzwischen? Ich hatte doch bekantermassen noch nie eine. Werde ich aber umstaendlich einfuegen, das Zeichen.

Könnt’s ein Anglizismus sein? Deine Schreibweise (engl.: beet = Rübe, beetroot = rote Bete, von Amerika kommt gar „red beet“, aber das weißtu besser als ich) wird gleichwohl von der anpassungswilligen Dudenredaktion zunehmend anerkannt, als wenn Volksentscheide & -etymologien jemals die Todesstrafe beseitigt hätten …
Das ist nett, dass Du mir direkt die Ausreden mitlieferst. Tatsaechlich erwuchs die Geschichte ja aus Erlebnissen mit einer englischen, also mit beetroot bestueckten Gemuesebox. Wird trotzdem geaendert.

Liebe Gruesse und herzlichen Dank an alle,

fiz

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo feirefiz,

jetzt muss ich schon wieder eine Kritik schreiben, weil ich die Story so gut und interessant fand. Es ist ein äußerst skurriles Stück Text. Ich schreibe ja auch gerne Geschichten, in denen sich gewohnte Realität mit fantastischen Elementen vermischt. Und natürlich lese ich sie auch gerne.

Schönen guten Abend, meine Damen und Herrn,
wir machen Rapmusik und wir hören sie auch gern.

Die Fantastischen Vier - Jetzt passt auf

Das ist so eine richtig erdige Geschichte. Irgendwie haben mich die Motive darin an "Ronja Räubertochter" (weil mir die Szenen mit den komischen Viechern im Wald noch so präsent sind) oder "Der goldene Kompass" erinnert. Zu Beginn war mir die Geschichte fast zu konventionell, weil eine bekannte Sagengestalt die Szene betrat. Als dann die Putten kamen, erschien mir das erst ein wenig wie "typisch deutsche" und brave Fantasy, wie sie auch ein Loriot oder so hätte schreiben können, wenn er mal etwas leicht Bewusstseinserweiterndes konsumiert hätte. Aber das Gefühl wich weitgehend von mir, weil ich meine Aufmerksamkeit darauf richtete, wie du diese eigenartigen Geschehnisse als Autor dargestellt hast.

Es gibt noch diesen einen furchtbaren Anglizismus im Titel. Es muss "Das Rübezahl-Füllhorn" heißen. Hat das noch keiner gesagt?

Insgesamt hast du deine verrückten Visionen sehr gut in Textform gegossen. War ein Lesevergnügen.

Gruß
Leif

 

Hallo Feirefiz,

ich mußte schmunzeln, aber dann wurde es zu absurd.

 

Hallo Leif,

tut mir so leid, ich habe Deinen Kommentar erst jetzt durch den von Felix-Florian entdeckt. Als Du schriebst, sass ich gerade ohne Internet vor einem schwedischen Kamin und offensichtlich habe ich nach meiner Rueckkehr die Rubriken nicht ordentlich durchgekaemmt. *schaem*

Das ist so eine richtig erdige Geschichte.
Das gefaellt mir. Auch die Verbindung zu Ronja Raeubertochter, die ich besonders im Film sehr liebe. Ich hab den vor ein paar Jahren in England mal mit meinen Mitbewohnern (u.a. dem, mit dem ich damals die Veg-Box teilte, die diese Story inspirierte) gesehen, die den gar nicht kannten. Da fiel mir erstmal auf, wie skurril der auf Aussenstehende wirken muss, mit den Rumpelwichten und Raeubergesaengen. Sie haben ihn natuerlich geliebt! Den Goldenen Kompass kenne ich nicht.

Es stimmt schon, ich hab hier viel Sagengut verwurstet, aber ich denke nicht, dass das eine Geschichte konventionell machen muss und schon gar nicht brav - die Ruebezahlgeschichte ist doch voll krass! Na ja, aber so hab ich Dich auch gar nicht verstanden, dass Du da einen zwingenden Zusammenhang siehst, und es freut mich natuerlich, dass Du die Geschichte boese genug findest. Eine Prise Boese habe ich eigentlich immer in mir.

Es gibt noch diesen einen furchtbaren Anglizismus im Titel. Es muss "Das Rübezahl-Füllhorn" heißen. Hat das noch keiner gesagt?
Nee, noch keiner. Ich koennte den furchtbaren Abglizismus natuerlich damit entschuldigen, dass sich sowohl die Vorgeschichte als auch das Verfassen der Geschichte in England abgespielt haben. Oder ich koennte einfach die Schnauze halten und den Titel zum genuin deutschen Kompositum "Das Rübezahlfüllhorn" aendern.

Vielen Dank fuer Deinen Kommentar und fuers Gutfinden.

Hallo Felix-Florian,

ich mußte schmunzeln, aber dann wurde es zu absurd.
kann ich verstehen, aber nicht aendern. Urspruenglich hatte ich mal geplant mein Veg-Box Trauma in einem realistischeren Rahmen aufzuarbeiten, aber dann waeren die Kritiker zurecht ueber mich hergefallen und haetten mir Kolumnenhaftigkeit vorgeworfen. Wie froh war ich ueber den Ausweg der Absurditaet.

Vielen Dank fuer Deinen Kommentar.

lg,
fiz

 

:lol: :thumbsup:
Ist schön, dass diese Geschichte für die Wahl nochmal ausgegraben wurde.
Daran zu kritisieren hab ich überhaupt nichts.
Die Situationskomik ist großartig.
Und was den Sprachwitz angeht, haben mir zum Beispiel die Stellen hier besonders gut gefallen:

Ich sage: „okay“, weil er anfängt, mir Rezepte für Schwarzwurzel, Melde und Topinambur vorzulesen, die er als "vergessene" Gemüse bezeichnet. Mir klingt das alles eher unheimlich, schon weil ich mir denke, diese Gewächse werden wohl aus gutem Grund vergessen worden sein.

...

Ich renne in Jans Zimmer. „Jetzt komm mal raus hier, ein bisschen zügig! Der baut da irgendwas in die Küche ein. Das ist doch Mist. Sag das ab!“

...

Also backt er die einzelne rote Beete erst 90 Minuten im Ofen, lässt sie eine halbe Stunde abkühlen und versuppt sie dann zu pinkem Schaum, der um fünf Uhr fertig ist. Eine halbe Schüssel für jeden von uns. Ich habe die Wurzel unter Jans Anleitung lange geschrubbt, aber die Suppe schmeckt trotzdem erdig. Insgesamt kommt mir das Ganze unpraktisch vor,


Achso, ich hatte damals auch noch eine ganz eigene Theorie zur Geschlechterverwirrung, ich hatte den Erzähler nämlich auch erst als Mädchen gelesen:
Insgesamt kommt mir das Ganze unpraktisch vor, aber ich behalte es für mich, weil ich Jan nicht verletzten will.
Das und noch eine Stelle, die aber bei der Überarbeitung rausflog, als der Erzähler für Jan Wurst besorgt hat, "um ihm über die Enttäuschung wegzuhelfen". Dieses sich-kümmern, sich-Sorgen-machen-um-die-Erwartungen-anderer, das find ich hier typisch weiblich beschrieben. Das ist so ... mütterlich. Wobei Männer sich bestimmt genauso verhalten können und wohl auch mit denselben Motiven, aber sie würden es mit anderen Worten beschreiben. Behaupte ich. Man müsste mal fragen ... :D

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom