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Der Ausbruch
Es läuteten die Kirchenglocken. Es läuteten immer irgendwo die Glocken irgendeiner verdammten Kirche, oder wenn nicht, dann bimmelte ein Kloster oder es gab eine Prozession bei der - man glaubt es kaum, irgendwelche Glöckchen bimmelten und Holzratschen klapperten. Das war die Hintergrundmusik seines Lebens, des Lebens von jedem Menschen in Luchtahinna.
Besonders schlimm war es aber am Abend des Bæntages, dem offiziellen Ruhe- und Gebetstag. Dann strömten alle in die Kirchen, besser war es auch, denn an diesen Tagen war die Religionspolizei besonders aktiv und kümmerte sich um diejenigen, die den Weg nicht von allein in ein Gotteshaus fanden. Trotz der freundlichen Begleitung durch mindestens zwei Männer kamen die Leute meist ziemlich zerschunden in ihren Gemeinden an, sie waren meistens gestürzt oder ganz dumm gegen Türen gelaufen, manchmal gleich mehrfach. Manchmal kamen Menschen aber auch nie in der Kirche an, sie gingen irgendwie und trotz der fürsorglichen Aufsicht einfach verloren. Manchmal tauchten die Verschwundenen Monate, ja Jahre später wieder auf. Sie sprachen niemals über das, was geschehen war – und gingen brav und regelmäßig in den Gottesdienst und erwiesen sich auch sonst als äußerst gläubige und treue Untertanen.
Wie viel Zeit auch er in den Kirchen verbracht hatte. Was für eine Verschwendung von Lebenszeit. Die kalten, großen, dunklen Gemäuer. Die harten Bänke. Die geifernden, keifenden Prediger, die Hass gegen alles und jeden verspritzten. Das endlose Aufsagen von bedeutungslosen Texten toter Männer, die offensichtlich zu größten Teilen ein sehr einsames Leben geführt und ihre Wut auf alle fröhlichen und glücklichen Menschen dieser Welt in sinnlose, nervenaufreibende Regeln gefasst hatten, mit denen ein ganzes Volk geknechtet wurde.
Bis vor einem Jahr hatte er jeden Tag in einem der dunklen Gotteshäuser gesessen und den ganzen Müll, den ganzen Hass, dieses Geseier und Gelaber, diesen Dreck über sich ergehen lassen – und er hätte am liebsten dem Priester vor die Füße gekotzt. Drastisch. Aber genauso war es. Jetzt endlich hatte er einen eigenen Beruf als Schreiber im Amt für Bürgererfassung der Hauptstadt. Nichts Besonderes, aber sein eigenes Geld. Er konnte sich jetzt ein kleines Zimmer in einem der großen Mietshäuser am Stadtrand von Luchtahinna leisten. Das bedeutete zwar auf der einen Seite einen fast einstündigen Fußmarsch zur Arbeit, denn sein Büro lag im Stadtzentrum, im Schatten der monströsen Kathedrale, andererseits gab es hier, direkt um die Ecke, keine große Kirche.
Die Bewohner dieser Häuser, meist waren es Häuschen der Unterschicht, daneben einige größere Anwesen, in denen Zimmer vermietet wurden, gingen zu einer der kleinen Kapellen, die in der Nachbarschaft verteilt lagen. Wenn man einen Nachbarn nicht sah, hieß das also noch lange nicht, dass er nicht doch irgendwo in einem Gottesdienst saß.
Das war das Beste an dieser Wohnlage. Außerdem kannte hier niemand irgend wen. Man lebte still vor sich hin, noch stiller als sonst üblich. Freundschaften außerhalb der Familie waren etwas sehr Seltenes in Luchtahinna, denn man wusste nie, wer für die Religionspolizei arbeitete, ob man dem Gegenüber wirklich vertrauen konnte. Das Misstrauen war hier, in dieser gesichtslosen Siedlung am Stadtrand noch viel größer. Hier lebten Neuankömmlinge, Außenseiter – und sogar ein paar Ausländer, auch wenn die selten länger als ein paar Monate hier blieben. Das klang jetzt alles ganz schrecklich – und das war es auch.
Aber andererseits war es ideal für ihn, ja perfekt. Hier achtete niemand darauf, ob er wirklich einen Gottesdienst besuchte. Er musste nur, eine Stunde vor der üblichen Gebetszeit war perfekt, auf die Straße gehen, frisch gewaschen und gekämmt, ein wenig hin und her laufen, und konnte dann zügig nach Hause zurückkehren und dort seinen Gottesdienst feiern. Er kicherte ein wenig. Es war nicht seine Idee , diese Zeit ihren Gottesdienst zu nennen, sondern Mikels.
Mikel. Schon der Name ließ ihn lächeln und näher an das Fenster treten, in der Hoffnung ihn schon ganz bald zu sehen. Sie hatten kein besonders großes Zeitfenster. Die Gottesdienste dauerten zwar mindestens zwei Stunden, aber es gab immer ein paar Menschen, die zu spät kamen, dann die Patrouillen der Religionspolizei etwa 45 Minuten nach Beginn.
Ah, da sah er ihn. Ein huschender Schatten vor dem Haus, der sich in der Dämmerung bewegte. Kurze Zeit später umarmten und küssten sich die beiden Männer leidenschaftlich. Das war ihr Tag. Sie sahen sich auch an den anderen Tagen der Woche, denn sie waren Arbeitskollegen, aber nur an Gebetstag waren sie wirklich frei, Zeit miteinander zu verbringen. Natürlich stand die Todesstrafe auf ihr Verhalten – widernatürliche Unzucht zwischen Männern war eine Abscheu Gottes – aber dieser Gott Himlar verabscheute so ziemlich alles:
Fisch am zweiten Tag der Woche, Abscheu.
Die Farbe rot bei der Kleidung von Männern, Abscheu.
Männer ohne Vollbart. Abscheu.
Frauen ohne Schleier. Abscheu.
Musik und Tanz – meistens auch Abscheu.
Sex – pfui, nein, nur im Dunkeln, unter der Decke und mit dem Zweck, Kinder zu zeugen.
Naja, also das konnte ihnen schon mal nicht passieren. Im Dunkeln passierte es meistens schon, damit niemand durch die Fenster hereinsehen konnte, aber definitiv nicht unter der Decke. Auf dem Küchentisch oder dem Fußboden gab es ja auch gar keine. Ein Gutes hatten all die seltsamen, irrationalen und äußert störenden Vorschriften schon, hatte Mikel einmal halb im Scherz gesagt:
Alle Männer in Luchtahinna sahen mehr oder weniger gleich aus – die Frauen auch, aber das interessierte sie beide ja grundsätzlich erst einmal weniger. Alle Männer trugen lange Vollbärte, die ihnen bis auf die Brust reichten und eine seltsame Frisur, die sie wie Pilze aussehen ließ. Ein Topfschnitt, ganz gerade, einmal um den Kopf herum. Im Nacken und über den Ohren hoch rasiert und eine Tonsur, die fast den halben Oberkopf einnahm. Nur wer an Haarausfall litt oder einen mickrigen Bartwuchs hatte, sah ein bisschen anders aus. Im Grunde waren doch alle Männer austauschbar. Fast 90 % der Bevölkerung waren auch noch blond, das half nicht dabei, sich als ein Individuum zu fühlen. Warum das ein Vorteil war? Verliebte man sich in eine Person, so konnte man ganz sicher sein, dass es dem Gegenüber nicht um das Aussehen gehen konnte, sondern um den Charakter.Das zumindest Mikels Standpunkt.
Jetzt saßen die beiden Männer auf dem schmalen Bett, die Hände ineinandergeschlungen und schweigend. „Magst du was essen?“, fragte er dann und Mikel nickte. Er hatte nicht viel im Haus, ein wenig Käse, Brot und Räucherfisch, aber er richtete es appetitlich auf einer Holzplatte an, er gab sich immer Mühe, denn dieser Tag war der wichtigste und schönste in der Woche. Während in den Kirchen das Hohelied angestimmt wurde, aßen sie auf dem Boden sitzend, mit einer Kerze, ihr kleines Picknick. Ein echtes wäre ihnen lieber gewesen, aber das war, ja, genau, Abscheu. Davon abgesehen war es auch zu kalt und zu feucht.
„Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?“ sagte Mikel irgendwann zwischen zwei Häppchen geräuchertem Lachs. Er knabberte unsicher an seinem Knäckebrot.
„Gib mir bitte noch eine Woche Bedenkzeit, ja?“
Mikel wirkte enttäuscht, hatte sich aber gut im Griff.
„Gut, eine Woche, aber dann entscheide dich auch. Du weißt, ich gehe nicht allein. Wenn du nicht gehst, gehe ich auch nicht.“
Er griff nach seinen Händen und blickte ihm tief in die Augen:
„Willst du den Rest deines Lebens hier verbringen? Wo wir uns verstecken müssen? Wo wir nie glücklich sein können?“
Er kramte in der Tasche seines langen, sackförmigen Oberhemdes und zog einen zerknitterten Zettel heraus. Er faltete ihn langsam auseinander und legte ihn feierlich auf die Decke. Einar wusste, was es war. Er kannte den Zettel. Er zeigte oben ein offizielles Wappen, eine rote Flagge mit einem weißen Kreuz, in der Mitte des Kreuzes eine Krone und in jedem der vier roten Felder eine Lilie. Es war eine öffentliche Verlautbarung aus Dikamik, einem der westlichen Luchta-Königreiche. In knappen und sachlichen Worten teilte der Text mit, dass das Parlament des Landes entschieden hatte, dass auch gleichgeschlechtliche Paare den Bund der Ehe eingehen könnten – sogar mit dem Segen der Landeskirche von Dikamik. Weiß Gott, wie Mikel an dieses Schriftstück gekommen war. Schon sein Besitz war strafbar, der Inhalt hätte ihn aber auch entlarvt und für dieses Verbrechen verhängte man eben die Todesstrafe. Er trug es stets bei sich wie ein Schatz, in einer versteckten Innentasche seines Hemdes – das er übrigens gerade ausgezogen hatte. Ah. Sex um ihn zu überzeugen, als wenn das funktionieren würde, na gut, es funktionierte fast immer, aber er … ach verdammt.
Er lag auf seiner nackten Brust. Mikel schnarchte ein wenig, aber Einar blickte aus dem Fenster. Es war jetzt Nacht und die Sterne funkelten am Himmel. Ein kleiner, perfekter Moment. Ein Augenblick, der ewig dauern könnte, in einem anderen Leben – oder in einem anderen Land. Er griff vorsichtig nach dem Zettel, der vor dem Bett auf dem Boden lag und betrachtete ihn. Er war jetzt sicherer als jemals zuvor, dass sie gehen mussten. Aber er würde sich trotzdem noch einmal eine Woche Zeit nehmen, um darüber nachzudenken. Erst vor wenigen Monaten hatte ein Arbeitskollege versucht, das Land zu verlassen. Er war nicht sehr weit gekommen und auf der Beerdigung hatte es vor Polizisten nur so gewimmelt.
Wie immer hatte Mikel ihn noch in der Nacht verlassen, leise, aber nicht heimlich. Es war üblich, nach dem Gottesdienst Nachbarn, Familienmitglieder oder Arbeitskollegen zum Essen einzuladen und da dies zu den ganz wenigen Freuden im Alltag Luchtahinnas gehörte, konnten solche Abendessen manchmal auch bis spät in die Nacht dauern. Erstaunlich eigentlich, denn besonders viel gesprochen wurde aus Angst vor Spitzeleien und Denunziationen nicht. Er beobachtete ihn noch vom Fenster aus und Mikel war sogar mutig genug, ihm zuzuwinken. Das war nicht verboten, aber schon fast ein zu großer Ausbruch von Emotionen.
Der Rannsókn-Tag war für ihn noch schlimmer, als der vorherige. Er diente dem Studium der Heiligen Schriften und dem Vorführen der Sünder. Man erwartete, dass alle Einwohner eines Hauses auf der Straße waren und dem Sünderzug zusahen, der durch die Stadt getrieben wurde. Er hasste es und fühlte sich schlecht und schmutzig. Aber an diesem Tag klopfte die Religionspolizei wirklich an jede Tür. Also rasierte er seine Tonsur, zog eines der schlichten Hemden an, streifte einen Umhang über und ging dann in den kühlen Nachmittag. Die meisten seiner Nachbarn waren schon da. Unzählige Tonsuren und verschleierte Frauen, die stumm am Straßenrand standen.
Und immer wieder dieses verdammte Geläute. Da erschien auch schon die Prozession . Wie immer gingen Priester voran, dann Mönche und Nonnen, die Kirchenlieder sangen und mit Rasseln klapperten. Dann kam der Schandpriester der mit einer Glocke bimmelte – ja Glocken waren die wahren Folterinstrumente dieser Kirche! – und hinter ihm, ordentlich und in Zweierreihen die Büßer, so nannte man sie. In weiße, knöchellange Gewänder gehüllt, immer zwei Männer, zwei Frauen, zwei Männer, schön sortiert nach den Verbrechen, die sie begangen hatten.
Heute gab es sechsmal „Ungebührliches Verhalten während des Gottesdienstes“, sechzehnmal Stockhiebe, viermal „lüsterne Blicke“, Strafe zwanzig Peitschenschläge, zwei Tritte in den Schritt, zehnmal „Unkeusches Verhalten in der Öffentlichkeit“ (alles Frauen, natürlich! Diese ekelhaften Huren hatten bestimmt eine Haarsträhne gezeigt, oder noch schlimmer, den Knöchel! Das war doch wirklich absurd!), Schur des Kopfes (als ob man das unter dem Tuch sehen könnt) und das Tragen eines Schildes mit der Aufschrift „Hure“ für zwei Monate.
Aber dann gab es auch einmal „unnatürliche Unzucht zwischen Männern“, Strafe, öffentliche Enthauptung. Er konnte kaum Luft holen. Der Mann, der ja an ihm vorbei getrieben wurde, war das, war das Mikel? Er drängte sich nach vorne, erfüllt von Panik. Sein Herz pochte bis zum Hals, kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Sein Leben wäre vorbei, alles vorbei. Der Mann war fast heran, blondes Haar, das jetzt wirr Abstand, eine unrasierte Tonsur, ein wilder, schmutziger Bart, blaue Augen in einem geschwollenen Gesicht. Einem vage bekannten Gesicht, aber es war nicht Mikel. Fast hätte er laut aufgeschrien, als die Angst von ihm abfiel, aber es war einer von ihnen, der da mit gefesselten Füßen und Händen an den Gaffern vorbei getrieben wurde. Einige zischten oder spuckten vor ihm aus. Ihm wurde schlecht.
„Das ist ein Mann, der einfach einen anderen Mann liebt, wenn ihr doch alle an euren verdammten Gott glaubt, dann muss er ihn doch so gemacht haben, verdammt. Ihr seid alle bigotte Heuchler!“ brüllte er, aber nur in seinem Kopf.
Er schluckte die Wut, die als stachliger, bitterer Kloß in seinem Hals saß, herunter. Es gab eine Möglichkeit das Leben des Mannes zu retten, eine, aber die könnte ihn in Gefahr bringen, ihren Plan in Gefahr bringen. Es war sein Recht, bei der Hinrichtung um Gnade zu bitten, mit dem Verweis auf das Alte Buch, in dem das Mitleid eines einzigen Mannes als ausreichend bezeichnet wird, um eine schwere Strafe zu mildern. Den Verurteilten drohten dann noch immer schlimme Strafen, aber alles war besser als öffentlich enthauptet zu werden, oder? Es geschah aber fast nie, dass sich jemand so für einen Sünder einsetzte, denn damit machte man sich in den Augen der Kirche selbst verdächtig. Man wurde noch mehr beobachtet, observiert und wenn die Religionspolizei wollte, fand sie immer irgendeinen Vorwurf, irgendein Nachbar würde immer irgendetwas erzählen, nur um selbst nicht in den Fokus der Geheimpolizei zu geraten.
Denunziation war interessanterweise kein Abscheu Gottes, ein wirklich charmanter Gott, den sie da erwischt hatten. In Aerath, so hieß es, habe man tausend Götter, vielleicht könnte man sich ja einen leihen, einen kleinen, unbedeutenden, dessen Fehlen man gar nicht bemerken würde. Es müsste auch kein besonders mächtiger oder intelligenter Gott sein, vielleicht ein Walddämon oder ein Gott der Musik; selbst ein Gott kopulierender Ameisen oder für in Schubladen feststeckende Dinge wäre besser als dieser offensichtlich geisteskranke Himlar, der bei der Lotterie der Götter Luchtahinna gewonnen hatte. Und jetzt saßen sie fest in ihrem kalten, felsigen Land im Norden, mit einem wahnsinnigen Gott und einer noch wahnsinnigeren Kirche. Einer Institution, die das Leben unerträglich machte, alles vergiftete, wo auch immer sie auftauchte und das ganze Volk mit unsichtbaren Ketten aus Angst und Verzweiflung versklavt hatte. Nicht einmal Mütter wagten es in den meisten Fällen, um Gnade für ihre Söhne oder Töchter zu bitten, so tief saß die Angst.
Der Himlar im Alten Buch hatte wohl irgendwann aufgegeben, das Geschäft an seinen gleichnamigen Sohn abgetreten und war in die Westkönigreiche umgezogen. Anders ließ es sich ja kaum erklären, dass der Gott, den der erste Prophet Jökull im Alten Buch beschrieben hatte, ein freundlicher, ausgeglichener Kerl war, der sich für die Menschen ein glückliches und sorgenfreies Leben gewünscht hatte, der Gott der jüngeren Prophetenbücher war ein immer unausstehlicheres Miststück geworden war, der es scheinbar darauf anlegte, die Gläubigen in den Wahnsinn zu treiben und möglichst unglücklich zu machen.
Er konnte doch nicht zulassen, dass man einen Mann hinrichtete, der nichts anderes getan hatte, als einen anderen Menschen zu lieben. Er musste etwas sagen, auch wenn er damit ein Ziel der Geheimpolizei werden sollte. Mikel würde ihn umbringen. Ihr Plan. Mit der Polizei im Nacken konnten sie ihren Plan wohl vergessen. Sie würden warten müssen, bis sich die Wogen geglättet haben würden. Wie lange das wohl dauern würde? Einen Monat? Ein halbes Jahr? Ein Jahr? Was wenn es noch länger dauerte, wenn er von nun an immer eine verdächtige Person wäre.
Er war jetzt vierundzwanzig Jahre alt und noch immer unverheiratet, es gab keine Verlobte, keine Heiratspläne. Das machte ihn schon einmal grundsätzlich verdächtig. Dann traf er sich regelmäßig mit einem Arbeitskollegen zum Essen in seiner Wohnung, Mikel war den Nachbarn bestimmt das eine oder andere Mal aufgefallen. Mikel war dreiundzwanzig Jahre alt, ebenfalls nicht verheiratet. Das klang alles nicht gut. Wenn er sich jetzt auch noch für den Mann einsetzen würde, dessen Leben mehr oder weniger sowieso vorbei war, was wäre dann nicht alles für ihn verloren.
Der Zug war jetzt an ihnen vorbei und sie reihten sie, wie fast alle Bewohner der Stadt, hinter der Prozession ein. Alle wussten, die Hinrichtung fand immer direkt im Anschluss an die Schuldprozession statt – und jeder musste teilnehmen. Irgendwo in der Masse war also auch Mikel. Mikel, der leidenschaftlich gerecht war. Was wenn er etwas sagen würde. Er durfte gar nicht daran denken.
Er trottete noch immer in Gedanken der Masse an Menschen hinterher, dumm und willenlos wie all die anderen. Bärtig und geschoren, wie alle Männer. War er genau wie alle? Ging ihnen vielleicht gerade das Gleiche durch den Kopf? Wie viele der Menschen hier glaubten wirklich all die Sprüchlein, die man brav aufsagte? Er ahnte, dass die meisten nicht an Gott glaubten, sondern an die Angst. Ihr Gott war die Furcht, ein mächtiger Gott, der die Seele umklammert hält. Wenn er jetzt doch etwas sagen würde, wenn er doch den Mut haben würde… vielleicht wären dann mehr Menschen bereit, auch ihren Mund aufzumachen. Ja, ein schön pathetischer Plan. Der eine Mann, der die Revolution auslöst. Es war deutlich wahrscheinlicher, dass auch sein Kopf binnen Monaten in einem Korb enden würde, vielleicht auch Mikels. Das konnte er nicht riskieren. Ginge es nur um sein Leben, vielleicht – ehrlich gesagt, wohl eher nicht, aber Mikel konnte, durfte und wollte er nicht in Gefahr bringen.
Sie hatten fast den Hinrichtungsplatz, nahe am Friedhof, erreicht. Ziemliche Ironie, denn wer hingerichtet wurde, durfte hier gar nicht beerdigt werden. Plötzlich packte ihn eine Hand am Arm und zog ihn unsanft zur Seite. Er wollte gerade protestieren, als er unter der Kapuze Mikels Gesicht erkannte. Er presste einen Finger auf den Mund und Einar folgte ihm. Hier, an der Ausfallstraße zum Friedhof, gab es viele Bäume und Hecken, Felder und Kuhlen. Er zog Einar weiter, runter von der Straße und hinein in den Graben. Niemand schien Notiz zu nehmen. Gefühlte Stunden lagen sie, eng aneinandergepresst, in dem Graben und rührten sich nicht. Sie wagten kaum zu atmen. Gleich würde die Polizei auftauchen. Aber niemand kam. Der endlose Zug der Stadtbewohner trottete an ihnen vorbei zum Schlachtplatz, aber niemand bemerkte sie.
Dann endlich, machte Mikel ein Zeichen und sie schlichen geduckt in dem Graben neben der Straße in Richtung Stadt zurück. Irgendwann lugte Mikel über den aufgeworfenen Erdwall. Niemand war mehr zu sehen. Die Straße war wie leer gefegt. Schnell huschten sie über den gepflasterten Weg und tauchten dann in das Dickicht auf der anderen Seite ein. Mikel war bereits hier gewesen, denn er zog plötzlich eine große Tasche aus einem der Büsche. Einar wollte etwas sagen, aber Mikel deutete ihm wieder zu schweigen. Er kramte in der Tasche und entnahm ihr dann zwei Garnituren von Kleidung. Nicht die üblichen langen, sandfarbenen Leinenhemden, sondern farbenfrohe Hemden, Wamse, Hosen und Gürtel, dazu Stiefel aus weichem Wildleder.
Einar war völlig überrascht. Er wusste, dass Mikel über irgendwelche Kanäle Kontakt zu den Westkönigreichen hielt. Hin und wieder brachte er ein Stück Gebäck mit, eine Flasche Wein oder andere verbotene Güter, die er über diese Kontakte erhalten hatte.
„Anziehen!“ sagte er und war selbst schon dabei, sein Hemd über den Kopf zu ziehen.
Verdattert zog auch Einar sein Hemd aus, schlüpfte aus den Sandalen und den dicken Wollsocken, dann aus der Hose. Fröstelnd schlüpfte er in die ungewohnte und fremde Kleidung. Ganz weich. Zart. Flauschig. Du meine Güte, so konnte sich Kleidung anfühlen? Die weichen Lederstiefel waren bequem und warm zugleich. Mikel grinste ihn an und hielt plötzlich ein Messer in der Hand und kam auf ihn zu.
„Was… Mikel… bitte…!“
Er griff nach ihm und zack! War sein halber Bart ab. Er starrte auf das lange Haarbüschel in Mikels Hand. Er hatte den Bart wachsen lassen, seit er 14 Jahre alt war. Nicht, dass er ihn gemocht hätte, aber das war schon ziemlic krass!
„Jetzt zappel nicht rum, sonst ist nachher noch ein Ohr ab!“
Einar gehorchte und stand wie versteinert da, als Mikel seinen Bart erst kurz schnitt und dann mit einer Rasierklinge, die er ebenfalls mitgebracht hatte, rasierte. Er hatte sich noch nie rasiert und Mikel niemals jemand anderes. Er schnitt ihn zwei, drei Mal, aber am Ende war nur ein hufeisenförmiger Schnurrbart übrig von dem langen Vollbart.
„Jetzt die Haare!“ sagte er und Einar hockte sich vor Mikel hin, der ihm dann vorsichtig die Tonsur abrasierte.
Ein wenig später standen die beiden jetzt kahlen und schnurrbärtigen Männer im kühlen Abend und rieben ihre Köpfe.
„Das ist gerade die große Mode in Dikamik mit diesen Bärten“ hatte er nur kurz erklärt.
Die Verwandlung war ziemlich überzeugend, das musste Einar zugeben. Mikel legte die Kleidung zusammen und bedeckte sie mit Gras und Erde. Sehr provisorisch, aber das musste reichen. Sie mussten weg, schnell weg.
„Wohin?“
Da, deutete Mikel und sie gingen parallel zur Straße weiter in Richtung Stadt, bogen dann nach links, nach Westen ab. Im Westen lag das Meer. Wollte Mikel nach Dikamik schwimmen? Die Türme der Kathedrale kamen immer näher, schwarz und bedrohlich gegen den violetten Himmel und natürlich Glocken. Nicht nur die Türme des Bischofssitzes waren zu sehen, auch die der unzähligen anderen Kirchen. Und jetzt, man hörte schon das Rollen und Donnern der Wellen im Westen. Ein Klang, so ganz anders als der von Kirchenglocken. Freiheit, so musste Freiheit klingen.
Dann kam auch die Burg des Königs in den Blick die auf einem Felsvorsprung direkt am Wasser stand. Noch so ein düsteres Gemäuer. Plötzlich kam jemand auf sie zu. Einar stockte der Atem. Aber der Mann war kein Polizist, es war Björg, ein junger Mann von achtzehn Jahren, den Mikel unter seine Fittiche genommen hatte. Er absolvierte gerade eine Ausbildung im königlichen Archiv – und er war einer von ihnen.
Einar hatte nicht gewusst, dass Mikel auch ihn mitnehmen wollte, aber gut, warum eigentlich nicht? Björg hatte sich schon seines fusseligen Bartes entledigt und sah jetzt bart- und haarlos viel jünger aus, eher wie ein Sechzehnjähriger. Die Männer begrüßten sich kurz, aber herzlich. Mikel hielt sie zurück, griff in die kleine Ledertasche und entnahm ihr drei Schriftstücke.
„Reisepapiere aus Dikamik!“
Einar traute seinen Augen nicht. Da war die Freiheit in der Hand seines Geliebten, ganz real. Er erkannte das Wappen des Königreichs, alle notwendigen Stempel. Wie praktisch wenn man in der Staatsverwaltung arbeitete. Es waren volle Reisegenehmigungen, Ausreisepapiere und Beglaubigungen der Handelskammer von Dikamik, dass die drei Männer, Olafur, Sigur und Gunnram Bleigardson, im Auftrag des Handelskontors Gustavsson und Söhne Stoffe in Luchtahinna verkaufen sollten. Es gab sogar Quittungen.
„Also, wir gehen jetzt wieder auf den Weg. Ihr verhaltet euch ganz normal, das ist ganz wichtig. Nicht reden, man erkennt sonst sofort euren Dialekt. Lasst mich einfach machen.“
Die beiden Männer nickten. Einar, nein Olafur, war trotzdem nervös. Er nahm seine Dokumente an sich und presste sie wie einen Schatz an seine Brust. Dann gingen sie auf die Straße und passierten schon nach wenigen Augenblicken eines der großen Stadttore in der gewaltigen Ringmauer, die den Altstadtkern Luchtahinnas noch immer umgab. Die Wachen am Tor blickten kurz auf, aber Sigur nickte ihnen zu und die Männer beachteten sie nicht weiter. Mikels Herz klopfte bis zum Hals, seine Hände waren nass und seine Knie zitterten, als er in den Schatten des Tordurchgangs trat.
In der Altstadt war es jetzt auch schon dunkler, die engen Gassen, die steinernen Häuser, alles überragt von den Türmen der Gotteshäuser. Es war fast gespenstisch still in der Stadt, denn der größte Teil der Einwohner war noch immer außerhalb der Siedlung und wohnte der Hinrichtung bei. Olafur wäre beinahe stehen geblieben. Der Unbekannte. Er hätte sein Leben retten können. Aber vielleicht musste er sein Leben zuerst retten, und das von Mikel und jetzt auch das von Gunnram. Trotzdem versetzte es ihm einen Stich ins Herz. Der unbekannte Mann war wohl ein wenig älter gewesen als er, jetzt war er sicherlich schon tot. Vielleicht war tot sein gar nicht das Schlimmste was einem passieren konnte, wenn man als Alternative in Luchtahinna leben musste.
Es wurde kälter, ein scharfer Wind wehte vom Hafen durch die engen Gassen der Stadt. Da stapfte eine Patrouille der Polizei an ihnen vorbei, blickte kurz auf, Sigur nickte ihnen freundlich zu und nach einigen bösen Blicken war die Truppe vorbei. Sie näherten sich jetzt dem Hafenbezirk. Da wo in anderen Städten Bordelle und billige Gaststätten für die Unterhaltung der Seeleute sorgten gab es in Luchtahinnas Hafen nur Lagerräume und einige billige und schmutzige Unterkünfte. Alles umgeben von einem hohen Metallzaun mit bewachten Toren. Niemand durfte einfach dort hinein- und hinausspazieren. Die Einwohner der Hauptstadt durften diesen Bereich nicht passieren, denn der eigentliche Hafen galt als internationales Gebiet, das stand in den Handelsverträgen mit den Westkönigreichen. Wer hierhin gelangte, der war dem Arm Himlars entkommen.
Große Gasflammen vor Spiegeln beleuchteten das Tor, zu dessen Seiten Wachen mit Hunden standen.
„Jetzt nicht die Nerven verlieren!“ schärfte ihnen Sigur ein. Er blickte Olafur tief in die Augen und lächelte. Dass beruhigte ihn ein wenig. Sein Freund war so zuversichtlich und hatte nicht übertrieben, als er ihm gesagt hatte, dass er sich sehr gut auf die Flucht vorbereitet hatte.
Näher und näher kamen sie dem hellen Licht, dem Tor. Dahinter, hinter dem Zaun, vorbei an den Waffen, lagen einige große Segelschiffe, eines davon war auch im Dunkeln als eine große Handelsfregatte Dikamiks zu erkennen. Männer trugen Kisten an Bord, es gab Rufe und Gelächter. Das Schiff wurde also für die Abreise vorbereitet, ihre Chance, ihr neues Leben. Die Wachen wurden auf sie aufmerksam und einer der Hunde begann zu knurren. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Einfach weiter gehen und so tun, als ob das alles ganz normal ist. Sigur war als erster bei den Wachen.
„Papiere!“ schnauzten sie und Mikel reichte ihnen freundlich lächelnd seine Dokumente und bedeutete ihnen, das Gleiche zu tun. Erst jetzt bemerkte er, wie fahrig und nervös ihr junger Begleiter war. Er musste zugeben, dass er bisher kaum einen Gedanken an ihn verschwendet hatte. Er zappelte von einem Bein auf das andere. Er würde noch alles kaputt machen.
Die bulligen Männer überprüften Sigurs Papiere sehr gründlich. Sie ließen sich soviel Zeit, die Vielzahl von Stempeln, Siegeln und Unterschriften schien sie zu überzeugen, trotzdem blickten sie immer wieder zu den beiden Wartenden herüber. Der Junge wirkte immer nervöser, spielte mit seinem flauschigen Versuch, einen Oberlippenbart zu imitieren und wand sich wie unter Schmerzen. Er trat dichter neben ihn.
„Reiß dich zusammen, Mann. Wir fliegen wegen dir noch auf!“
Der Junge schluckte krampfhaft aber er versuchte tatsächlich, sich zusammenzureißen. Nach einer gefühlten Ewigkeit winkten die Wachen Mikel durch. Er durfte nicht warten, sondern musste gleich weiter gehen in den Transitbereich, der durch eine weitere, nur von außen zu öffnende Tür, abgetrennt war. Sie deuteten auf Olafur, der jetzt auch nervöser wurde und den beiden Wachen entgegentrat.
Sie nahmen das Schriftstück und überprüften es auf das Genaueste. Immer wieder blickten sie ihn dabei an, prüfend, fragend, misstrauisch.
„Was handelt ihr?“ fragte einer plötzlich.
„Stoffe!“.
Schweigen. Weiteres Studium. Dann, endlich durfte auch er durch. Er musste sich sehr beherrschen, nicht laut zu schreien. Bisher hatte alles gut geklappt. Mikel wartete auf der anderen Seite der Tür, die eine der Wachen gerade öffnete. Im Grunde hatten sie es bereits geschafft. Die Gerichtsbarkeit der Religionspolizei endete hier, im so genannten internationalen Teil des Hafens.
Sie wollten sich in die Arme fallen, am liebsten gleich hier, jetzt sofort. Und wäre da nicht noch ihr junger Begleiter, sie hätten es wohl auch getan, demonstrativ ein Kuss direkt vor den Augen der Wachen, die dann hilflos hätten zusehen müssen. Aber das wäre das Todesurteil für den Kleinen gewesen, also warten, sich noch wenige Minuten zusammenreißen. Der stand jetzt sichtlich nervös vor den beiden Riesen in Uniform. Sie untersuchten seine Papiere mindestens so gründlich wie die der beiden anderen.
„Name?“ fragte dann einer. Was sollte denn das jetzt?
„Guntram“ sagte der und Mikel sog scharf die Luft ein.
„Verdammt“ presste er zwischen den Zähnen hervor.
Einar sah ihn verständnislos an.
„Was? Was ist denn?“
Guntram, er hatte Guntram gesagt, aber auf den Papieren stand Gunram, nicht Guntram. Dabei hätte da Guntram stehen sollen, stehen müssen. Gunram war die übliche Namensform in Luchtahinna, Guntram die desselben Namens in Dikamik. Das hätte nicht passieren dürfen!“
Die Männer wirkten auch sofort misstrauisch.
„Wiederhole das!“
„Guntram?“
„Ist das eine verdammte Frage oder eine Antwort!“
„Eine Antwort?“
Das wurde immer schlimmer.
„Mikel, mach doch was, sag irgendwas. Du hast die verdammten Papiere besorgt. Hilf ihm schon!“ Aber sein Liebhaber stand nur wie angewurzelt da.
„Mach irgendwas!“
Aber, was sollte er schon machen. Er hätte gar nicht zurückgehen können, selbst wenn er gewollt hätte. Die Wachen wirkten jetzt nicht mehr im Geringsten amüsiert über die Situation und einer packte den Jungen am Arm. Als dabei der Ärmel des Gewandes hochgeschoben wurde, sag man ein schmales Lederband an einem Unterarm, das Þvengur.
Mikel konnte es nicht fassen. Das bekamen alle Jungen bei ihrer Tonsur zum vierzehnten Geburtstag geschenkt, aber kaum einer trug diese Armbänder wirklich, man sah sie ja unter den langen Gewändern sowieso nicht und mit zunehmendem Alter wurden sie eben eng und schnitten ins Fleisch. Das war bei dieser Kirche sicherlich genau einkalkuliert worden. Aber der Junge war so dürr, das Lederband saß noch genauso locker wie am Tag seiner ersten Tonsur. Das Problem: Nur in Luchtahinna war diese Sitte verbreitet, kein Ausländer hatte diese Art von Lederband. Der Fehler mit dem Namen, da wären sie vielleicht noch irgendwie herausgekommen, aber das war zu viel. Einer der Wachmänner blickte sie jetzt direkt an.
„Hey, ihr…“
Den Rest hörten sie schon nicht mehr, denn sie rannten, rannten einfach los, ließen den Jungen zurück, einfach rauf auf das Schiff. Niemand folgte ihnen, aber sie rannten und rannten, stürzten fast auf dem nassen und glitschigen Stein. Sie waren fast am Schiff, hinter ihnen, weit hinter ihnen erklang Hundegebell, es gab einige Aufregung, hier waren sie sicher, gerettet.
Der Kleine, der Kleine hatte es nicht geschafft. Es war seine Schuld! Das dumme Lederarmband. Aber hätten sie ihn kontrolliert, wenn Mikel nicht der Fehler mit dem Namen unterlaufen wäre? War es überhaupt Mikels Fehler, oder hatte er schon ein fehlerhaftes Dokument erhalten?
Sie erreichten die Planken des Schiffes, Mikel nickte einem Mann zu, der etwas Unverständliches rief und schon stürmten sie über die wackligen Bretter und Einar setzte seinen Fuß auf die Planken des Schiffes, lehnte sich an die Reling, dann brach er zusammen. Es überwältigte ihn einfach. Er war frei, Mikel war frei. Endlich, ein neues Leben, nein, ein LEBEN. Tränen rannen über seine Wangen und auch Mikel hatte ein Glitzern in den Augen und seine Schultern bebten.
Aber dann war da noch der kleine Björg. Fast glaubte er ihn schreien zu hören, sein anklagendes Rufen, obwohl das bei dem Lärm des jetzt ablegenden Schiffes kaum möglich war. Während die Anker gelichtet wurden und das Schiff knarzend aus dem Hafen von Luchtahinna auslief, da trat er am Bug des Schiffes neben Mikel, fasste seine Hand und schaute ihn an. Über ihnen blähten sich bereits die Segel in einem frischen Wind, der den Gestank der Verwesung, der über Luchtahinna hing, vertrieb.
Wie verändert er aussah ohne Bart und Tonsur.
„War das dein Fehler mit dem Namen?“
Mikel starrte nur auf das Meer. Er sagte nichts. Irgendwann trat ein Offizier der Mannschaft an die beiden heran.
„Ich sehe, es hat gut geklappt. Das freut mich. Wir mussten uns mit den Papieren ziemlich beeilen, die waren nicht ganz perfekt, tut mir leid. Aber dein Plan scheint ja aufgegangen zu sein! Na, dann jetzt willkommen in der Freiheit meine beiden Turteltäubchen. Ihr habt eine Kabine unter Deck, Abendessen in einer Stunde!“
Dann war er weg. Sollte er ihn fragen? Plan? Hatte er etwa durch die schlechten Papiere von Björg von sich ablenken wollen? Das war aber doch ein dummer Plan, was wenn ihnen der Fehler zuerst aufgefallen wäre, hätten sie dann nicht ihre Papiere noch sorgfältiger geprüft? Wäre ihnen dann nicht aufgefallen, dass auch mit ihren irgendetwas nicht stimmte? Würde Mikel, sein Mikel, tatsächlich das Leben eines jungen Mannes opfern, um sich zu retten?
Eine kleine Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm zu, dass er es im Grunde auch getan hatte. Er hatte nichts gesagt bei der Schandprozession. Aber das hatte er ja gar nicht gekonnt, nein, Mikel hatte ihn vorher abgepasst, er hatte also gar keine Chance gehabt, etwas zu sagen. Du hättest doch auch nichts gesagt, du wolltest deinen Hintern retten. Und Mikels. Alle anderen waren dir doch ehrlich gesagt verdammt egal, oder? Nein, nein, so konnte man das aber nun wirklich nicht sagen. Es war doch auch etwas anderes, jemanden so in eine Sache zu verwickeln, als nicht den Mund aufzumachen, oder? Warum hast du dann unten darauf gewartete, dass Mikel etwas sagt, hm? Du hättest doch auch was sagen können, irgendetwas, du warst doch in Sicherheit. Aber du hast gehofft jemand anderes würde den Mund aufmachen, Mikel, irgendjemand, Hauptsache du musstest es nicht selbst tun, du feige Sau du.
„Ihn erwartet nicht die Todesstrafe. Sie wissen nur, dass er Landesflucht begehen wollte, nicht warum. Wenn er den Mund hält kommt er mit einer Zwangseinweisung in ein Kloster davon, aber sie werden ihn nicht hinrichten.“ sagte Mikel plötzlich, umarmte ihn und zog ihn an der Hand in das Innere des Schiffes. Zeit sich frisch zu machen für das Abendessen, das erste Abendessen in Freiheit. Eigentlich hatte er aber keinen wirklichen Appetit.