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Der Eisvogel

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08.01.2002
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Der Eisvogel

„Na? Dein Rambo wieder von Feindfahrt zurück?“
Überrascht drehe ich mich um. Hinter mir Udo mit diesem lauernden Blick.
„Wie kommst du da drauf?“
„Hab ihn vorgestern hier gesehen.“
Diese gönnerhafte Tonlage.
„Hier, im Dorf?“
„Klar, wo denn sonst? Hat er sich bei dir noch nicht gemeldet? Hat offenbar 'ne andere.“
„Du täuschst dich. Sein Handy ist aus. Also ist er im Einsatz.“
Muss Oma Sievers ausgerechnet hier beim Bäcker in Zeitlupe ihre Münzen abzählen?
„Ist direkt hier vorbei mit seiner Audigurke. Frag mich immer, wie lange er mit der noch rumkarrt.“
„Das ist doch seine Sache, was er fährt.“
Dieses ewige „ich hab das größere Auto“-Getrommel hier im Dorf.
„Der kriegt doch als Elitesoldat reichlich Knete, was muss er denn da mit diesem Wrack rumgurken?“
„Dafür riskiert er auch laufend sein Leben, was man von dir Bademeister nicht behaupten kann.“
„Jetzt mal nicht so pampig die Dame - hat ihn keiner gezwungen, zum KSK zu gehen.“
Wie immer Udo im Angriffsmodus und ich lern‘ es nie, latsche regelmäßig auf seine Tretminen. Was war mit Armin?
„Mit den ganzen Gefahrenzulagen wär mindestens ein Porsche oder’n AMG drin.“
„Kannst du mal 'ne andere Platte auflegen?“
„Würd mich echt interessieren, ob die alle vom KSK so piefig sind.“
„Und wenn? Was wär da dran falsch?“
Neid kann beflügeln. Aber wenn er lähmt, kippt er um in Missgunst á la Udo.
„Das sag ich dir: Diese Eliteheinis kriegen doch alle das Maul nicht auf. Nie ein Wort über ihre Einsätze. Weil es keine gibt, sag ich dir. Und wenn, dann sind die alle in die Hose gegangen. So isses.“
Ist er tatsächlich seit vorgestern aus Afghanistan zurück?


Die Rollläden sind runter, aber sein Wagen steht da. Auf der Türschwelle ein Kochtopf. Bestimmt von seiner Mutter. Linsensuppe mit Würstchen. Klingel abgestellt. Wird er böse, wenn ich klopfe?
Sein jämmerlicher Anblick erscheckt mich. Armin, der Hüne mit dem kraftstrotzenden Oberkörper, der sonst wie eine Festung wirkt, steht vor mir mit hängenden Schultern.
„Ach, du.“
Er weicht ein Stück ins Haus zurück, aber nicht, um mich reinzulassen.
„Du hast den Topf noch nicht ..., ist Linsensuppe drin.“
„Mach ich nachher.“
Er blickt an mir vorbei, verloren.
„Soll ich sie dir schnell warmmachen? Oder Brötchen? Hab grad welche gekauft.“
„Lass mal. Würd gern allein sein.“
„Dachte nur, weil ...“
Verflixt, was sag ich denn jetzt?
„Schaltest du dein Handy ein? Es ist noch aus.“
Eisige Luftwirbel.
„Ich melde mich.“
„Brauchst du irgendwas?“
„Laura! Bitte!“
Eiswand.
Er ist noch gar nicht hier. Auf dem Nachhauseweg wird mir klar, was mich so entsetzt hat: Es war nicht die Kraftlosigkeit, die sich wie eine böse Krankheit über seinen Körper ausgebreitet hatte. Es waren seine Augen. Diese blitzgescheiten Fuchsaugen, die einen voller Aufmerksamkeit anblicken und durchdringen können, waren verschleiert.


Wenn einer ihn da rausholen kann, dann Ronny. Wie lange ich benötigt habe, um zu begreifen: Enge Kameraden, deren rüder Ton untereinander täuscht. Sie sind viel mehr als nur beste Freunde.
„Ronny? Sag, kommst du grad mit Armin aus einem Einsatz? Es geht ihm nicht gut.“
„Was macht er?“
„Verkriecht sich. Rollläden runter, Klingel, Handy aus, isst vermutlich nichts, sieht übernächtigt aus.“
„Das muss er mit sich ausmachen. Lass ihm einfach Zeit. Das wird schon.“
„Er wirkt, als sei er in sich selbst verschwunden. Man muss ihm doch helfen!“
„Nur, wenn er es zulässt. Uns wird nach jedem Einsatz psychologische Hilfe angeboten. Armin lehnt regelmäßig ab.“
„Was mach ich denn jetzt?“
„Ich versuch ihn zu einer Motorradtour zu überreden. Das macht den Kopf frei. Ich hol‘ für Samstag zwei Kameraden dazu.“
„Bitte tu das. Kann ich mit?“
„Na, klar, um zehn Uhr bei Armin.“


Ich bin aufgeregt. Es ist besser, wenn ich heute nicht die Erste bin. Als ich eintreffe, sind sie schon da. Armin steht mit dem Rücken zu mir an seinem Motorrad, vor ihm die drei. Sie fachsimpeln.
„Tach“, rufe ich vernehmbar.
„Moin“, sagt Ronny und die anderen beiden heben die Hand zum Gruß, nur Armin dreht sich nicht um.
„Karsten und Tom kennst du? Oder soll ich euch miteinander bekannt machen?“
„Nee, wir kennen uns“, sagt Karsten und ich nicke.
Sie sind beide in Armins Team und könnten gegensätzlicher nicht sein. Wegen seines graumelierten Kinnbartes und den tief eingegrabenen Stirnfalten wirkt Karsten gesetzt und älter, als er ist. Während Tom mit seinem sommersprossigen Lausbubengesicht und seinen witzigen Sprüchen für deutlich jünger gehalten wird. Diese Sorte Mann, die noch mit 30 an der Kinokasse den Ausweis vorlegen muss.
„Geht gleich los",sagt Ronny, "wir prüfen nur kurz unsere Headsets und müssen Karsten noch hinzukoppeln.“
Ich nicke, lasse Armin nicht aus den Augen. Der dreht sich um. Seine Miene ist düster. Er hebt nur kurz die Hand zum Gruß.
Meine Wangen glühen. Was mache ich hier?
"Hier", Ronny drückt mir einen Helm in die Hände, "dann kannst du mit Armin mitfahren."
„Mach du das bitte“, sagt Armin, „würd gern allein ...“
Meine Schläfen pochen, ich schäme mich und weiß nicht warum. Was sag ich?
„Ich will mich nicht aufdrängen oder so“, stottere ich. Himmel, wieso kann ich nicht souverän klingen?
„Ich geh wieder nach Hause.“
„Nix da, du kommst auf jeden Fall mit“, sagt Ronny, „du steigst bei mir auf.“
Mein Blick wandert zu Armin, der bereits auf seinem Motorrad sitzt. Ich erhasche eine Sekunde lang seine harten Gesichtszüge. Dann setzt er den Helm auf und das Visier fällt.
Bloß das nicht, ermahne ich mich und stemme mich gegen die Tränen.
„Das wird schon“, raunt Ronny, „hab Geduld. Soll ich dir erklären, wie das mit der Funkverbindung geht?“
Ich muss die unterdrückten Tränen wegräuspern, bevor ich antworten kann, „ich weiß wie‘ s geht.“
„Sicher? Schau, wenn du hier seitlich drauf drückst, dann sind wir mit allen verbunden. Und sollten wir zu weit auseinanderfahren, dass die Verbindung unterbricht, musste nix tun. Sobald wir wieder im Funkbereich sind, können uns alle automatisch hören.“
„Alles klar“, sage ich mit belegter Stimme.
Armin, Karsten und Tom haben ihre Maschinen gestartet.

„Halt dich gut fest, nicht dass du mir gleich vom Sitz kegelst. Wär‘ ja schade um meinen teuren Helm“, sagt Ronny verschmitzt.
Wir beide grinsen uns an. Wie befreiend das ist.
Die anderen sind bereits ein Stück entfernt, ich höre ihre Motorräder schwach.
Als ich hinter Ronny Platz nehme, der Helm mich abschirmt und beschützt, fühle ich mich erleichtert.
Kaum fahren wir, fängt Ronny zu reden an, vom guten Wetter, wo wir einkehren werden, und ich weiß nicht was. Es ist so offensichtlich, dass er mich ablenken will.
„Sach mal, du redest ja ohne Punkt und Komma“, beschwert sich Tom.
„Wieso?“, fragt Ronny, „hast du etwa was Wichtiges beizutragen?“
„Denke schon: Rennleitung gleich hinter der Kurve nach dem Ortsausgang.“
„Oh“, sagt Ronny nur und geht mit seiner Geschwindigkeit runter.
„Die drei haben wir ratzfatz eingeholt“, nimmt Ronny das Gespräch wieder auf, „Armin sehe ich bereits, der kommt ja eh nie aussem Knick mit seiner alten BMW.“
„Kannst froh sein, Laura“, hör ich Toms Stimme, „dass du nicht mit Armin fährst. Dann hätten wir nämlich eine Zweitagestour zum Gasthof einplanen müssen.“
Alle lachen, ich könnte schwören, dass Armin drunter ist.
„Was lästert ihr immer über meine zuverlässige Maschine?“
„Wenn ich an meiner so viel rumschrauben würde“, kontert Karsten, „wie du an deiner R80 ...“
„Meine Gummikuh ist unverwüstlich“, erwidert Armin gut aufgelegt.
„Ich seh dich laufend Teile erneuern“, kontert Karsten, „na, was ist denn alles nicht eingetragen?“
„Im Gegensatz zu dir fahr ich viel. Du hast ja noch nach Jahren sämtliche Gummifäden auf'm Profil.“
Alle lachen.
Dann fragt Tom: „Woran erkennt man einen guten Motorradfahrer?“
„An den abgeschliffenen Kniepolstern“, antworten alle im Chor.


Im Gasthaus platzieren sich Ronny, Karsten und Tom so an den Tisch, dass ich automatisch neben Armin sitze. Ob sie das extra so eingerichtet haben?

„War 'ne schöne Strecke, die du ausgesucht hast, Karsten“, sagt Armin gelöst, „am besten fand ich das letzte Stück durch den Wald. Habt ihr gesehen, dass der im Vergleich noch ziemlich intakt aussah?“
„Stimmt“, sagt Karsten, „die Baumkronen waren nicht so brutal kahl.“
„Hör ich richtig?“, lästert Tom dazwischen, „guckt ihr zufällig auch mal auf die Straße, wenn ihr unterwegs seid oder nur in die Baumkronen?“

„Erzählt mir was über Afghanistan. Wie ist es dort?“, frage ich in die Runde.
Die Männer blicken ernst und schweigen und ich könnte mich ohrfeigen, dass ich diese unüberlegte Frage gestellt habe. Doch Karsten sagt:
„Staubig und heiß, du hast deine Klamotten längst durchgeschwitzt, da hast du sie noch gar nicht richtig an.“
„Auf Patrouille schleifst du gewichtsmäßig mehr Wasser als Munition mit“, sagt Tom.
„In den ersten Tagen nach der Rückkehr aus dem Einsatz wirst du nervös, wenn hier die Straßen leer sind“, erklärt Karsten, „du scannst ununterbrochen die Umgebung, suchst nach Anzeichen für Sprengfallen, komischen Gegenständen am Straßenrand, Straßenbauarbeiten, Brücken, alles ist verdächtig. Das braucht 'ne Weile, bis man das ablegt.“
„Falls du dich wunderst, wenn Armin stur in der Straßenmitte fährt“, grinst Ronny, „oder flucht, dass sein Audi wie ein Go-Kart flitzt, dann kannst du davon ausgehen, dass er in Afghanistan was deutlich Größeres und Schwereres unterm Hintern hatte.“
„Genau“, pflichtet Tom bei und lacht verschmitzt, „am besten fährst du mit ihm zur Eingewöhnung nur Feldwege und gesperrte Straßen, die länger als 30 Jahre nicht saniert wurden, mit mindestens einem Schlagloch pro Meter. Wenn er vor keinem Stoppschild anhält und hupend an Rotampeln vorbeibrettert, weißt du, er fühlt sich im Einsatz.“
„Falls du mit Tom einkaufen gehst“, hält Armin dagegen und schmunzelt, „dann erklär ihm behutsam, dass der Preis auf der Zigarettenschachtel nicht der Stangenpreis ist, sowie dass er keine Süßigkeiten mehr braucht, um sie an die Kinder zu verteilen.“
Armin hat beiläufig meine Hand genommen und streift mit dem Daumen zärtlich über die Innenseite. Dann beugt er sich zu mir und küsst mich auf die Wange.
„Auf dem Rückweg würd' ich dir gern etwas zeigen.“
Ich nicke. In mir breitet sich wohlige Wärme aus. Das Eis ist geschmolzen.
„Ihr seid uns nicht böse, wenn wir ohne euch zurückfahren?“, fragt er seine Kameraden.


Als ich hinter Armin sitze, meine Arme fest um ihn gelegt habe, ist mir schwindelig vor Glück.
„Wir sind gleich da“, sagt er, biegt in einen Feldweg ein, den wir fahren, bis vor uns Grasland liegt.
„Wir müssen ein Stückchen zu Fuß, komm.“ Armin reicht mir seine Hand. Schweigend stapfen wir durch das Gras, dessen Untergrund mir zunehmend weicher vorkommt.
„Merkst du das?“, Armin ist stehengeblieben, geht leicht in die Knie, wippt und unter uns federt es auf und ab.
„Ist das Moorboden?“, frage ich erschrocken.
„Keine Angst, der trägt uns. Komm.“

Dann stehen wir vor einem See, der wie ein schwarzer Obsidian in der Sonne glänzt. Er ist teils umsäumt von Schilfinseln. An der Stelle, zu der mich Armin führt, wachsen bis zum Rand Gräser in unterschiedlicher Höhe. Der Untergrund fühlt sich bei jedem Schritt an, als ginge man über weiche Schaumstoffpolster.
Ich befürchte, nass zu werden. Aber meine Schuhe bleiben trocken.

Armin führt mich zu einem Platz, auf dem die erhabenen Grasstauden deutlich flacher und breiter gewachsen sind. Sie sehen aus wie grüne Kissen. Wir setzen uns, blicken schweigend auf den dunklen in der Sonne glitzernden See. Die Luft ist erfüllt vom Sirren emsiger Insekten, ab und zu knispert der Wind in den Grashalmen.

„Ich sitze oft hier, um nachzudenken.“
Armin schweigt, sein Blick schweift über den See. Als er meinen fragenden Blick bemerkt, sagt er:
„Was die Einsätze mit mir machen. Ob ich das Richtige tue. Wie alles weitergehen soll.“
Armin ist wieder verstummt.
„Unheimlich dieser Moorsee, allein hätt‘ ich hier Angst.“
Armin schaut mich erstaunt an.
„Musste nicht haben. Halt mal eine Hand da rein, wie weich dieses Wasser ist.“
Ich tauche meine Hand in das Nass und bin überrascht, wie fein und seicht es sich anfühlt.
„Manchmal flattert hier ein Eisvogel rum, um nach kleinen Fischen zu tauchen. Super scheu ist der. Anfänglich immer weg, wenn er mich sah. Jetzt haben wir uns aneinander gewöhnt. Faszinierend wie dieser kleine Kerl todesmutig mit dem Schnabel voran mit Vollspeed in den See taucht.“
Fürsorglich streift er eine Haarsträhne weg, die mir ins Gesicht geweht ist.
„Ich liebe diesen Ort, er ist zum Sterben schön.“
„Denkst du etwa ans ...?“
„Unsinn. Aber wenn ich die Wahl hätte, wär das hier der richtige Ort und nicht in der staubigen Hitze Afghanistans.“
Armin legt einen Arm um meine Hüfte und rückt näher an mich heran. Zarte Duftfäden seines sandelholzigen Aftershaves ziehen vorbei, ich möchte am liebsten in ihn hineinkriechen, mich in seinen Geruch einhüllen.
„Es tut mir leid, dass ich so abweisend war. Glaub mir, das hat nichts mit dir zu tun.“
„Ich weiß“, lüge ich und drehe mich zu Armin um. Unsere Augen begegnen sich. Er weicht meinen nicht aus, blickt mich klar und entschuldigend an.
„Ich kann mir vorstellen, dass es ...“
„Psst“, Armin hat meinen Kopf mit beiden Händen sanft zu sich herangezogen, „lass uns darüber nicht mehr reden“, flüstert er so dicht vor meinem Gesicht, dass ich erst seinen Atem spüre und dann seine Lippen zart auf meinem Mund. Ich atme schneller. Alles in mir strebt zu ihm hin. Nie war ich vernarrter, verliebter in den Geruch eines Mannes. Was folgt, ist ein hungriger Kuss. Armin zieht mich an sich. Seine Zunge verschmilzt mit meiner und aus der ungestümen Gier wird ein Spiel, ein lustvolles Necken, eine innige Euphorie. Wir lösen uns, ich schnappe ein paar Augenblicke nach Luft.
„Bist etwas aus der Übung“, schmunzelt Armin. Ich kenne seine Mimik, eine verwegene Mischung aus jungenhaftem Verliebtsein mit einem Quäntchen Siegerpose.
„Erwartest du von mir, dass ich regelmäßig trainiere?“, necke ich ihn.
Ich recke mich ein Stückchen zu ihm hoch, ziehe ihn am T-Shirt zu mir herunter und Armin beugt bereitwillig seinen Kopf, um mich erneut zu küssen. Als uns nur noch Zentimeter trennen, verharrt er, dreht den Kopf zur Seite, lauscht.
„Hörst du das auch?“, fragt er besorgt, „Hier fahren Panzer!“
Armins Blick schweift angestrengt suchend umher.
„Ich hör nichts.“
„Komm!“, er packt meinen Arm, zieht mich unsanft hoch, „schnell! Du bist hier nicht sicher.“

Ich laufe mit ihm, bin aber so verwirrt, dass ich bei jeder Unebenheit zu straucheln drohe. Armin fängt mich mit seinen kraftvollen Armen auf, zerrt mich unerbittlich mit sich. Ich spüre seine sich steigernde Unruhe. Seine Gesichtszüge sind schmerzverzerrt und in seinem Blick liegt etwas, das ich nie zuvor bei Armin gesehen habe: Angst.

Den Feldweg rast er so schnell mit seiner Maschine entlang, dass mir bange wird, obwohl er ein versierter Biker ist. Ich wage nicht, ihn anzusprechen. Hochkonzentriert bewegt er die BMW über die unebenen Wegstücke. Doch dann wird er langsamer und sagt:
„War wohl nur ein Trecker. Musst keine Angst mehr haben.“
Ich bin verdutzt und sprachlos.
„Ich fahr dich nach Hause.“
„Wir müssen Ronnys Helm zurückgeben“, sage ich.
„Bring ich ihm vorbei.“
„Kommst du danach zu mir? Ich mach uns Abendbrot.“
„Nein, lass mal. Möchte heute Abend allein sein.“
Wie rasch sich Glück verflüchtigt. Vor meiner Wohnung nimmt Armin den Helm nicht ab, sondern winkt mit seiner behandschuhten Hand kurz zum Abschied.
Die Stufen zur Wohnungstür stolpere ich mit tränenverschleierten Augen hoch.


„Ist Armin bei dir?“, fragt Ronny.
„Nein.“
„Hast du eine Idee, wo er sein könnte? Zu Haus ist er nicht.“
„Bei seiner Mutter?“
„Nee, schon gecheckt.“
„Was ist denn passiert?“
Ich höre ihn tief einatmen.
„Armin war vorhin bei uns, den Helm zurückbringen. Ich war draußen am Grillen. Carmen lädt ihn zum Abendbrot ein.“
„Zum Grillen?“
„Keine Ahnung, was in Carmen gefahren ist. Sie weiß doch, dass Armin ..., und erst ging es auch gut. Er hat mit dem Lütten Fußball gespielt. Plötzlich knallt es vom Feld her. Du weißt, diese Schussanlagen, die die Bauern gegen die Vögel einsetzen. Armin sofort bäuchlings auf den Boden, versucht nach seiner Waffe zu greifen, wird panisch, weil er natürlich keine hat, er ist ja nicht im Einsatz.“
„Oh Gott.“
„Dann ist er ganz durchgedreht: ‚mach das Feuer aus, sofort, mach endlich das Feuer aus‘, sie verbrennen‘. Raus aus dem Haus, mit übertourter Maschine davon.“
In meinem Kopf wirbeln die Gedanken herum.
"Ich will ihn auf jeden Fall finden", sagt Ronny.
„Wir waren an einem kleinen See, den er liebt.“

Ich stehe bereits draußen, als Ronny vorfährt. Er langt nach dem zweiten Helm und dann fährt er deutlich schneller als am Vormittag. Ich spüre, wie angespannt sein Körper ist.
„Diese Sache mit den Grillgerüchen“, sage ich, „was ist damals bei euch im Einsatz vorgefallen, dass er da so abdreht?“
Ronny antwortet nicht. Hat er meine Frage nicht gehört? Oder konzentriert er sich auf die Straße? Doch dann knackst es im Helm:
„Das willst du nicht wissen, was damals passiert ist. Und bitte frag nie Armin danach.“
„Was ich nicht verstehe: es sind doch nur Erinnerungen, nix Reales. Dagegen kann er sich doch wehren.“
„Nein, exakt das kann er nicht. Das Gehirn signalisiert dir minutenlang, dass es echt ist, was du da grad erlebst.“
Ich versuche, mir das vorzustellen. Vergeblich. Wie kann etwas vergangen sein und doch real wie im Jetzt wirken?
„Woher weißt du das?“
„Ein Kamerad, den es erwischt hat, hat es mir mal so erklärt.“
„Da vorn links, der Feldweg, da müssen wir rein.“

Ronny fährt langsamer, um den Schlaglöchern auszuweichen. Er hält an, als vor uns der Weg endet, weil nur noch Gras wächst.
„Das ist mir zu gefährlich zu zweit, wenn die Maschine wegrutscht.“
Wir steigen ab und Ronny untersucht den Weg vor uns, stutzt:
„Siehst die Spur? Der ist mit der Maschine weitergefahren.“

Und dann spurtet er los. Ich versuche, ihm zu folgen, aber Ronny ist durchtrainiert und mir um Längen voraus. Als ich am See eintreffe, höre ich ihn brüllen:
„Mann! Armin!“
Armin sitzt mit gesenktem Kopf direkt am Saum des Sees. Aus seinen Haaren laufen feine Rinnsale den Hals und Nacken entlang, die wassergetränkte Jeans klebt an seinen Beinen, alles tropft an ihm.
In meinen Ohren wummert mein Herz. Ich sinke neben ihm auf die Knie auf eine gepolsterte Grassode, spüre, wie das Wasser darunter schwappt. Armin sitzt unbeweglich, hat den Blick gesenkt. Bevor mich mein Mitgefühl flutet, greife ich rasch nach seiner Hand. Sie fühlt sich fremd an, unnatürlich kalt.
„Dachte, ich schaff es“, sagt Armin unvermittelt, „hätt‘ nur schneller sein müssen. Bin mit Vollspeed rein, damit mich die Maschine runterzieht.“
Seine Augen schweifen suchend über den See.

„Wisst ihr, was mich abgehalten hat? Darauf kommt ihr nicht. Der Eisvogel. Das Wasser war schon über mir, die BMW zog gut runter, da seh ich, wie er dicht über dem See fliegt. Flattert und schlägt mit seinen tiefblauen Flügeln aufgeregt auf der Stelle über mir. Im Wasser bricht sich das Blau wie bei einem Kaleidoskop in tausend blinkende Scherben. So was hab ich noch nie gesehen. Ich verlier ihn aus den Augen. Denke noch, schade, dieses faszinierende Blau. Plötzlich ist er wieder da, direkt vor mir. Als würde er nach mir sehen. Unfassbar. Das ist nur Zufall, der will nur Fische fangen. Er verschwindet, ist aber sofort wieder da. Vor meinem Gesicht. Da wusste ich: Der will, dass ich rauskomme.“
„Sieht ganz so aus“, sagt Ronny.
„Verrückt, nich?“, lächelt Armin matt, „ein Eisvogelkerlchen.“
Armin zittert. Es ist nicht die ihn frierende Nässe, es bricht aus seinem Innern heraus. Ich würd ihn gern umarmen.
„Bist zum Glück durchtrainiert“, sagt Ronny in einer anerkennenden Tonlage, als ginge es um die Beurteilung einer Sportübung. „Aus einem Moorloch kommt man nicht so schnell wieder raus.“
„Musste kämpfen. Meine Hose hatte sich obendrein verhakt.“
„Facit omnia voluntas!“, sagt Ronny und fängt meinen fragenden Blick auf.
„Der Wille entscheidet!“, erklärt er, „Wahlspruch des KSK.“
„Stimmt“, sagt Armin leise, „der Wille entscheidet.“


Wir schweigen. Das trockene harte Gras raschelt im Wind. Eine unendlich wirkende Ruhe breitet sich aus. Dieser Moment, wenn die Zeit stillsteht und es immer so bleiben könnte. Die untergehende Sonne wirft einen schwachen orangenen Streifen auf den schwarzen See. Plötzlich hören wir ein heiseres „Quarrack“ und unsere Köpfe schnellen in die Richtung, aus der es kommt.
„War das ein Frosch?“, frage ich, „ich seh aber keinen.“
„Ich auch nicht“, sagt Ronny und prustet los „das war bestimmt die Seekröte, die mal kurz anfragt, wann du deinen Schrott aus ihrem Wohnzimmer abholst, Armin. Du parkst da ja nicht gerade legal.“
„Wird nicht einfach“, sagt Armin, „auf jeden Fall, werd' ich mir ein neues Motorrad zulegen.“
„Na, Glückwunsch, kannste endlich auch mal vorne mitfahren“, grinst Ronny.
Armin blickt auf, ich sehe sein durch die Dämmerung weichgezeichnetes Lächeln und muss hörbar schniefen.
„Nana“, Ronny, geht in die Hocke und umarmt mich, „nicht weinen. Alles ist gut.“
„Kamerad! Das ist immer noch meine Dame“, sagt Armin.
„Da wär ich nicht drauf gekommen“, grinst Ronny und löst sich von mir.
Armin grinst ebenfalls, kräuselt seine Lippen zu einem kitschigen Kussmund, drückt mir einen schnalzenden Kuss auf die Wange.
„Wenn ich dich jetzt umarme, wirst du wie ich patschnass“, sagt er, „muss mich zu Hause erst mal abtrocknen.“
„Hör ich da ’zu Hause‘? Gutes Stichwort“, sagt Ronny, „bringst du Laura zurück, kommst dann wieder? Ich jogge dir entgegen. Training macht ja immer Sinn.“
Armin rappelt sich auf, zieht mich hoch. Die Grassoden unter uns wippen merklich, ohne Moorwasser durchzulassen.
„Schlüssel steckt“, sagt Ronny.


Auf der Fahrt sagt Armin: „Jetzt wirst du doch nass, so fest wie du mich umarmst. Schläfst du heute Nacht bei mir? Ich würd mich freuen.“
„Klar, mach ich“, sage ich schnell. Und dann verliere ich unumkehrbar den Kampf mit meinen Tränen. Aber das kann Armin zum Glück nicht sehen.

 

Oh Mann, lieber @zigga,

das erste Mal in meinem Leben, dass ich richtig froh über ein fettes Missverständnis bin.

Alles gut! :kuss:

Und ich nehme deinen Vorschlag einfach mal auf und schlage vor, dass ich dir in so rund zwei Monaten konkret nochmals auf deine Kritik und dein Feedback antworte, dann aber, um die Geschichte nicht unnötig wieder hochzubumpen per PM.

Ich glaube nämlich auch, dass ich grad überhaupt nicht genügend Abstand zu meiner Geschichte habe, sonst wär mir das mit dir so nicht passiert. Daher die Idee mit den zwei Monaten oder so.

Danke, dass du nochmals geschrieben hast.

Lieben Gruß
lakita

 

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