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Der Fall der Fälle

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16.03.2015
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Der Fall der Fälle

Ich stelle den Innenspiegel ein, betrachte dabei prüfend mein Gesicht. Dunkle Ringe unter den Augen zeugen von schlaflosen Nächten. Die Traurigkeit ist noch die gleiche. Ich spüre, wie kalter Schweiß den Nacken hinunterläuft, wie er das T-Shirt durchtränkt. Das Herz pocht stärker. Vage erinnere ich mich an Jaroslaws Worte.

... Maximales Risiko, maximale Bezahlung. Hass sei der beste Ansporn. „Eigentlich ’ne viel zu große Nummer für dich. Aber du bist wie ein Sohn, Ludomir. Und ich konnte mich immer auf dich verlassen ...“
Ich nickte. Was blieb mir auch anderes übrig? Diebstahl, Bruch und Überfall mache ich zwar lieber, aber es bleibt nie genug. Diese eine, schnelle Sache, ohne mit jemandem teilen zu müssen. Die Zeit läuft ab. Sonst hätte ich nicht so sehr darum gekämpft.
Dann verfinsterte sich Jaroslaws Blick, während seine fleischige Hand an seiner Kehle entlangfuhr. „Wenn es schief geht, mein Freund, dann ...“
Dieser Job noch, dann höre ich auf.
Der Arzt gab meinem Jungen noch drei Monate. Maximal - wenn er kein Spenderorgan bekommen würde. Ich informierte mich, sprach mit vielen Leuten. Man wies mich ab. Ich bettelte, flehte sie an. Sie ließen sich nicht erweichen. Dann ging ich die Sache anders an. Ich ergründete das System, begab mich in die Höhle des Löwen. Dem Ersten zahlte ich Zweitausend. Der Nächste verlangte noch mehr. Es kostete all mein Geld, bis ich überhaupt die richtige Person fand, die Einfluss auf die Warteliste hat. Ich schlug vor, das Geld in Raten abzustottern. Keine Chance. Ich musste mir was einfallen lassen.

Krumme Dinger auf eigene Rechnung sind auf Dauer keine Alternative.
Ich kann froh sein, nicht schon damals aufgeflogen zu sein, als ich bei der Sparkassen-Nummer einen Teil der Beute abgezweigt hatte. Geld, das ich für den angeblichen Wunderheiler brauchte. Das Geld, das ich mir anschließend mit Unterstützung durch Iwan zurückholte, um es in andere, konventionelle Behandlungen zu stecken. Ich habe noch heute das Bild vor Augen, wie der Arzt flehend und mit blutüberströmtem Gesicht auf dem Boden kauert. Iwan hätte ihn nicht so sehr rannehmen dürfen. Im Grunde tat mir der junge Arzt leid; er hatte Familie und machte auf irgendeiner Art auch nur seine Arbeit.
Derselbe Iwan musste später für viele Jahre in den Bau. Ich war es, der den Bullen den entscheidenden Tipp bei der Kindesentführung mit dem bösen Ausgang gegeben hatte. Der Brutalo hatte es verdient. Die Belohnung verlängerte Bogdans Leben um weitere, wertvolle Monate. Die Uhr tickt.
Jaroslaw hatte nie Verdacht geschöpft. Länger könnte ich mich aber nicht mehr auf mein Glück verlassen. Irgendwann würde ich dafür teuer bezahlen müssen. Jaroslaw ist immer wie ein Vater für mich, ich vertraue ihm. Aber wenn er nur von der kleinsten Sache Wind bekäme, wäre ich erledigt.
Dann witterte ich die rettende Chance, als mir Plötschke von dem Job erzählte, den er wegen eines Augenleidens nicht ausführen konnte.

Ich hielt Bogdans Hand und versprach ihm, dass er bald gesund werde. Dass wir Drachen steigen lassen, ins Stadion gehen, Bigos kochen würden. Was immer er mochte. Er zuckte noch nicht mal mit der Hand. Zuhause habe ich mich auf sein kaltes Bett gesetzt und geheult. Habe mir die Fotos von seinem ersten Tag im Kindergarten angeschaut - die letzten Aufnahmen einer glücklichen Familie. Wer hätte ahnen können, wie krank Bogdan tatsächlich ist, dass seine Mutter so plötzlich von uns ging? Dann habe ich seinen Lieblingspulli genommen und daran gerochen. Der Pulli, der ihm viel zu klein geworden war, an dem schon lange nicht mehr Bogdans Duft haftete.
Lange habe ich überlegt, ob ich das Richtige tue.
Auf einen Zettel habe ich Jaroslaw schließlich geschrieben, wem er das Geld geben sollte.
Nur für den Fall der Fälle ...

Meine Nägel krallen sich ins Lenkrad. Die Adern treten hervor. Jaroslaw hatte Unrecht. Ich muss mir nicht einreden, den Kerl zu hassen, damit es einfacher ist. Eigentlich ist mir egal, was er getan hat. Ich tue es nur für meinen Jungen, mein Gottesgeschenk.
Mit einer Hand wische ich mir eine Träne aus dem Auge, schaue nach links, dann nach rechts. In sieben Minuten kommt er. Der Mann, den ich nicht wirklich kenne. Edler Boss-Zwirn, Lackschuhe, Armani-Brille. Jung, sportlich, gesund. Gäbe sicher einen guten Organspender ab.

In Gedanken gehe ich wieder die Abläufe durch. Wie der Benz mit den getönten Scheiben anrauscht. Wie es klingt, wenn die Räder über den Gullideckel rollen. Wie sich das Abblendlicht im Tor der Tiefgarage widerspiegelt, bevor es geräuschlos hochgleitet. Wie kurz darauf das gedämpfte Licht in seinem Laden aufflackert.
Wie die geschmackvollen Sachen im Schaufenster angestrahlt werden. Dekomaterialien, Wohnaccessoires; Dinge, die jede Wohnung ausschmücken und in ein behagliches Heim verwandeln. Etwas, wofür ich keine Verwendung habe, an dem ich mich nicht erfreuen kann.
Dann mein Moment.
Die entscheidende Sekunde abwarten, wenn er fröhlich pfeifend von innen aufschließt, die Tür bis zum Anschlag aufmacht und sie offenstehen lässt.

Noch fünf Minuten. Von links müsste jetzt der Schulbus vorbeifahren. Vollbesetzt mit Kindern der Reichen aus dem Süden der Stadt. Deren Eltern müssen sich keine Sorgen machen. Mit ihrem Geld könnten sie sich alles leisten, jede Behandlung bezahlen, mühelos die Ärzte bestechen. Ich tippe mit den Fingern aufs Lenkrad, werfe einen Blick in den Innenspiegel. Sehe, wie mein Mundwinkel zuckt. Wo bleibt der Bus?
Es darf nichts schiefgehen. Keine Zeugen, kein Kollateralschaden. Wieder denke ich an Bogdan. Ob er jemals zur Schule gehen wird? Ich schüttle den Kopf und versuche, die inneren Bilder zu vertreiben, die Gedanken an das Krankenhaus, die Apparate und die Schläuche.
Es will mir nicht gelingen. Noch immer sehe ich den schlaffen Körper vor mir. Bogdans traurige Augen.

In drei Minuten kommt er. Der Mann, der mir nichts angetan hat. Ich öffne das Handschuhfach, lege meinen Rosenkranz hinein, greife nach den Lederhandschuhen und dem Strumpf. Ich will keine Fingerabdrücke hinterlassen und mein Gesicht nicht als Phantombild in der Zeitung wiedererkennen.
Ich bin gut vorbereitet. Das Nummernschild ist gestohlen, drei Blöcke weiter werde ich auf ein Motorrad umsteigen und zum Ufer am Stadtrand fahren. Werde die Waffe im Fluss versenken. Den Strumpf und die Handschuhe in den Müll werfen, der zwei Stunden später abgeholt wird. Den Rest lege ich zu Fuß zurück. Mische mich unter die Besucher des Zoos.
Da hat es Bogdan früher so gut gefallen. Das Ticket habe ich schon. Niemand wird da nach mir suchen. Ich will dabei sein, wenn Bogdan nach der OP wieder aufwacht. Ich will erleben, wie Bogdan mich anlächelt. Wie sehr ich mich danach sehne.
Tagelang habe ich diese Gegend beobachtet. Am Ende den passenden Zeitrahmen und den richtigen Moment gefunden. Habe berücksichtigt, wann die alleinstehende Frau von gegenüber ihren Dackelmischling ausführt, wann der bärtige Frührentner das Schlafzimmerfenster öffnet und heimlich eine erste Zigarette raucht. Kenne die Zeiten des Postboten und des Milchmannes. Jede Bewegung, jeden Luftzug, alle Einzelheiten habe ich aufgesaugt. Es ist der perfekte Plan.

Das Licht im Hausflur geht an. Jeden Augenblick wird die Frau mit dem Hund herauskommen. Durch den feinmaschigen Strumpf erkenne ich ein blondes Mädchen. Müsste es nicht in der Schule sein? Ist mir was entgangen? Mit weit geöffneten Augen schaue ich ihr hinterher, bis sie schließlich mit dem Hund um die Ecke schlendert. Lass dir Zeit, möchte ich ihr am liebsten noch hinterherrufen. Sie ist in Sicherheit. Erleichtert atme ich auf.

Der silberne SLK. Er ist pünktlich, auf den Mann ist Verlass. Ich lehne mich zurück, ziehe meinen Kopf ein. Schnell stecke ich noch den Kreuzanhänger meiner Kette unter das T-Shirt. Das Auto wird langsamer, schleicht über den hervorstehenden Rand des Gullideckels. „Klack, klack“. Das gewohnte Geräusch. Das Tor der Tiefgarage fährt hoch. Ein Quietschen. Egal. Nichts Besonderes. Jetzt nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Ich kurble das Seitenfenster herunter und brauche zwei Anläufe, um meinen Golf zu starten. Atme fest aus. Lege den ersten Gang ein und spiele mit Gas und Kupplung. Beinahe hätte ich vergessen, die Handbremse zu lösen. Meine Füße sind ungeduldig, rutschen fast vom Pedal. Während ich versuche, meine verkrampften Schultern zu lockern, rollt das Auto ein Stück den Hang herunter. Schnell trete ich auf die Bremse. Glück gehabt! Ich merke, wie der Schweiß in meine Augen läuft. Jetzt nichts falsch machen, alle Sinne kontrollieren! Beim Wegfahren auf den Wagen vor mir achten.
Erneut greife ich ins Handschuhfach und hole diesmal das kalte Eisen heraus. Plötschke hat mir die Sauer P6 genauestens erklärt. Er hat mir empfohlen, nicht alle acht Patronen auf einmal abzufeuern. Noch mindestens eine sollte ich aufbewahren für einen finalen Schuss. Falls notwendig, aus kurzer Entfernung die Sache endgültig beenden. Aussteigen, von Angesicht zu Angesicht abdrücken. Ich hoffe, soweit kommt es nicht.
Im Wald, direkt am stark frequentierten Autobahnkreuz, habe ich einige Magazine leergeschossen und dabei immer die Patronen mitgezählt. Ich fühle mich in der Lage, mit den letzten acht Kugeln das nahe und kaum bewegliche Ziel mehrmals zu treffen. Innerhalb kurzer Zeit den tödlichen Schuss abzugeben und zu verschwinden.
Der Schalldämpfer ist schnell aufgeschraubt. So kann man zwar kaum zielen, das ist aus dieser Nähe aber nicht wichtig. Viel wichtiger ist es, dass der Mündungsknall minimiert wird.
Die Pistole liegt gut in der Hand und sollte mir eigentlich Sicherheit schenken.
Innen geht das gedämpfte Licht an. Ein paar Augenblicke noch, und ich bin wieder weg. Genauso geräuschlos und unerkannt, wie ich gekommen bin. Habe es hinter mir. Bogdan wird gesund.
Ich lege meinen Arm auf die Autotür, stütze die Hand mit der Waffe darauf ab. Richte den Lauf auf die Tür. Gleich öffnet er zum letzten Mal seinen Laden. Der Mann, den ich nicht kenne, der mir nichts angetan hat, den ich gleich töten werde.
Meine Hand zittert, der Strumpf scheuert leicht an meinen Wimpern. Heißer Atem lähmt jeden rebellierenden Gedanken, jeden Zweifel. Ich muss im richtigen Moment abdrücken. Ein Leben für das andere.
Wie in Zeitlupe öffnet sich die Tür. Nur einen kleinen Spalt breit. Mein Finger bleibt gekrümmt, ich kneife die Augen zusammen. Die Tür bewegt sich nicht weiter. Lächelnd bleibt er im Rahmen stehen, tritt nicht heraus. Meine Hand wird noch feuchter, mein Atem stockt. Er dreht sich leicht zur Seite. Ich muss es jetzt tun. Solange er noch in meinem Schussfeld ist. Es gibt kein Zurück.
Ich zögere. Nun beugt er sich ganz langsam herunter.
Ich hasse ihn! Jetzt!
Dann sehe ich einen kleinen Jungen. Zu spät ...
Mein Finger hat bereits abgedrückt. Das Geschoss freigegeben.
Ein unterdrückter Knall, ein kräftiger Rückstoß. Dann ein kurzer, stummer Aufschrei. Ein dumpfes Geräusch, als der Körper zu Boden sackt. Blut strömt auf den Bürgersteig.
Die nächsten sechs Schuss gebe ich automatisch ab, unnachgiebig, gewissenlos. Ich nehme eine letzte Bewegung wahr, höre ein letztes Aufstöhnen, bevor der Körper in einer Blutlache liegen bleibt.
Absolute Stille.

Regungslos steht der Junge am Türrahmen. Stumm. Keine Reaktion. Ich kenne diesen apathischen Blick, die ähnlich traurigen Augen. Mir wird übel, ich bekomme kaum Luft. Hastig reiße ich den Strumpf vom Kopf und übergebe mich.
Was habe ich getan?
Ich würge den Wagen ab, er macht einen Satz nach vorne. Zuerst ein stumpfes Geräusch, als zwei Stoßstangen gegeneinander treffen. Dann halte ich mir die Ohren zu, als die Alarmanlage des vorderen Autos anspringt. Leidige Erinnerungen an das Tönen der Krankenhausapparate.
Ich müsste längst weg sein. Geräuschlos, unerkannt.
Aus dem Augenwinkel sehe ich noch den Frührentner aus dem Fenster gaffen, während ich nur stumm die Waffe betrachte. Das laute Dröhnen hat die Idylle in ein Tollhaus verwandelt. Ich sehe, wie Haustüren aufgerissen werden. Leute eilen heraus und schauen neugierig herüber. Ich höre Rufe. Zwei Autos halten an. Man zeigt in meine Richtung, ein Mann spricht in sein Handy. Zwei andere stehen neben dem bewegungslosen Körper und halten sich stumm die Hände vor die offenen Münder.
Eine Frau greift endlich nach dem kleinen Jungen, der noch immer mit stumpfem Blick einfach nur dasteht. Der Junge, der Hilfe braucht. Der Junge, der alleine ist.
Ich lasse den Kopf hängen und heule. Brülle aus Wut, wimmere vor Angst. Lache vor Glück. Mein Job ist getan, Bogdan gerettet.
Eine Patrone steckt noch im Magazin.
Für den Fall der Fälle.

 

Hallo @fuzzbian

schön, dass du meine Geschichte gelesen und einen Kommentar hinterlassen hast.
Freut mich natürlich auch, dass sie dir Spaß gemacht hat und du sie spannend findest.

Lustigerweise ist mein einziger Kritikpunkt, dass mir ein paar Adjektive fehlen. :lol: Keine Ahnung warum, aber irgendwie helfen die Viecher mir bei der Verbildlichung von Szenen.
Na, ja. So wenig sind das gar nicht. Habe in den ersten paar Sätzen schon 5 oder 6 gezählt ;)

Wünsche dir noch einen tollen Abend. Man liest sich.

Gruß, GoMusic

 

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