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Der Pechvogel
"Auch ein Unglück endet mit Glück",
meinte der Herbert immer,
"Schon allein deshalb,
weil man es so schreibt."
Er fühlt sich gar nicht gut. Das Blut in seinem Kopf pocht unaufhörlich von innen an seine Schläfen, die sich dabei rhythmisch zu blähen scheinen. Wie die Schallblasen eines Frosches oder wie die Plastikbeutel, in die er atmet, wenn er mal wieder hyperventiliert. Nur schneller. Sein Hals kommt ihm dick und aufgedunsen vor, als hätte er eine Halskrause verschluckt.meinte der Herbert immer,
"Schon allein deshalb,
weil man es so schreibt."
***
Es scheint ihm, als wäre das schrille Pfeifen in seinen Ohren während der letzten Stunden höher und lauter geworden. Aber sicher ist er sich nicht. Die tränenden Augen liefern nur flimmernde Bilder von der düsteren Umgebung. Sie fühlen sich an, als würden sie jeden Moment aus den Höhlen springen.
Fast muss er lachen bei der Vorstellung, wie er jetzt wohl aussehen mag: mit dem hochroten Kopf auf dem aufgeblähten Hals, dessen Adern pulsierend hervortreten, den rot unterlaufenen Glupschaugen, den pochenden Schläfen und der aufgedunsenen Gesichtshaut, die sonst eher schlaff und ein wenig faltig über seine knochigen Wangen hängt. Laut gelacht hat er vor ein paar Stunden einmal über sein Malheur, und da hatte er Atemnot und stechende Kopfschmerzen bekommen. Darum verkneift er es sich jetzt.
Seine Nase blutet nicht mehr. Die dunkelrote, fast eingetrocknete Lache am Boden sieht nicht sehr besorgniserregend aus. Da hatte er in seinem Leben schon größere Mengen Blut abgegeben, als dieses kleine Pfützchen auf dem grauen Bretterboden.
***
Der Hauser Herbert war immer schon ein Mensch, dem Dinge widerfahren, die andere ihr ganzes Leben nicht erleben müssen. Ein Pechvogel in Abenteuerlaune, möchte man sagen. Alle in dem kleinen niederbayerischen Dorf wussten, dass das Missgeschick Herbert hieß. Nur der Herbert sah das anders. Trotzdem sich immer wieder alle denkbaren und undenkbaren Widrigkeiten dieser Welt über den Herbert ergossen, war sein Leben keineswegs freudlos für ihn. Denn bei seinen zahlreichen Missgeschicken hatte er eh immer Glück im Unglück, und so viel Glück müssten andere erst einmal haben, meinte er immer.
"Schau, solang ich noch leb' und alles wieder verheilt, da hab ich doch eh Glück gehabt. Ich könnt' ja auch tot sein. Weißt, wie ich mein'?", war Herberts Antwort, wenn es mal wieder geheißen hat:
"Ja, um Gottes Willen, Herbert, wie kann ein einzelner Mensch nur so viel Pech haben? Ja, du liebe Zeit! Schau dich an, wie du wieder zugerichtet bist!"
Wie damals, als er im Alter von gerade einmal zehn Jahren in den alten, ausgetrockneten Brunnenschacht am Burgberg gestürzt war. Das war ein Unglück. Dass aber nach etwa drei Metern Fallhöhe so viel Wurzelwerk in den gemauerten Schacht eingedrungen war, dass er sich darin gerade noch verfangen hatte, das war dann Glück. Denn so blieben ihm weitere fünfzehn, vielleicht zwanzig Meter freien Falls zwischen modrigen Granitsteinwänden und ein unerfreulicher Aufschlag auf dem trockenen Brunnenboden erspart.
Vielleicht lag es ja daran, dass der Herbert ein recht naturbelassener Mensch war. Die Errungenschaften zeitgemäßer Logik waren ihm immer verschlossen geblieben. Vorausschauende Handlungsweisen gehörten daher nie zu seinen Stärken.
Mit siebzehn Jahren zum Beispiel, da hatte er auch Glück. Mit seinem fast neuen Moped wollte er gerade einen Bahnübergang überqueren und meinte, noch unter den sich bereits senkenden Schranken hindurchfahren zu können, weil der Zug wäre ja eh noch weit weg und die Schranken noch weit genug auf. So drehte er also seine "watercooled" — der Moped-Hit jener Tage — noch mal auf. Herbert hatte sich öfter geirrt.
Nachdem er seinen hageren Oberkörper fast bis auf den Tank hinuntergebeugt hatte, rammte er die Schranke mit seinem gesenkten Kopf. Mit der hohen Stirn, gewissermaßen. Der Helm zerbarst in zwei Teile, aber der Schädel blieb ganz. Und Herberts Glück wollte noch kein Ende nehmen: Die schwere Aluminiumbarre fegte ihn nach hinten vom Moped und er blieb noch vor den Geleisen, knapp unter dem metallenem Schlagbaum, benommen auf der Straße liegen. Sein Moped schlitterte währenddessen unter der ersten Schranke durch, schepperte über die Geleisspuren hinweg und rutschte unter der gegenüberliegenden wieder hinaus. So konnte der Zugführer des heranbrausenden Güterzuges ungestört seinen Fahrplan einhalten und Moped und Herbert blieben weitgehend intakt.
Anfang der Achtziger, da durfte der Herbert frühzeitig mit dem Wehrdienst aufhören. Von da an war er lange Zeit auf Arbeitssuche. Der Herbert galt in Augsee immer schon als liebenswerter, hilfsbereiter Mensch, dessen hohe Zuverlässigkeit sich in regelmäßigem Versagen ausdrückte. Daher hieß es überall immer wieder:
"Ja weißt, Herbert, wir täten dich schon nehmen. Aber weißt eh, Herbert, das können wir uns einfach nicht leisten. Einen anderen schon eher, ... aber dich eher weniger!"
Das lag damals vor allem daran, weil alle wussten, dass ihm beim Probearbeiten beim Bäcker Wolf versehentlich ein Kugelschreiber ins volle Mehlsilo hineingefallen war. Und wie er ihn wieder hat herausfischen wollen, da ist er selber auch gleich hinterhergefallen, durch den im Boden eingelassenen Silodeckel.
Sie glauben es jetzt vielleicht nicht, aber im Mehl kann man ertrinken! Der Herbert wusste das damals nicht. Aber gemerkt hat er's.
Fast wäre er ja alleine wieder hinausgekommen aus dem Silo. Und wenn der Wasserschlauch, den er beim bäuchlings Rauskriechen gerade so erwischt hatte, gehalten hätte, dann wär' auch gar nicht groß was passiert. Weil dann wär' er nicht ein zweites Mal hineingefallen, mit samt dem Schlauch und dem Hahn. Und auch das ganze Wasser wär' nicht reingelaufen ins Silo.
Man mag sich ja gar nicht vorstellen, was das für eine Sauerei war: wohl fünf Tonnen Mehl und gut und gerne vier Badewannen voll Wasser, die der Herbert eingemanscht hatte, bevor er kleben blieb. Eine halbe Stunde hatte es fast gedauert, bis man ihn fand. Der Herbert hatte ja Glück gehabt, dass er nicht ertrunken ist im Mehl - oder im Mehlkleister erstickt. Aber der Bäckermeister Wolf hatte gar keine rechte Freude an Herberts Glück.
Ein paar Jahre später erst hatte er dann Glück bei seiner Arbeitssuche. Er war mittlerweile siebenundzwanzig oder achtundzwanzig, als ihn der Unterhuber Konrad, Fuhrunternehmer aus Augsee, mit dem Gabelstapler überfuhr. An jenem frühen Abend war der Herbert gerade auf dem Nachhauseweg, als der Konrad spaßeshalber mit dem neuen Gabelstapler aus der Hofeinfahrt seines Lagerhauses preschte, just in dem Moment, als der Herbert gerade dort den Gehweg zum Gehen benutzte. Der Konrad, der konnte ja nichts dafür. Weil er war ja ziemlich betrunken, und da passiere so was schon mal, meinte der Herbert damals. Jedenfalls stellte ihn der Unterhuber Konrad zum Dank dafür, dass er den Herbert ungeschoren hatte überfahren dürfen, als Lagerarbeiter ein. Aber erst nachdem Herberts Schienbein wieder zusammengewachsen war.
***
Seine Füße sind seit gestern Abend schon taub. Er ist froh, dass er sie nicht mehr spürt. Anfangs war es sehr schmerzhaft. Sie fühlten sich an, als würden sie gleich platzen, waren zuerst beißend kalt, dann brennend heiß und schließlich wieder kalt wie Eis. Aber dann sind sie eingeschlafen, kribbelten von den Knöcheln abwärts noch eine Weile stechend vor sich hin, bis sie sich schließlich in seinem Gehirn abmeldeten. Obwohl er weder Schuhe noch Socken trägt, kann er in seiner seltsamen Körperhaltung nicht sehen, dass seine Füße von den Zehen bis zu den Knöcheln beinahe komplett schwarz sind. Oder von einem dunkelblauen Dunkelgrau durchfärbt, wenn man ganz genau hinsieht. Unter den beiden großen Fußnägeln hatte sich irgendwann Blut herausgequetscht. Das bildet an den beiden Zehenspitzen mittlerweile eine dunkle Kruste, fast wie die blasig schwarze Schwarte eines verkohlten Schweinebratens.
Oberhalb der Knöchel schmerzen die Fußgelenke immer noch brennend und die Wadenmuskeln fühlen sich an, als würde eine Nähmaschine unaufhörlich ihre Nadel hineinbohren. Er versucht noch einmal, sich zu strecken. Versucht vergeblich, mit seinen Händen Widerstand zu ertasten, um seine heiß stechenden Fußgelenke zu entlasten. Dabei fehlte nur noch ein kleines Stück, denn er schien schon etwas größer geworden zu sein.
Die Muskelkrämpfe in seinen Beinen haben nachgelassen, seit er ruhig bleibt und keine weitere Bewegung mehr macht. Nur seine Arme hebt er hin und wieder, um die Schmerzen in den Schultern zu lindern. Aber nur langsam, denn schon der geringste Ruck bereitet ihm stechende Schmerzen im rechten Knie. Und er meint, dieses brennend heiße Stechen auch schon im linken Knie gespürt zu haben.
Anfangs war der Durst in der Flut all seiner Schmerzen ertrunken, tauchte nur zeitweise dörrend auf. Aber jetzt bleibt er beständig quälend an seiner Seite.
Im Moment hat er Angst vorm Nachdenken.
***
Er war mittlerweile knapp fünfunddreißig Jahre alt geworden, da meinte der Herbert, er hätte jetzt das große Glück gefunden. Er wurde nämlich geheiratet. Von einer nicht unschönen Frau gar. Da wusste er aber noch nicht, dass es in Wahrheit Pech für ihn war. Denn die Astrid war nicht nur größer als er, sie wusste auch ganz genau, was gut für den Herbert wäre und was er nicht so gerne zu mögen hätte. Und da wurde sein Leben eine Zeit lang etwas missvergnüglich. Nach der Hochzeit versuchte der Herbert oft, ihr eine Freude zu machen. Weil immer, wenn die Astrid eine Freude am Herbert hatte, dann durfte er ins Wirtshaus gehen. Aber das war dann eh nicht so oft.
Einmal versuchte er, der Astrid mit einem kleinen Gemüsegarten eine Freude zu machen. Dann müsste sie nicht immer zum Dorfladen gehen oder zum Supermarkt fahren, um Gemüse einzukaufen. Sie fuhr ja nur ungern irgendwo hin. Und gehen mochte sie auch immer nicht so gerne. So legte er ihr also ein paar Gemüsebeete an und teilte sich bald schon die Früchte seiner Arbeit mit einem stetig wachsenden Rudel an Nacktschnecken.
Anfangs sammelte er die Schnecken regelmäßig auf und wilderte sie auf die benachbarte Wiese vom Bauern Hofmann aus. Dort fühlten sie sich allerdings nicht so wohl, wie in Herberts Gemüsegarten. Nur, wenn er die Schnecken über den Zaun geworfen hatte, gerade kurz bevor der Bauer Hofmann mit seinem Mähwerk kam, dann kamen weniger wieder zurück in Herberts Gemüsegarten.
"Die sind ja so ekelhaft, Herbert! Diese Schleimköpf', diese grausligen, brauchst mir gar nicht mehr ins Haus zu schleppen. Und im Garten will ich die schmierige Saubande auch nicht mehr haben! Grad, dass du's weißt, Herbert!", hat sich die Astrid gar nicht gefreut, als sie wieder einmal von den Stielaugen einer Babyschnecke gemustert wurde, während sie versuchte, die beklagenswerten Reste eines Kopfsalates im Spülbecken zu waschen.
Aber Sie wissen jetzt ja gar nicht, was da wirklich so saudumm gelaufen ist! Denn stellen Sie sich jetzt einmal vor, sie wüssten nichts von Schnecken im Garten, säßen in der warmen Spätnachmittagssonne auf einer Bierbank. Neben Ihnen ein Holzkohlengrill, in dem die Kohle schon leise knisternd vor sich hin glüht. Vor Ihnen ein mit Brotkorb, Bier- und Ketchupflaschen eingedeckter Tisch, und genau hinter Ihnen das offen stehende Küchenfenster, hinter dem die Astrid gerade den Salat wäscht und dem Herbert den Kopf. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie wären die Trautmannsdorfer Marianne, die mit ihrem Mann vom Herbert zum Grillabend eingeladen worden war.
Na?
Wenn Sie die Trautmannsdorfer Marianne kennen würden, dann wüssten Sie jetzt sofort, dass Sie der Marianne gar nichts mehr erklären hätten dürfen. Da hätten Sie gar nicht zu sagen brauchen:
„Oooh, Marianne, das hast jetzt völlig falsch verstanden. Die Astrid meinte damit ja nur ....", weil die Marianne, die sucht sich schon selber aus, was sie versteht und was nicht.
Sie packte jedenfalls ganz rabiat ihren Mann am Arm und stampfte voller Wut durchs Gartentor davon.
"Ja, man glaubt's ja nicht, was man sich da bieten lassen muss! Hast es g'hört, Manfred? Grauslige Schleimköpf' wären wir zwei! Ja, wie's ihr denn nur einfällt. Aber wart, du Sumpfhenne du aufgeblasene, das wird ein Nachspiel haben, das sag ich euch!"
Das war jetzt so ein Schlamassel für den Herbert, für den er wieder mal gar nichts Rechtes konnte. Aber das passierte ihm öfter.
"Erst laden's einen ein und dann so was! Aber ich hab ja immer schon gesagt, dass mit der was nicht stimmt", informierte die Trautmannsdorfer Marianne schon tags darauf den Herrn Pfarrer Wohlfahrt und noch ein paar Augseeer Bürgerinnen über den ungeheuerlichen Vorfall.
Erst Wochen später durfte der Herbert wieder was zur Marianne sagen. Von der Marianne aus. Von der Astrid aus hätte er nichts zur Marianne sagen dürfen, weil die Astrid meinte ja bedrohlich zum Herbert:
"Und mit der alten Schachtel red'st du mir nicht mehr! Dass du's nur weißt! Der brauchst du gar nichts erklären! Weil so viel Blödheit muss man auch blöd sterben lassen!"
In der Zeit, in der er keinen Gemüsegarten mehr hatte und auch keinen Besuch, da ging der Herbert nach der Arbeit im Lagerhaus oder am Wochenende öfter mal im Wald spazieren. Da haben dann bald die Zecken großen Gefallen am Herbert gefunden. Die Hirnhautentzündung hatte er zwar nach einigen Wochen überstanden, aber manch einer in Augsee ist heute noch der Meinung, dass ihm da was geblieben sei im Kopf, dem Herbert.
Ob es am verlangsamten Denken lag oder daran, dass die Astrid meinte, seine ganzen Missgeschicke wären nicht mehr hinnehmbar, das wusste der Herbert nicht. Und es war ihm auch egal, weshalb die Astrid sich von ihm scheiden ließ. Denn dadurch verlor Herberts Leben an Kompliziertheit. Aber ebenso an Besitztümern. Selbst Herberts Anwalt beugte sich schnell den Bedürfnissen Astrids, die das bislang gemeinsame Auto, das magere Sparbuch und die Einrichtung des gemieteten Hauses zu ihrem persönlichen Eigentum erklärte.
Trotzdem war der Herbert mit der Situation ganz zufrieden und bemitleidete im Stillen Astrids neues Objekt der Begierde. Denn noch ahnte der feine Herr Anwalt im dunkelgrauen Anzug nichts von ihrer engagierten Mission gegen die Gleichberechtigung der Männer.
***
Das Atmen fällt ihm schwer. Mühsam zieht er die Luft durch den Mund in seine Lunge und stößt sie keuchend wieder aus. Immer wieder kriecht ein kratzbürstiger Hustenreiz in seine Bronchien. Aber er möchte jetzt auf keinen Fall husten. Sein ganzer Körper würde vor Schmerzen zerrissen werden.Er versucht jetzt nicht mehr, das Sodbrennen wegzuschlucken. Sein Mund ist zu trocken, als dass er damit eine Spülung seiner Speiseröhre erreichen könnte. Seine Zunge scheint ihm bereits ausgedörrt zu sein und brennt, wie nach einem doppelten Stamperl Bärwurz. Nur eben unaufhörlich beißend und ohne einen ölig-aromatischen Geschmack auf ihr zu hinterlassen. Der Kopf schmerzt stechend und er ist sich nicht mehr sicher, ob er überhaupt ein Mensch ist. Vielleicht sei er ja nur ein Dörrschinken, spielt er mit seinen Gedanken. Ein dicker, salziger Dörrschinken.
Sein trockenes Gehirn schickt ihm immer wieder Trugbilder vor die flackernden, brennenden Augen. Unwahre Bilder, wie den Maßkrug mit dem herrlich frischem Bier. Bestens eingeschenkt steht die Maß in fast greifbarer Nähe vor ihm. In der goldgelben Flüssigkeit perlen lustige Bläschen prickelnd vom gläsernen Boden bis hinauf zur leuchtend weißen Schaumkrone. Der würzige Duft steigt ihm in die Nase, so wirklich, so nah, dass er meint, die kühle Feuchte, die der langsam zusammenfallende Schaum entlässt, auf seinem heißen Gesicht zu spüren. Und er streckt sich, um den Krug mit seinen Händen zu umfassen, ignoriert das Stechen in den Knien und die sich verkrampfenden Rückenmuskeln. Er kann ihn nicht erreichen und muss zusehen, wie der Krug sich auf vier winzige Füßchen erhebt, die das gläserne Behältnis kippen und das goldene Nass langsam auf den rauen Bretterboden entleeren.
Er versucht zu schreien, weiß nicht, dass die peinvollen Laute nur ein krächzendes Wimmern bilden.
***
Nach der Scheidung zog der Herbert in ein kleines, altes Häuschen am Rande seines Heimatdorfes. Und da der Besitzer dieses Häuschens, der Herr Bürgermeister Helmut Haberecht, Mitleid mit dem fast mittellosen Herbert hatte, überließ er es ihm für eine außergewöhnlich niedrige Miete. Er sollte dafür nur ein paar Reparaturen am Haus durchführen. Das war ihm ganz recht, dem Herbert, weil er war ohnehin der Meinung, dass er zum Handwerker berufen wäre. Sein Umzug dauerte nicht lange. Drei Schachteln, zwei Koffer und eine Umhängetasche, die er der Astrid stibitzt hatte, hatten leicht Platz auf dem Handwagen. Den hatte er sich vom Fritz ausgeliehen. Eine einzige Fuhre begleitete ihn in seine neue Freiheit am Ortsrand von Augsee.
Ein paar Möbel hatte ihm der Bürgermeister Haberecht auch da gelassen, dem Herbert. Besonders um das alte Bett war er froh. Da hat er sich nämlich gleich hineingelegt, nachdem er mit der Last eines seiner Umzugskartons außer Tritt gekommen war, auf der alten abgetretenen Holztreppe nach oben, und rücklings wieder hinunter gefallen war.
Aber er hatte ja Glück. Außer ein paar blauen Flecken und einer Abschürfung entlang seiner knochigen Wirbelsäule wusste der Doktor Maurer nichts zu beanstanden und verordnete Bettruhe:
"Jetzt legst dich einfach mal für ein paar Tage ins Bett und tust gar nichts, gell Herbert?"
"Da nehm' ich mir gleich ein Stückerl G'selchtes und ein Brot und ein paar Halbe mit hinauf, gell, Herr Doktor? Dann brauch' ich nicht mehr so oft runter, über die Treppe", meinte der Herbert zu scherzen, aber der Doktor Maurer hielt das für ein gute Idee und empfahl auch einen Nachttopf.
Bald nachdem ihn die Schmerzen seiner Prellungen verlassen hatten, machte er sich an die ersten Reparaturen am neuen Heim. Er wollte ja dem Herrn Bürgermeister gleich zeigen, dass er ein guter Mieter wäre. Ein neuer Fassadenanstrich sollte es zunächst werden. Weil da würde der Bürgermeister dann schon von Weitem sehen, dass er fleißig gewesen war. Im Baumarkt hatte er sich dazu ein dezentes Weiß ausgesucht. Doch kurz nachdem er mit dem Streichen angefangen hatte, schien ihm der bröckelnde Putz eine schlechte Grundlage für einen neuen Anstrich zu sein. Obschon das Haus wirklich nicht groß war — zwei Zimmer und eine Kammer im Erdgeschoss, zwei kleine Zimmer und ein winziges Bad im Obergeschoss — war er zwei Wochen damit beschäftigt, den alten durchfeuchteten Putz von der Wand zu meißeln.
Zuerst hatte er es alleine versucht, das Verputzen der Hauswand. Aber sein frisch angerührter Fertigputz wollte einfach nicht an der zerklüfteten Ziegelwand haften bleiben. Die breiige Masse klatschte immer wieder wie ein weißer Kuhfladen auf Herberts Gummistiefel. Und die Brei-Spritzer in seinem Gesicht hatten ihm schon nach wenigen Stunden einen juckenden Hautausschlag verursacht.
Tags darauf holte sich der Herbert daher die Hilfe vom Obermeier Alfred. Der war Maurer und konnte vieles, was der Herbert nicht konnte. Allzu viele bezahlte Arbeitsstunden konnte er sich nicht mehr leisten, denn seine finanziellen Mittel hatte er ja bereits zwischen Astrid und dem Baumarkt aufgeteilt. So verzichtete der Herbert auf weitere Helfer und schleppte, schüttete, rührte, karrte und schleppte wieder Tag für Tag. Und zwischen drin machte er dem Alfred eine Brotzeit.
Zweiundfünfzig Lebensjahre wohnten dem kleinen Körperlein bereits inne, das ohnehin nicht für den Bau gebaut war und das von Herberts ungeschicktem Lebensweg auch so mancher Belastbarkeit beraubt worden war. Und seine Reflexe waren von eher behäbiger Natur.
Als er gerade wieder einmal mit der vollen Schubkarre mühsam am Gerüst vorbei torkelte, schrie ihn der Alfred plötzlich von oben herab an: "Achtung!"
Und als der Herbert erschrocken hochschaute zum Alfred, sah er gerade noch den Mörteleimer auf sich zukommen. Dann wurde es dunkel.
Der Alfred war sofort hinuntergeklettert, um zu sehen, wie weit es denn fehlte. Da wachte der Herbert aber schon wieder auf und beruhigte den aufgeregten Alfred: "Nichts passiert, Alfred, das geht schon wieder. Da fehlt sich nichts!", während er mit den hohlen Händen unter seinem nach vorne gebeugten Kopf eine Schüssel formte, um das aus der Wunde herauspulsierende Blut darin aufzufangen - welches der Doktor Maurer aber eh nicht mehr hat brauchen können.
Überraschungen waren beim Herbert ja selten überraschend. Deshalb hat ihm der Doktor Maurer die Platzwunde an der Stirn genäht, ohne nachzufragen, wie das denn passiert wäre. Und dem Herbert war etwas schwindelig zumute. Aber er hatte Glück. Weil der Eimer war ja nur mehr halb voll.
Am nächsten Morgen beschlossen der Alfred und der Herbert, einen Tag Pause einzulegen, da es stark regnete und auch der Wetterbericht kein nahes Ende versprach. Dem Herbert war das ganz recht, denn seit Tagen schon schmerzte ihn sein Kreuz gar arg. Die Liegepause, die er sich nach dem gestrigen Besuch beim Doktor Maurer gegönnt hatte, schien seinem Rücken gut gefallen zu haben. Denn der weigerte sich nun, Herberts geschundenen Körper in eine aufrechte Position zu bringen, verlangte vielmehr neuerlich nach der angenehmen Liegestatt.
Bald hatten die Schmerzen am und im Kopf den Herbert wieder verlassen. Auch sein Rücken nahm sich tags darauf widerwillig seiner Aufgaben an, schickte nur hin und wieder missbilligend ein heißes Stechen ins Bein hinunter und hoch zu seinem Nacken.
***
War es für einen Moment oder länger? Er weiß es nicht, aber die neuerliche Ohnmacht tat ihm gut. Nicht, dass er dadurch wieder zu Kräften gekommen wäre. Aber er wurde unterbrochen darin, seine unerfreuliche Situation zu Ende zu denken — denn das machte ihm Angst. Und die Schmerzen und der brennende Durst waren auch weg. Für einen Moment oder für länger. Jetzt sind sie wieder da, seine Schmerzen in den Knien, im Kopf, in Magen, Hals und Mund. Am schlimmsten aber ist der quälende Durst. Es dauert eine Weile, bis er seine Augen wieder öffnen kann. Während seiner Bewusstlosigkeit verklebten seine Lider, scheinen jetzt mit krustigem Mörtel verbunden zu sein.
Das schrille Pfeifen in seinen Ohren war längst einer Taubheit gewichen. Fast so, als würden dicke Schmalzpfropfen seine Gehörgänge verschließen und auf seine Trommelfelle drücken. Immer wieder ist ihm schwindelig und sein Gehirn wird übersät von pulsierenden Schmerzen.
An die Übelkeit hatte er sich bereits gewöhnt. Sein krampfender Magen kann längst nichts Nennenswertes mehr zutage fördern.
Blut sickert ihm wieder aus der Nase. Als er es merkt und hektisch mit der Hand Richtung Nase fährt, stößt ihm der Ruck seiner Bewegung heiße Pfeile in die Kniegelenke. Er stöhnt auf. Langsam wischt er mit dem Finger über die Blutquelle und versucht so viel wie möglich vom aufgewischten Blut in seinen Mund zu bekommen. Der Durst führt ihm seine Hand. Er wischt abermals, ignoriert die stechenden Schmerzen in den Knien, versucht zu lutschen, zu schlucken. Aber es bleibt bei einem unmerklichen Benetzen der klumpigen Zunge.
***
Der Alfred war ebenso froh wie der Herbert, als das Werk endlich vollendet war. Dachte man sich die morschen Fensterrahmen und das arg verwitterte Dach einmal weg, war es fast zu einem kleinen Schmuckstück geworden, das kleine Häuschen im neuen weißen Kleidchen. Weitere bauliche Maßnahmen würden aber eine Weile warten müssen. Mangels Finanzen ebenso, wie mangels Kräften. Die intensiven Wochen des Meißelns und des Schleppens, des Rührens und des wieder Schleppens hinterließen beim Herbert fehlende Motivation und mangelnde Mobilität gleichermaßen. Herberts hageres Körperchen musste sich zunächst einmal selbst sanieren.
Mit kurzen Spaziergängen durch das Dorf atmete er die nächsten Tage langsam wieder neues Leben ein. Er kannte ja die Plätze in Augsee, wo Sitzbänke aufgestellt waren, und er richtete seine tägliche Route danach aus.
Es war wieder einmal ein guter Tag für den Herbert, um einen schlechten Tag zu haben, als die Hinterholzer Elfriede mit ihrem Schäferhund an der Leine an der Bank beim Feuerwehrhaus vorbei kam, gerade als der Herbert auf dieser Bank ein Päuschen machte und sich die spätsommerliche Sonne ins Gesicht scheinen ließ. Herbert mochte Hunde schon immer gerne. Er mochte alle Tiere gerne. Außer Nacktschnecken und Zecken. Doch der Astor mochte nicht von fremden Leuten getätschelt werden. Schon gar nicht am Kopf. Und noch bevor Herberts herannahende Hand den Kopf vom Astor erreicht hatte, machte das Lächeln auf Herberts Mund einem lauten Aufschrei Platz. Zuerst wollte der Astor die Hand vom Herbert gar nicht mehr loslassen. Aber er war ein wohlerzogener Hund und hörte auf sein Frauchen, als diese ihn zum dritten Mal scharf ermahnte:
"Astor! Aus! Aus hab ich gesagt! Hörst du!"
Die Elfriede hatte sich dann noch beim Herbert entschuldigt und meinte:
"So schlimm schaut's gar nicht aus, gell Herbert? Das wird schon wieder!" und machte sich auf den Weg zum Dorfladen, um Brot einzukaufen. Der Astor leckte sich währenddessen Herberts Blut von den Lefzen.
Der Doktor Maurer hat die Wunde ausgewaschen und verbunden und hat ihm noch eine Tetanus-Spritze gegeben. Kopfschüttelnd meinte er: „Da könnte jetzt der Finger ab sein. Da hast ja wieder mehr Glück als Verstand gehabt, Herbert!"
„Ja, das kenn' ich. Das passiert mir öfter", sagte der Herbert nur und ist dann nach Hause gegangen.
„Lieber ein Hundebiss an der Hand, als ein Zeckenbiss in der Leiste!", scherzte er mit sich, als er zu Hause am Küchentisch saß und kurz über den Vorfall resümierte, „Weil davon kriegt man wenigstens keine Hirnhautentzündung."
Die Schmerztablette, die er vom Doktor Maurer bekommen hatte, tat ihre Wirkung. Die Bissschmerzen an der Hand ließen nach. Jetzt tat ihm nichts mehr weh. Außer seinem Rücken. Der spannte, stach und zog immer noch. Er beschloss, den Doktor Maurer darauf anzusprechen, wenn er in ein, zwei Tagen wieder zu ihm gehen wird, um nach der Bisswunde sehen zu lassen.
Am nächsten Tag kletterte der Herbert die Ausziehleiter zum Dachboden hinauf. Er wollte mal schauen, ob's da demnächst vielleicht was zu reparieren gäbe, am Dach. Und überhaupt war der Dachboden der einzige Raum, den er noch nicht gesehen hatte, seit er hier eingezogen war.
Das winzige trübe Dachfenster ließ genügend Licht in den kleinen, aber sehr hohen Raum. Der Dachboden war etwas staubig aber ansonsten sauber aufgeräumt. Nur eine hölzerne Kiste stand da, und neben ihr lag eine alte, verbeulte und mit bunten Farbspritzern übersäte Klappleiter. In der Kiste fand er ein paar dicke Kabelbündel, die mit breiten Lederriemen verschnürt waren. Vielleicht würde er sich ja mal dranmachen, ein paar neue Kabel zu verlegen, ging's dem Herbert durch den Kopf.
Nachdem er wieder hinuntergestiegen war vom Dachboden, ließ er sich im Wohnzimmer auf dem alten Sofa nieder, das ihm der Fritz überlassen hatte, und stellte den Fernseher an. Während er gerade versuchte, mit Nagelschere und Taschenmesser den Holzsplitter, den er sich am Dachboden unter die Haut gezogen hatte, aus seiner Hand zu operieren, erzählte im Fernseher ein Mann im beigen Kleid etwas vom "schlimmen Rücken". Umkehrpositionen seien gut für verspannte Rücken, ein Yogatuch gäbe es gar, mit dem man sich kopfüber aufhängen könne, um den Rücken zu entspannen. Das fand der Herbert jetzt schon spannend. Er überlegte eine Weile und es schien ihm schlüssig zu sein, dass ein vom Mörtelwannentragen und vom Schubkarrenkarren zusammengeschobenes Kreuz wieder auseinandergezogen werden könnte, wenn man sich nur mal kurz an den Füßen irgendwo hinhängt. So mit dem Kopf nach unten. Und da kam es mal wieder zu einer abwegigen Fehlleistung seines Gehirns.
***
Seine schwarzen Füße hängen wie verkohlte Schweineklauen am oberen Querbalken des Dachstuhles fest. Die klumpigen Zehen berühren den Balken leicht an seiner Unterseite. Bewegungslos hängt sein kleiner Körper in den festen Ledergurten, die seine Fußgelenke ebenso umschlingen wie den Balken. Da hängt er nun seit fast vier Tagen. Mit dem Kopf nach unten.Das Atmen fällt ihm immer schwerer. Er röchelt nur noch kurzatmig vor sich hin. Seine unteren Eingeweide — die ja jetzt oben sind — drücken immer stärker auf seine Lunge.
Das mit der wackeligen Stehleiter hatte er nicht ausreichend durchdacht. Aber im Moment gelingt es ihm nicht, zu Ende zu denken, wie er es hätte besser machen können. So, dass die Leiter nicht unerreichbar umgekippt wäre, bei seinem ungelenken Absturz nach unten.
Vielleicht hätte er sich besser festhalten können, wenn die Bisswunde an der Hand bereits verheilt gewesen wäre. Vielleicht hätte er sich auch nicht die Mitte des kleinen hohen Raumes aussuchen sollen. Wäre es nicht besser gewesen, seine Aufhängestelle in greifbarer Nähe eines Pfostens zu wählen?
Sein Oberkörper ist nackt. Sein Hemd hätte sich ja nur über sein Gesicht geschlagen, hatte er bei seinen Vorbereitungen vorausschauend vermutet. Auch seine Hose hatte er ausgezogen, sie hätte ihn beim Anlegen seiner ledernen Aufhängevorrichtung gestört. Die verbliebene Unterhose war fleckig geworden, während der Tage und Nächte des Hängens. Er friert, aber er zittert nicht mehr.
Stundenlang hatte er versucht, die umgefallene Leiter irgendwie zu erreichen. Wollte trotz schneidender Schmerzen immer wieder durch Schaukeln und Ruckeln die Lederriemen zerreißen. Dabei schnürten sie sich noch fester um seine Gelenke.
Lange hatte er laut um Hilfe gerufen. Hatte gehofft, wenigstens Manfred, den Postboten, auf sich aufmerksam machen zu können. Aber der Herbert bekam öfter tagelang keine Post.
Seine aufgequollene, verdorrte Zunge klebt jetzt am Gaumen fest. Die Lippen sind aufgeplatzt, das daraus hervorgetretene Blut ist längst trocken verkrustet. Auch seine Nase blutet nicht mehr und seine Augen brennen beißend vor sich hin, zeigen ihm ohnehin längst nur mehr schemenhafte, flimmernde Düsternis.
Mit aller Kraft versuchte er anfangs lange, mit den Händen seine Fußfesseln zu erreichen. Nach mehreren Bauchmuskelkrämpfen konnte er sich bis zu den Waden vorarbeiten. Heute weiß er, dass er, selbst wenn er die Gürtel erreicht hätte, diese nicht mehr mit bloßen Händen hätte öffnen können.
Fröhlich lacht die Herbstsonne das kleine weiße Häuschen an, auf dessen Dachboden der Herbert mit den Füßen am Gebälk verschnürt ist. Und der Herbert hört den Manfred nicht, der klappernd einen Brief in den kleinen blechernen Briefkasten wirft.
Sein geschundener Körper zuckt nur kurz, als es dunkel wird um den Herbert herum.
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