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Die Jagd

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08.07.2012
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Die Jagd

Åke hatte das Gewehr entsichert, und nun schlug er an. Während er zielte, wagte ich nicht, das Fernglas zu heben, ja nicht einmal zu atmen. Mein Blick heftete sich auf den Hirsch, der etwa achtzig Meter entfernt auf einem sanft ansteigenden Hang zwischen kleinwüchsigen Hemlocktannen äste. Als der Schuss krachte, sah ich, wie ein Ruck das Tier durchzuckte. In einer blitzartigen Bewegung krümmte der Hirsch den Rücken, schlug mit den Hinterläufen aus und sprang davon.
"Getroffen!" Åke warf Jon über den Schaft des Gewehrs hinweg einen triumphierenden Blick zu, doch unser Jagdführer musterte ihn mit ernstem Gesicht. Obwohl ich ein ebensolcher Jagdanfänger wie mein Freund war, wusste ich, dass Åke einen Fehler begangen hatte.
"Nicht gut", sagte Jon.
Wir kannten den jungen Indianer, der zum Volk der Tutchonen gehörte, erst seit ein paar Tagen. Trotzdem glaubte ich zu spüren, was in Jon vorging - Åke schien einer dieser typischen Jagdtouristen zu sein, denen bei ihrem ersten Schuss die Nerven durchgingen, weil es ihnen an Praxis und Erfahrung mangelte.
Während des einwöchigen Kurses, den wir gerade absolviert hatten, um die Lizenz für das Jagen in British Columbia zu erwerben, war der Ausbilder mehrere Male auf den Clean Kill zu sprechen gekommen. Eine Grundregel beim Antragen eines sauberen Schusses bestand darin, seitlich an das Wild heranzugehen oder darauf zu warten, dass es sich von selbst breit stellte. Nur so konnte ein sicherer Schuss auf die Kammer, die Brusthöhle, abgegeben werden, der das Herz und beide Lungenflügel durchschlug.
"Keine Ahnung, wie die Jäger in Schweden schießen", sagte Jon, "aber hier feuern wir niemals spitz von hinten auf ein Tier."
Åke sicherte das Gewehr. Sein Blick sagte mir, dass er die Einschätzung unseres Guides nicht teilte.
"Klar, war ein Risiko. Aber ich hatte ihn sauber im Visier."
"Hast du den Kugelschlag gehört?", fuhr Jon unbeirrt fort.
Åke schulterte das Gewehr und rieb sich den Nacken. "Nein, ich …"
"War ein dumpfes Geräusch", sagte Jon. "Glaube, die Kugel hat die Eingeweide getroffen."
Ich wusste, was das bedeutete. Es stellte das Äquivalent zum berüchtigten Bauchschuss dar, von dem Kriegsveteranen so oft sprachen. Bei einem Treffer im Bereich der Eingeweide gelangte Darminhalt in die Bauchhöhle, was Infektionen und einen langsamen, qualvollen Tod nach sich zog.
"Wenn wir dieses Tier nicht finden", sagte Jon, "wird es sehr leiden."
Åke schien nicht gewillt, klein beizugeben. "Aber er stand ja ganz ruhig. War sicher ein tödlicher Schuss." Er machte eine Geste hinüber zum Hügel. "Bestimmt liegt er dort schon irgendwo zwischen den Tannen."
Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte, ein Foto von unserer ersten Pirsch zu schießen. Nachdem Jon den Weißwedelhirsch entdeckt hatte, war alles so schnell gegangen. Natürlich konnte ich noch immer eine Aufnahme von Åke und dem erlegten Tier machen, sobald wir es endgültig zur Strecke gebracht hätten, aber eigentlich plante ich, eine ganze Serie von packenden Jagdfotos anzufertigen.
Ohne auf Åkes Einwand zu reagieren, sagte Jon: "Noch etwas. Du darfst niemals auf ein Tier feuern, das den Kopf gesenkt hält. Hast du doch im Kurs gelernt oder nicht."
Ich staunte über Jon. Er war anders, als ich mir einen Indianer vorstellte. Gemäß meiner romantischen Projektionen erwartete ich einen wortkargen Einzelgänger, einen verschlossenen Waldläufer und Schamanen, jemanden in dessen Äußerungen man nach der tieferen Bedeutung suchen musste. Doch Jon sprach ganz klar aus, was gesagt werden musste.
"Wenn der Hirsch beim Treffer den Kopf hochreißt, schiebt sich die Haut über die Schussöffnung und verschließt sie. Bei einem Kammerschuss verzögert sich dann das Kollabieren der Lungen, und es verringert den Blutaustritt. Das angeschossene Tier lebt länger, flüchtet, und die Nachsuche wird schwierig."
Obwohl Åke gleichgültig tat, sah ich, wie hart ihn Jons Zurechtweisung traf.
Wir kannten uns seit der Kindheit, waren in Stockholm zusammen auf die Schule gegangen und hatten, jeder auf seine Weise, mit den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens gekämpft. Während ich mich damit herumschlug, den Erwartungen meiner Mutter gerecht zu werden, die meine Schulleistungen und auch meine außercurricularen Aktivitäten streng überwachte, setzte Åke alles daran, den Draufgänger zu spielen.
Er war der erste Achtklässler unserer Schule, der einem Jungen aus der Zehnten die Nase blutig schlug. Egal, ob es ums Masturbieren, Rauchen oder Mädchenküssen ging, Åke hatte es schon gemacht, bevor ich oder ein anderer Junge unserer Klasse auf die Idee kam. Und so, wie ich die Liebe und Anerkennung meiner Mutter durch Fügsamkeit und Anpassung zu gewinnen suchte, so warf sich Åke in die rebellische Pose, um von der ganzen Schule bewundert zu werden.
Doch wir waren keine Jungen mehr. Jons Autorität hatte Åke nicht viel entgegenzusetzen. "Gehen wir ihn suchen?", fragte er schließlich kleinlaut.
"Ja, aber noch nicht jetzt", erwiderte Jon. "Wir werden ein paar Stunden warten."
Die Nachsuche verlief in gedrückter Stimmung. Obwohl wir auf dem Hügel sofort den Anschuss fanden – einen Spritzer schwarzen Blutes, der tatsächlich auf einen Eingeweidetreffer schließen ließ – ging es danach nur langsam voran. Jon zeigte uns die Fährte des Hirsches. Die dunklen Abdrücke der aufgespreizten Klauen erzählten von einer panikartigen Flucht mit wilden Sprüngen, und der Gedanke an die Qualen des Tieres machte mich traurig.

Obwohl ich nicht auf dem Land, sondern in Stockholm aufgewachsen war, kannte ich viele Jäger. Einige von ihnen waren Freunde meiner Eltern, andere gehörten zu unserer Verwandtschaft. Ich hatte Notwendigkeit und Nutzen der Jagd niemals in Frage gestellt, und deshalb nahm ich nach kurzem Zögern auch Åkes Einladung an, der mich an einem Sommerabend aus London anrief und mit dieser abenteuerlichen Idee verblüffte.
"Ich schufte jetzt seit zwei Jahren ohne Unterbrechung", sagte er. "Wird Zeit, mal aus dem CBD rauszukommen. Lass uns im September für drei Wochen nach Kanada fahren."
Für mich stellte das Leben in Londons Central Business District eine ferne und fremde Welt dar. Ich wusste zwar, wie hart Åke dafür gearbeitet hatte, in der Finanzmetropole als Broker Fuß zu fassen, aber ich verstand nicht, was mein Freund in seinem Job tat. Unsere Wege hatten sich an dem Tag getrennt, als Jenny meine Frau wurde. Obwohl sie niemals schlecht von Åke sprach, bestand für mich kein Zweifel darin, dass sie ihn verachtete. In ihren Augen war er ein egoistisches, monomanisches Monster, das sich einen Teufel um andere Menschen scherte und nicht zögerte, ein paar Tausend Anleger über die Klinge springen zu lassen, wenn ihm das am Jahresende einen hübschen Bonus sicherte.
Während ich durch die herbstliche Taiga trottete, wurde mir klar, wie wenig ich mittlerweile von dem Menschen wusste, der fünfundzwanzig Jahre zuvor meine Freundschaft durch einen Akt persönlichen Verzichts gewonnen hatte. Lena, ein Mädchen mit lustigen Sommersprossen und spitzen Brüsten, dem selbst die Jungen aus den höheren Jahrgängen hinterher gafften, teilte uns beiden damals mit, sie würde sich für einen von uns entscheiden, wenn wir uns einigten. Zunächst stritten wir uns, aber nach kurzem Hin und Her zuckte Åke schließlich mit den Schultern und sagte: "Wenn es so wichtig für dich ist, dann nimm sie." Die Großzügigkeit dieser Geste beeindruckte mich ungeheuer.
Ich blieb stehen, um einen Schluck aus meiner Feldflasche zu nehmen, und mir wurde die tiefe Stille bewusst, die uns umgab. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass wir dem verletzten Hirsch bereits seit zwei Stunden folgten. Wir waren an diesem Morgen früh zur Jagd aufgebrochen, doch jetzt stand die verhangene Sonnenscheibe schon im Süden. Ich verstaute die Flasche, zog meine Kamera aus der Seitentasche und machte ein paar Aufnahmen von der sumpfigen Landschaft, deren Konturen sich in der Ferne im Dunst verloren. Dann schloss ich zu den beiden anderen auf, die vor einer verkrüppelten Rot-Zeder knieten und den Boden untersuchten.
Als ich näher kam, sah ich Blut, das von den bemoosten Zweigen der Zeder dunkelrot und sämig auf die feuchte Erde tropfte. Jon wandte sich uns zu, legte zwei Finger auf die Lippen und machte eine Geste, die besagte, dass das Tier in der Nähe sein musste. Wir setzten die Rucksäcke auf den Boden. Jon hob seinen Feldstecher vor die Augen und suchte die Umgebung ab.
Das mit Papier-Birken, Fichten und Zedern bestandene Gelände verlief einige hundert Meter eben und wirkte mit seinem staunassen Boden und dem verrottenden Totholz verlassen und trostlos. Über uns zogen Wolkenschleier niedrig dahin. Ich schloss die Augen. Hin und wieder rauschte der Wind in meinen Ohren, aber sonst war es still. Es roch nach feuchter Erde und nach Kiefernharz.
Als ich hörte, dass Jon eine Bewegung machte, sah ich zu ihm. Er wies, noch immer das Fernglas vor den Augen, mit einer Hand in nordwestliche Richtung. Ich folgte seiner Geste und bemerkte eine Baumgruppe, die etwa einhundert Meter entfernt dunkel hinter einer wassergefüllten Senke aufragte. Åke und ich schauten durch unsere Ferngläser.
"Verdammt noch mal", sagte Åke neben mir mit heiserer Stimme, und dann sah ich den Hirsch. Das Tier schleppte sich am Rande der Wasserstelle durch das Unterholz. Ein Teil seiner Eingeweide war herausgeplatzt und hatte sich in den Hinterläufen verfangen. Es war ein grausames Bild, und nur der Gedanke, dass wir dem Leiden des Tieres jetzt ein Ende setzen könnten, half mir über den Schock dieses Moments hinweg.
"Ragnar", sagte Jon leise zu mir, "behalte den Hirsch im Blick." Er setzte das Glas ab, hockte sich bei unserem Gepäck auf die Erde und öffnete das Lederfutteral seines Jagdbogens. "Åke, du wirst mich begleiten." Während Jon die Waffe mit wenigen Handgriffen zusammensetzte, die Sehne aufspannte und seine Pfeile bereit machte, starrte ich durch meinen Feldstecher und beobachtete das verletzte Tier.
Ich sah, wie der Hirsch strauchelte, und für einen Moment schien es, als wären seine Kräfte endgültig erschöpft. Doch er raffte sich wieder auf und bahnte sich seinen Weg durch Tannendickicht und Brombeergestrüpp. Mich schauderte.
Nachdem Jon seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, zeigte ich ihm, wohin sich der Hirsch bewegt hatte. "Du bleibst bei den Rucksäcken", sagte er dann zu mir, gab Åke ein Zeichen, und die beiden gingen los, langsam und tiefgeduckt. Ich beobachtete fasziniert, wie Jon die natürlichen Gegebenheiten der Landschaft nutzte, hinter Büschen und Totholzstämmen Deckung suchte. Immer wieder hielt er inne, um sich zu orientieren und die Windrichtung zu prüfen. Er schien der geborene Pirscher zu sein. Die Gewandtheit seiner Bewegungen, die Besonnenheit und Ruhe, die Jon ausstrahlte, konnte ich nur bewundern. Åke hingegen wirkte so unsicher, dass ich bald befürchtete, er würde den Hirsch aufscheuchen.
Jon machte sich für den Schuss bereit, als sie sich dem Tier auf etwa vierzig Meter genähert hatten. Durch das Fernglas konnte ich beobachten, wie er sich mit Åke durch Gesten verständigte, offenbar, um ihn auf eine bestimmte Jagdtechnik aufmerksam zu machen. Der Hirsch überquerte jetzt ungedecktes Gelände. Er hielt den Kopf tief gesenkt, und man spürte, dass ihn jeder Schritt viel Kraft kostete.
Als Jon den Bogen spannte, stockte mir der Atem, und es geschah etwas Merkwürdiges. Ich hatte die Empfindung, Zeuge eines Geschehens zu sein, dem eine besondere Bedeutung innewohnte. Die Stille dieser abgelegenen und unwirtlichen Gegend, die stumme Qual des Hirsches, Jon, der im Gras verborgen seiner Beute auflauerte – das alles verband sich zu einer einzigartigen und intensiven Erfahrung, in deren Licht mein bisheriges Leben unwirklich und trivial erschien.
Ich hörte einen schrillen Pfiff und sah, wie der Hirsch erschrocken den Kopf hob. In diesem Moment schnellte Jons Pfeil von der Sehne. Der Hirsch machte einen Sprung, taumelte und kippte seitlich ins Gras. Es war vorbei.

An diesem Abend saßen wir am Fuß einer mächtigen Sitka-Fichte vor dem Feuer. Jon hatte die windgeschützte Stelle für unser Nachtlager gewählt. In meine Iso-Decke gewickelt, lauschte ich den Geräuschen des Waldes. Ich war satt und schläfrig; eine gewaltige Portion Ragout aus dem Rückenfleisch des erlegten Weißwedelhirsches lag mir schwer im Magen.
"Wenn du dich entschließt, ein Tier zu töten", sagte Jon plötzlich in das Knistern der Flammen hinein, "übernimmst du eine große Verantwortung." Ich war froh, dass Jon die vergangene Jagd ansprach, denn nachdem er sich beim Aufbrechen des Hirsches und auch Stunden danach strikt geweigert hatte, über die Geschehnisse des Tages zu sprechen, befürchtete ich, die Fragen, die mir im Kopf herumgingen, würden unbeantwortet bleiben.
Die Jäger in Schweden sprachen während hitziger Debatten mit Tierschützern oft über Verantwortung und über etwas, das sie als Respekt vor der Kreatur bezeichneten, aber ich hatte den Eindruck, dass es Jon um etwas anderes ging.
"Die Verantwortung dafür, das Tier nicht leiden zu lassen, ja? Meinst du das, Jon?", fragte ich.
Er antwortete nicht sofort. Offenbar suchte er nach den richtigen Worten.
"Jemand, der sich dazu entschließt, auf die Jagd zu gehen, ist wie einer, der in den Krieg zieht", sagte er schließlich. "Er muss alles zurücklassen, was ihn behindert. Er muss frei und leicht sein. Jede seiner Handlungen ist reine Konzentration."
"Herrgott nochmal, Jon", sagte Åke und scharrte mit dem Absatz seines Stiefels mürrisch in der Erde. "Ich weiß ja, dass ich Mist gebaut habe. Wie lange willst du mir das vorhalten?"
Jon schwieg, doch ich wollte die Chance etwas zu lernen, nicht ungenutzt verstreichen lassen.
"Was meinst du damit, Jon? Was bedeutet es, frei und leicht zu sein?"
"Es bedeutet, sich ganz auf die Jagd einzulassen. Ihr beide seid mit euren Gedanken ständig woanders. Lauft den ganzen Tag durch den Wald, aber bekommt nicht viel mit, von dem, was um euch herum passiert."
Nun war es an mir, zu protestieren. Ich entgegnete, dass ich bereits Dutzende von Fotoaufnahmen gemacht hätte und stets auf der Suche nach ausdrucksstarken Motiven sei. Ich redete mich richtig in Fahrt, doch dann, in einer Art Eingebung, erkannte ich, worüber Jon gesprochen hatte und verstummte. Es ging ihm nicht darum, uns auf die Schönheit der Landschaft aufmerksam zu machen. Es war die Halbherzigkeit unseres Tuns, die er kritisierte.
Verglichen mit Jon waren wir Kinder. Wir hielten es nicht aus, längere Zeit schweigend zu marschieren. Beim Lagerbau schusselten wir herum, bei der Holzsuche waren wir kilometerweit zu hören, weil wir uns nicht die Mühe machten, auf unsere Schritte zu achten. Während Jons Handlungen eine besondere Art von Präzision und Eleganz eignete, tapsten wir wie junge Hunde durch die Wildnis.
Ich wechselte das Thema. "Heute bei der Nachsuche ist mir aufgefallen, dass du einmal nach rechts abgebogen bist, obwohl die Spur geradeaus führte."
Jon sah mich an. Im Schein der Flammen glänzten seine dunklen Augen.
"Ein bisschen hast du also doch bemerkt", sagte er anerkennend. Dann erklärte er, die Fährte, der wir gefolgt waren, hätte ihm gezeigt, dass unser Hirsch rechtsdominant gewesen sei. Wie wir Menschen besäßen auch Hirsche eine stärkere Körperseite, und während einer Verfolgung konnte man den Weg abkürzen, wenn man wusste, in welche Richtung das flüchtende Tier einen Bogen schlug.
Mir wurde bewusst, welcher außergewöhnlichen Fähigkeiten es bedurfte, ein guter Jäger zu sein. Es war lächerlich, das Handwerk in einem einwöchigen Kurs erlernen zu wollen. Åke und mir ging es einzig um das Abenteuer, um das Erlebnis, um eine kurzfristige Rückkehr zu den archaischen Wurzeln des Menschen als Jäger und Sammler. Für Jon war das Jagen und das Leben in der Wildnis offenbar weit mehr.
"Hast du das alles bei deinen Leuten gelernt?", fragte ich.
"Du meinst bei meinem Volk?"
"Ja, bei den Tutchonen", sagte ich.
Jon lächelte, offenbar wegen des Klischees, das hinter meiner Frage steckte, aber er dachte einige Zeit nach, bevor er antwortete.
"Ich habe es bei meinem Großvater gelernt", sagte er schließlich. "Über mein Volk weiß ich nicht viel."
Bevor wir nach British Columbia aufgebrochen waren, hatte ich mich ein wenig mit der Geschichte der kanadischen Indianer beschäftigt und auch mit ihrer aktuellen Situation. Deshalb kannte ich einige der Statistiken, die besagten, dass es in den Gemeinschaften der First Nations viele Probleme gab - Alkohol, harte Drogen, Arbeitslosigkeit und Gewalt. Die rücksichtslosen Machenschaften multinationaler Forstkonzerne, die nicht vor Betrug und Korruption zurückschreckten, um die Rechte der Ureinwohner zu schleifen, verschärften überall in der Provinz den Überlebenskampf der Indianer. Der kriminelle Handel mit den begehrten Holzeinschlagslizenzen hatte solche Größenordnungen erreicht, dass die vermeintlich unberührten Paradiese Kanadas besonders in Küstennähe bereits flächendeckend dem Kahlschlag zum Opfer gefallen waren.
"Dein Großvater war also Jäger?", fragte ich.
Jon nickte und versank erneut in Gedanken.
"Ich finde es großartig, wie du mit dem Bogen umgehst", sagte ich schließlich. "Das würde ich gern lernen."
Jon reagierte auf meine Bemerkung nicht. Er starrte in die Flammen, und ich fragte mich, was in ihm vorgehen mochte. Ich versuchte an diesem Abend noch ein oder zwei Mal, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, aber weder Åke noch Jon waren in gesprächiger Stimmung. Also löschten wir bald darauf das Feuer und krochen in unsere Schlafsäcke.

Am nächsten Tag lag eine Wanderstrecke von etwa fünfzehn Kilometern vor uns. Es war der dritte Tag unserer Jagdreise, in deren Verlauf wir hundertfünfzig Kilometer zurücklegen wollten, die verschiedenen Pirschausflüge nicht mitgerechnet. Die Idee, Wandern und Jagen in einem einzigen Abenteuer miteinander zu verbinden, mochte romantisch klingen, aber einmal von der Tatsache abgesehen, dass mir vom Marsch unseres ersten Tages noch die Oberschenkel schmerzten, hatte die Geschichte einen Haken, der erst am Tag zuvor deutlich geworden war. Was geschah mit unserer Jagdbeute?
Jon hatte gestern die besten Stücke des erlegten Hirsches ausgelöst, um uns für die nächsten Tage zu versorgen. Den größten Teil des Fleisches mussten wir jedoch zurücklassen. Åke wollte auf die Trophäe seines ersten Kills nicht verzichten. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Geweih auf seinen Rucksack zu schnallen.
Als ich Jon auf das Problem ansprach, sagte er nach kurzem Zögern: "So zu jagen, ist nicht so gut. Schade um das Fleisch. Aber auch wenn wir den Kadaver zurücklassen, ist es keine Verschwendung. In den nächsten Tagen werden viele Tiere von dem toten Hirsch fressen."
Åke schien sich darüber keine Gedanken zu machen. Er lief an der Spitze unserer kleinen Gruppe, das GPS-Gerät in der Hand. Trotz des Geweihs, das ihn während des Marsches behinderte, schritt er so schnell aus, dass mir allmählich die Luft wegblieb. Ich verstand nicht, was Åke mit seinem mörderischen Tempo beweisen wollte, aber ich verkniff mir zunächst einen Kommentar.
Erst als wir gegen Mittag eine Rast einlegten, bemerkte ich gereizt: "Ich habe das Gehetze satt. Entweder gehen wir jetzt langsamer oder wir trennen uns. Von mir aus könnt ihr ja vorlaufen."
An diesem Tag bemühte ich mich, aufmerksam zu bleiben und mich, so wie Jon es wahrscheinlich meinte, ganz auf das Erlebnis und die Natur einzulassen. Wir durchwanderten eine Landschaft, deren Stille und Schönheit mich faszinierte, aber letztlich konnte ich das Rauschen meiner Gedanken nicht abschalten. Immer wieder kehrte ich zu meinem Leben in Stockholm zurück, zu ungelösten Fragen, zu kleineren und größeren Konflikten in meiner Familie und in meiner Ehe mit Jenny.
Alles zurücklassen, so wie Jon sagte, frei und leicht zu werden, das schien eine besondere Mentalität oder langwierige Übung vorauszusetzen. Ich wusste jedenfalls nicht, wie ich meinen Kopf leer bekommen sollte.
Wir erreichten unseren Zielpunkt bereits am Nachmittag. Nachdem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, bot Jon mir eine Unterrichtsstunde im Bogenschießen an. Den größten Eindruck machte mir anfangs die Stärke des Bogens. Ich war kaum in der Lage, ihn zu spannen. Mein Arm zitterte so stark, dass Jon vor Vergnügen auf seine Schenkel schlug und mir lachend empfahl, es lieber mit einer Steinschleuder als Jagdwaffe zu versuchen. Obwohl ich bei dieser ersten Lektion noch nicht dazu kam, einen Pfeil abzuschießen, lernte ich einige wichtige Grundlagen, wie das Einnehmen der richtigen Körperhaltung und das Greifen, Heben und Spannen des Bogens.
Am Abend vor dem Feuer planten wir die Pirsch des nächsten Tages. Da wir bei unserer ersten Jagd viel Zeit durch die Nachsuche verloren hatten, war ich nicht zum Schuss gekommen.
"Ragnar wird morgen beginnen", sagte Jon zu Åke gewandt. "Falls wir am Vormittag Glück haben, kriegst du am Nachmittag deine zweite Chance."
Åke schwieg einen Moment. Ich sah, dass er nicht einverstanden war. Schließlich spuckte er ins Feuer und sagte: "Es gibt noch eine andere Möglichkeit."
Jon und ich sahen ihn verblüfft an.
"Ich schlage vor, wir jagen getrennt", sagte Åke zu Jon. "Du kannst Ragnar begleiten. Ich gehe in die andere Richtung. Wir haben ja GPS. Treffen uns dann am Abend beim Lager wieder."
Jon schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, zu riskant."
"Warum? Glaubst du, ich finde nicht wieder zurück?"
"Du kennst dich hier nicht aus", erwiderte Jon. "Dir könnte ein Schwarzbär über den Weg laufen oder sogar ein Grizzly."
So ging es eine Weile hin und her. Ich verfolgte den Streit der beiden, aber ich wusste, wie er enden würde. Wenn Åke sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann ließ er nicht locker. Gewöhnlich bekam er, was er wollte.

Als ich Åke am nächsten Morgen in nördlicher Richtung davon stapfen sah, erfasste mich eine Unruhe, die ich mir zunächst nicht erklären konnte. Sicher, es lag ein gewisses Risiko in dem Vorhaben. Åke spielte mal wieder mit dem Feuer, denn er kannte sich in dem Gebiet nicht aus, und die Begegnung mit einem Bären konnte durchaus gefährlich werden. Andererseits würden wir nur fünf oder sechs Stunden getrennt sein, und Åke hatte mehr als einmal in seinem Leben bewiesen, dass er sich in heiklen Situationen zurecht zu finden wusste.
Jon und ich schlugen uns östlich des Lagers einige Zeit durch dichtes Unterholz und gelangten schließlich zu einer Ebene, von der Jon behauptete, dass dies ideales Terrain für die Elchjagd sei.
"Aber es gibt hier wenig Deckung", wandte ich ein. "Kaum ein Baum. Werden uns die Tiere nicht bemerken?"
"Wir müssen nur ein wenig Geduld haben", sagte Jon. "Dann kommen die Elche zu uns."
Er hob sein Glas vor die Augen und suchte den Waldrand ab.
"Da hinten", sagte er schließlich. "Das ist eine gute Stelle zum Warten."
Während wir im Schatten von Meerkirschen und Balsam-Pappeln ausharrten und schweigend hinaus auf die im Vormittagslicht flirrende Ebene blickten, kehrten meine Gedanken zu Åke zurück. Ich bewunderte die Energie, mit der er die Dinge anpackte, und je mehr ich über unsere Freundschaft nachdachte, desto klarer wurde mir, wie stark mich dieser Persönlichkeitszug bei ihm seit jeher fasziniert und auch ein wenig mit Neid erfüllt hatte. Im Gegensatz zu Åke zögerte ich häufig, machte mir meine Entscheidungen schwerer als nötig, und dort, wo mein Freund vorwärtsstürmte, plagten mich Ängste vor Veränderung, Risiko und Verlust.
Doch es gab auch eine zweite Wahrheit, die sich mir in den vergangenen Tagen enthüllt hatte, und ich fragte mich, weshalb ich erst jetzt erkannte, was Jenny offenbar seit langer Zeit wusste. Åkes Tatendrang, seine energische, systematische Art, an das Leben heranzugehen, war nicht mehr und nicht weniger, als die Form, in der sich eine erschreckende Gewissenlosigkeit ausdrückte. Das wurde insbesondere deutlich, wenn man ihn mit Jon verglich, der die Welt mit einer besonderen Zurückhaltung zu berühren schien.
Unwillkürlich blickte ich hinüber zu dem jungen Indianer und betrachtete eine Weile sein beschattetes Profil, das sich dunkel und kantig vor der schimmernden Ebene absetzte. Als er sich kurz darauf mir zuwandte und die Augenbrauen hob, dachte ich einen Moment lang, er hätte meine Gedanken erraten, doch dann sagte er leise: "Worauf wartest du? Sie sind da."
Der Schießtrainer des Ausbildungszentrums hatte mir eingeschärft, dass ein Jäger mit seinem Auge stets das Absehen, das Fadenkreuz, scharfstellen musste, nicht etwa das Ziel. Doch ich konnte nicht aufhören, die beiden Elche zu betrachten. Ich lag auf dem Bauch, starrte durch das Glas meines Jagdgewehrs und verfolgte, wie sich die mächtigen Tiere in gemächlichem Tempo durch das Sumpfgras bewegten. Sie waren weniger als einhundert Meter entfernt.
"Zwei Bullen", hörte ich Jons Stimme. "Such dir einen aus."
Der Logik der Trophäenjagd folgend, richtete ich das Fadenkreuz auf den größeren Bullen aus. Es war ein sehr dunkles Tier mit ausgefranstem Kinnbart und einem herrlichen Schaufelgeweih. Obwohl die beiden Elche die Ebene nur langsam überquerten, stellte sich mir die Frage, ob ich vorhalten oder direkt schießen sollte. Ich sprach Jon darauf an.
"Warte, bis der Bulle stehenbleibt", riet er mir. "Ziele auf das Blatt. Lass dir Zeit."
Ich presste den Schaft des Gewehrs gegen meine Schulter und beobachtete, wie der Elch einen Moment lang innehielt, den gewaltigen Schädel schüttelte und dann seinen Weg durch das Gras fortsetzte.
"Verdammt", flüsterte ich. Diese Gelegenheit hatte ich verpasst.
"Entspann dich, bleib aufmerksam", sagte Jon mit ruhiger Stimme.
Im Zielfernrohr tanzte das Fadenkreuz im Takt meines Herzschlags. Ich wusste, dass ich ausatmen musste, um im Moment der geringsten vom Körper verursachten Eigenbewegung zu schießen. Ein geübter Schütze feuert aus einem Zustand tiefen inneren Schweigens heraus, doch ich konnte die Gedanken, die sich in meinem Kopf überschlugen, nicht abstellen. Nach dem Schuss würde es kein Zurück geben. Ich hatte nie zuvor ein Tier getötet, das größer gewesen war, als eine Ratte. Wollte ich das hier wirklich tun?
Während sich der Elch sanft schaukelnd über die sumpfige Ebene bewegte, suchte ich den Druckpunkt des Abzugs. Als das Tier stehen blieb, schob sich mein Fadenkreuz über das Schulterblatt des Bullen. Ich atmete aus, und dann fiel alles von mir ab. Es war, als schaute ich durch das Glas meines Gewehrs in das Herz aller Dinge. Schießen oder nicht, Tod oder Leben, das machte keinen Unterschied mehr.
Ich zuckte zusammen. Vier oder fünf Schüsse peitschten in schneller Folge durch die Stille. Ich sah, wie der Elch eine abrupte Drehung vollführte und blickte über mein Gewehr auf die Ebene. Die beiden Bullen stürmten zurück in den Wald.
Ich schaute zu Jon hinüber. "Was, zum Teufel ..."
Jons Blick bohrte sich in die baumbestandene Landschaft nordwestlich unserer Position.
"Åke", sagte er schließlich und presste verbittert die Lippen zusammen.

Ich schulterte mein Gewehr. Bei dem Gedanken daran, dass dieser Idiot hier wie ein Wahnsinniger herumballerte, damit gegen alle Regeln der Jagd verstieß und so Jon zweifellos veranlassen würde, unseren gesamten Trip abzubrechen, war mir die Lust auf die Elchpirsch vergangen. Und auch Jon drängte mich, sofort nachzuschauen, was Åke trieb.
Etwa eine Stunde später hatten wir Åkes Fährte aufgespürt. Jon betrachtete sie lange. Allmählich fiel mir auf, wie angespannt er wirkte.
"Was ist los?", fragte ich. "Stimmt was nicht?"
In diesem Augenblick wurde mir die eigenartige Stimmung bewusst, die um uns herum herrschte. Wir standen im Dämmerlicht unter gewaltigen Riesen-Thujas und Douglasien. Ihre Äste hingen schwer herab, und ich fühlte feindselige Schwingungen, die scheinbar von den Bäumen ausgingen. Zwar lag das warme, harzige Zedernaroma in der Luft, das ich so sehr liebte, aber in diesem Moment, schien es mir vergiftet. Die tödliche Stille hier im Wald ließ mich frösteln.
Jon brütete noch immer über Åkes Stiefelabdrücken im weichen Boden. Er kniff die Augen zusammen, seine Nasenflügel bebten.
"Ich glaube", sagte er schließlich, "er ist in Schwierigkeiten."
Wir folgten der Fährte bis zu einer kleinen Lichtung. Jon hielt inne, hob die Hand, und wir starrten hinüber zu Åke, der hinter dem Stamm einer umgestürzten Tanne kauerte und mit seinem Gewehr zum gegenüberliegenden Waldrand zielte. Dort, etwa dreißig Meter von unserer Position entfernt, lag der Kadaver eines Tiers, von dem ich annahm, dass es sich um einen Wolf handelte.
Jon stieß einen leisen Pfiff aus. Doch Åke reagierte nicht. Also näherten wir uns langsam, und ich spürte bei jedem Schritt, dass unsere Jagdreise eine dramatische Wendung genommen hatte. Jede Faser meines Körpers bebte im Alarmzustand.
Als Jon Åke sanft an der Schulter fasste, fuhr dieser herum und blickte uns mit einem Ausdruck an, den ich bei ihm niemals zuvor gesehen hatte. Furcht und Entsetzen spiegelten sich in seinen Augen. Åkes Lippen zitterten und mit Bestürzung bemerkte ich die Totenblässe, die auf dem Gesicht meines Freundes schimmerte.
"Was ist passiert?", fragte Jon, doch Åke antwortete nicht. Sein gehetzter Blick heftete sich auf Jon, und ich sah, wie verzweifelt er nach Worten suchte.
"In Ordnung", sagte Jon schließlich. "Beruhige dich, atme durch."
Er machte eine Geste zu dem Kadaver hin. "Ich schau mir das da vorn mal an."
Doch Åke packte ihn und stieß heiser hervor: "Nein, lass uns verschwinden!"
Das Bizarre der Situation war unerträglich. Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten. Eisige Schauer zitterten über meinen Rücken.
Jon hatte sich sanft aus Åkes Griff befreit. "Beruhige dich", wiederholte er, drehte sich um und schritt über die Lichtung auf das am Boden liegende Tier zu. Ich verfolgte seine Bewegungen ohne zu atmen. Dann stand Jon wie versteinert vor dem Kadaver. Obwohl ich sein Gesicht nicht sah, glaubte ich, das Grauen zu spüren, das Jon beim Anblick der Kreatur erfasste. Ruckartig wandte er sich um und kehrte zu uns zurück.
Er packte Åke am Arm, zerrte ihn hoch und sagte mit gepresster Stimme: "Wir müssen sofort weg von hier."
Jons Reaktion versetzte mich in Panik. In meinem Bauch zog sich etwas zu einem harten Knoten zusammen und Schweiß schoss mir überall am Körper aus den Poren.
"Was ist los, Jon?" Ich versuchte, meiner Stimme eine Festigkeit zu verleihen, die ich längst verloren hatte. "Was ist das für ein Tier da vorn?"
"Ein Wolf", erwiderte Jon und versuchte, Åke und mich von der Lichtung wegzuziehen. Ich sah, dass er log.
Unser Rückmarsch glich einer Flucht. Jon trieb uns durch den Wald, Åke und ich stolperten nebeneinanderher, wir hatten die Orientierung verloren und liefen, ohne zu verstehen, was hier mit uns geschah.
Als wir etwa zwei Stunden später unser Camp erreichten, brannten meine Lungen wie Feuer.
"Ihr werdet euch jetzt ein wenig ausruhen", sagte Jon. "Trinkt etwas Wasser und legt euch in eure Schlafsäcke. Ich kümmere mich um das Essen."
Offenbar hatte Jon sich wieder in der Gewalt. Er wirkte gefasst und ich nahm an, dass er während unseres Eilmarsches einen Plan entwickelt hatte.
"Jon", sagte ich. "Wir müssen darüber reden, was da ..."
"Nicht jetzt", erwiderte er und bedachte mich mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete.

An diesem Abend steckte uns noch immer der Schrecken in den Knochen, als wir vor den Flammen des Lagerfeuers unsere Mahlzeit einnahmen. Während Åke in Apathie versunken war, hüllte sich Jon in grimmiges Schweigen. Nur hin und wieder richtete er sich mit einer aufmunternden Bemerkung an Åke. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was geschah hier?
Nach dem Essen kroch Åke in der Nähe des Feuers in seinen Schlafsack und schlief sofort ein.
Ich setzte mich näher zu Jon und sagte: "Du schuldest mir eine Erklärung."
Jon sah mich an und nickte.
"Also, was ist da heute passiert?"
"Das ist keine gute Jagd", sagte Jon leise. "Der Wald hat uns heute gezeigt, dass wir nicht willkommen sind. Wir müssen die Jagd abbrechen."
"Aber was ist mit Åke? Scheinbar steht er unter Schock. Was hat er gesehen?"
Jon dachte einen Moment lang nach und sagte schließlich: "Das spielt keine Rolle. Mach dir darüber keine Gedanken."
"Aber ..."
"Wichtig ist nur, dass wir so schnell wir möglich von hier wegkommen."
"Jon ..."
"Nein, jetzt hör mir zu", sagte er und sah mich an. Sein Blick war eindringlich, aber ich entdeckte darin auch etwas Flehendes, die Bitte, ihm zu vertrauen. "Wir sind in Gefahr. Morgen früh brechen wir auf. Hilf mir mit Åke, er wird sehr schwach sein."
"Okay", sagte ich. Ich verstand immer noch nicht, weshalb Jon ein solches Geheimnis um die Sache machte, aber es hatte keinen Zweck, weiter in ihn zu dringen.
"Ich weiß, was hier läuft", sagte Åke plötzlich mit schriller Stimme. Jon und ich blickten überrascht hinüber zu ihm und sahen, dass er sich in seinem Schlafsack aufgerichtet hatte und in die Flammen starrte. "Es geht um mich, Jon."
Jon schwieg. Ich sah, wie er auf seiner Lippe kaute, und in diesem Moment begriff ich, dass Åkes Geständnis ihn nicht überraschte.
"Was meinst du damit?", fragte ich.
Åke blickte noch immer in die Flammen.
"Diese Jagd hier ... der Einfall ist mir vor ein paar Wochen gekommen ... wir finanzieren gerade ein Projekt für Weston International Limited ..."
In diesem Moment fuhr ein glühender Schauer meine Wirbelsäule empor. Ich kannte den Namen des Forstkonzerns von meinen Reiserecherchen.
"Irgendjemand machte den Witz, man müsste sich diesen Wald noch einmal anschauen, bevor ... und da kam mir die Idee ..."
"Ich habe vom ersten Tag an geahnt, dass es ein Fehler war, euch hier her zu bringen", sagte Jon leise. Es schien, als ob er noch etwas erklären wollte, aber dann sagte er nur: "Ich übernehme die erste Wache." Es waren die letzten Worte, die ich von ihm hören sollte.
Åke wirkte wie versteinert. Ich sprach ihn ein paar Mal an, aber er reagierte nicht. Als ich mich kurz darauf mit klopfendem Herzen in meinem Schlafsack zusammenrollte, saß er noch immer vor dem Feuer und starrte in die Glut.

Schreie, Grunzen und ein Geräusch, das wie das Bersten von Knochen klang, rissen mich aus einem widerlichen Traum, in dem ich, eingeschlossen in einem Sarg, tief unter der Erde zu ersticken glaubte. Ich fuhr hoch und sah Jon, der sich im flackernden Schein des Feuers mit einer schrecklichen Kreatur am Boden wälzte. Doch bevor ich ihm zu Hilfe eilen konnte, packte mich ein eiserner Griff an der Kehle. Die Schatten, die um die Feuerstätte tanzten, zuckten hoch auf und explodierten in eine ungeheure Schwärze hinein. Ich taumelte ihnen hinterher - es war das Gefühl, in das nächtliche Firmament zu stürzen. Mir drehte sich der Magen um.
Noch immer presste mir etwas die Kehle zu, und in dem Moment, als ich glaubte, aus schierem Entsetzen das Bewusstsein zu verlieren, registrierte ich, dass ich beobachtet wurde. In der sich über mich wölbenden Finsternis starrten Augen auf mich herab, ihr zornvoller Blick bohrte sich wie ein Nagel in meine Stirn. Verwesungsatem versengte mir das Gesicht. Ich spürte, wie sich die Haut von meinen Wangen schälte. In Flocken wirbelte sie davon.
Ein Stoß, der die Luft aus meinen Lungen trieb, schmetterte mich gegen den Stamm einer Fichte und meinen Körper durchzuckte ein Schmerz, als würde eine Klinge zwischen meine Nackenwirbel getrieben. Ich sackte zu Boden.
Unfähig, mich zu bewegen, verfolgte ich aus einer sonderbar verdrehten Perspektive eine abscheuliche Szene.
Åke hing mit dem Kopf nach unten irgendwo über mir. Das Blut ließ seine Halsarterien dick und dunkel hervortreten, und ich sah, wie er mich aus aufgedunsenen Zügen voller Angst anblickte. Von einem Zischen begleitet raste etwas aus der Dunkelheit heran und schlug hart in Åkes Leib. Ich hörte einen grauenvollen Schrei, und dann klatschten Åkes Eingeweide schwer und heiß auf mich herab. Als Åke zu Boden stürzte, brach etwas in meinem linken Arm, und ich spürte erneut, wie sich die Erde unter mir wegdrehte. Kurz bevor die Finsternis den letzten Rest meines Bewusstsein aufsog, beobachtete ich meinen Freund, der, seine in Fetzen gerissenen Därme hinter sich her schleifend, dem verlöschenden Licht des Feuers entgegen kroch.

Im grauen Schein der Dämmerung kam ich zu mir. Obwohl sich mein Körper anfühlte, als wäre darin jeder Knochen zerschlagen, gelang es mir, aufzustehen. Unser Camp bot ein Bild der Verwüstung. Zwischen wild verstreuten Ausrüstungsteilen fand ich die Überreste von Jon und Åke.
Die Ranger, die mich zwei Tage später retteten, und das Lager gründlich untersuchten, behaupteten, ein Wolfsrudel müsse über uns hergefallen sein, und all die schrecklichen Szenen, die ich angeblich mit angesehen hatte, seien nichts weiter als Hirngespinste, hervorgerufen durch ein Stresstrauma.
Noch heute besitze ich Jons Bogen, und noch immer habe ich keinen einzigen Pfeil damit verschossen. Gelegentlich hole ich ihn hervor, wickle die Wurfarme und das Mittelstück aus dem Lederfutteral und stecke sie zusammen. Ich spanne die Sehne auf und denke an Jon, Åke und unsere Jagd, und ich frage mich, ob ich jemals verstehen werde, was damals geschah.

 

Hallo Achillus,

ich gehöre nicht zu denen, die hier einen Fachkommentar abgeben können. Ich möchte aber trotzdem sagen, das ich deine Art zu schreiben hervorragend finde, genaugenommen professionell. Nachdem ich "Frost" gelesen habe, musste ich gleich eine Geschichte von dir nachlegen.
Beide Geschichten haben mich von Anfang an gefesselt und nicht mehr losgelassen. Ich bin gleich in die Atmosphäre eingetaucht, an keiner Stelle bin ich ins zögern geraten, das läuft ohne Schnörkel auf gleichem Niveau durch. Diese beiden Geschichten gehören, neben nur wenigen anderen, zu den Besten, die ich im Forum gelesen habe. Und irgendwer schrieb, du spielst in deiner eigenen Liga, dem ich nur zustimmen kann. Sprachlich finde ich es herausragend. Da ist nichts, was mich, wie in meinen eigenen Geschichten, an bemühte kreative Formulierungen erinnert. Das wirkt alles frisch. Einzig mit den offenen Auflösungen hadere ich. Du lässt mich da irgendwie unbefriedigt zurück, als wären die Geschichten noch nicht zu Ende.
Neunundzwanzig von dreißig Büchern landen bei mir nach zehn Seiten in der Tonne, das mag an mir liegen, klar, aber Texte, die mich so faszinieren wie deine, finde ich nur selten. Schön, das bei dir unter Themen noch eine ganze Menge davon zu finden sind.

Liebe Grüße

Rainer Hohn

 

Hallo Rainer,

danke für Deinen Kommentar. Ich freue mich erst einmal über jede Rückmeldung zu meinen Texten, jeder Leseeindruck kann helfen, es künftig besser zu machen.

Hallo ich gehöre nicht zu denen, die hier einen Fachkommentar abgeben können. Ich möchte aber trotzdem sagen, das ich deine Art zu schreiben hervorragend finde, genaugenommen professionell. Nachdem ich "Frost" gelesen habe, musste ich gleich eine Geschichte von dir nachlegen.

Das freut mich sehr. Vielen Dank für das Kompliment.

Beide Geschichten haben mich von Anfang an gefesselt und nicht mehr losgelassen. Ich bin gleich in die Atmosphäre eingetaucht, an keiner Stelle bin ich ins zögern geraten, das läuft ohne Schnörkel auf gleichem Niveau durch.

Vieles, was diese Geschichten gut macht, habe ich hier im Forum gelernt. Lesen und Kommentieren schärft den Blick für die Techniken, die man beim Schreiben anwenden kann.

Diese beiden Geschichten gehören, neben nur wenigen anderen, zu den Besten, die ich im Forum gelesen habe. Und irgendwer schrieb, du spielst in deiner eigenen Liga, dem ich nur zustimmen kann.

Dem würde so sicher nicht jeder zustimmen, aber es freut mich trotzdem. Viel hängt damit zusammen, was man eben selbst gern liest. Endzeit- und Spannungsgeschichten richten sich schon eher an ein spezielles Publikum, glaube ich.

Einzig mit den offenen Auflösungen hadere ich. Du lässt mich da irgendwie unbefriedigt zurück, als wären die Geschichten noch nicht zu Ende.

Also bei meinen Plotkonstrutkionen gibt es noch eine Menge, was ich besser machen kann, das sehe ich auch so. Eine Geschichte mit pointiertem Ende befriedigt den Leser häufig mehr, als eine mit offenem Ende. Problem ist dabei bloß, dass definitive Aussagen am Ende einer Geschichte auch das Spiel mit Bedeutungen schwieriger machen. Ich würde sehr gern beides können, also eine Ende, bei dem nicht alles ausgedeutet wird und der Leser trotzdem so einen Schlusspunkt spürt. Mal sehen, ob das in Zukunft noch besser funktioniert.

Neunundzwanzig von dreißig Büchern landen bei mir nach zehn Seiten in der Tonne, das mag an mir liegen, klar, aber Texte, die mich so faszinieren wie deine, finde ich nur selten. Schön, das bei dir unter Themen noch eine ganze Menge davon zu finden sind.

Das finde ich sehr gut. Es gibt so viele gute Bücher da draußen, gib Dich nicht mit solchen ab, die nur so einigermaßen sind. Ich wollte früher kein angefangenes Buch weglegen, doch mittlerweile bin ich radikaler geworden. Wenn es mich innerhalb der ersten zehn Seiten nicht überzeugt, lege ich es weg.

Ich wünsche Dir schöne Festtage!

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus
ich freue mich, dass deine Geschichte noch Mal hochgezogen würde, da ich sie übersehen hatte.
Ein kleines Feedback: Du schaffst es durch Sprache und Aufbau, dass ich meine Ablehnung gegen dieses Hobby beiseite schiebe und mich auf die Figuren einlasse. Auf diese Art kann Literatur Türen in fremde Welten öffnen, die man eigentlich ablehnt. Ganz großes Kino!

Ich mag offene Enden. Hier wird mir aber zu viel Freiraum gelassen. Auch mich lässt es unbefriedigt zurück, wie ein cliffhanger. Schalten Sie nächste Woche wieder ein, wenn es heißt ... :)

Schöne Feiertage!
Kellerkind

 
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Hallo Achillus,

Diese beiden Geschichten gehören, neben nur wenigen anderen, zu den Besten, die ich im Forum gelesen habe. Und irgendwer schrieb, du spielst in deiner eigenen Liga, dem ich nur zustimmen kann.
Dem würde so sicher nicht jeder zustimmen, aber es freut mich trotzdem. Viel hängt damit zusammen, was man eben selbst gern liest. Endzeit- und Spannungsgeschichten richten sich schon eher an ein spezielles Publikum, glaube ich.

Das stimmt. Ich komme selbst eher aus dem SF. Meiner Erkenntnis nach sind die meisten Geschichten dort eher handlungsorientiert und beschäftigen sich weniger intensiv mit der Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonisten. Die Ansprüche des Lesers sind unterschiedlich.

Ich würde sehr gern beides können, also eine Ende, bei dem nicht alles ausgedeutet wird und der Leser trotzdem so einen Schlusspunkt spürt.

Eine komplette Ausdeutung hätte ich auch gar nicht erwartet. Es darf gern etwas offen bleiben. Das Ende in dieser Geschichte erfolgt aber ein wenig unerwartet. Sagen wir, der Indianer hätte vorher schon mystische Andeutungen gemacht, das könnte diese kleine Lücke vielleicht schließen.

Vieles, was diese Geschichten gut macht, habe ich hier im Forum gelernt. Lesen und Kommentieren schärft den Blick für die Techniken, die man beim Schreiben anwenden kann.

Kann ich ohne Gewissensbisse unterzeichnen. Dieses Forum hat mich deutlich vorangebracht.

Liebe Grüße

Rainer Hohn

 

Hallo Kellerkind, danke für Deine Rückmeldung zum Text.

Du schaffst es durch Sprache und Aufbau, dass ich meine Ablehnung gegen dieses Hobby beiseite schiebe und mich auf die Figuren einlasse. Auf diese Art kann Literatur Türen in fremde Welten öffnen, die man eigentlich ablehnt. Ganz großes Kino!

Das schätze ich an Geschichten aus fremden Welten auch sehr. Ein großer Anreiz beim Lesen war für mich auch immer, Neues zu entdecken. Freut mich, wenn das hier auch für Dich geklappt hat. Vielen Dank für Dein Lob.

Ich mag offene Enden. Hier wird mir aber zu viel Freiraum gelassen. Auch mich lässt es unbefriedigt zurück, wie ein cliffhanger.

Ich werde künftig versuchen, es ein wenig durchschaubarer zu machen. Diese Rückmeldung kam ja mittlerweile von mehreren Leuten.

Ich wünsche Dir eine gute Zeit zwischen den Jahren!

Gruß Achillus


Hallo Rainer,

danke, dass Du nochmal reinschaust. Ist eben eine Gratwanderung, dieses Balancieren zwischen Vagem und Definitivem. Ich werde das bei meinen zukünftigen Geschichten aber berücksichtigen.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

das ist eine gute Kurzgeschichte. Ich weiß, man soll hier keine einfachen Likes vergeben. Aber von mir bekommst du eins. Ich werde in deinen Texten noch weiter rumstöbern. Was ich zu kritisieren hätte, ist rein geschmäcklerisch: manchmal präsentierst du (stolz) dein Wissen und deine Formulierungskünste. Will sagen: weniger ist manchmal mehr. Aber mir ist allemal lieber, jemand HAT Wissen und KANN schreiben und zeigt es, als dass er seine grenzenlose Naivität schludrig daherpräsentiert.

Liebe Grüße

Prof.Dr. Tobias

 

Hey Tobias, danke für Deine Rückmeldung und das Lob zum Text. Ich lese diese Geschichte auch nach drei Jahren immer wieder gern, und glaube sie ist eine meiner besseren. Deine Kritik, was die Präsentation von Wissen und Formulierungskünsten betrifft, kann ich gut nachvollziehen.

Ich hätte dem vor einiger Zeit noch vehement widersprochen, weil ich lange Zeit davon ausging, es wäre eben auch ein essentieller Aspekt von Literatur, uns das Fremde nahezubringen. Ich mochte Moby Dick beispielsweise auch deshalb, weil dort so genau und authentisch der Walfang beschrieben wird.

Mittlerweile sehe ich das ein bisschen anders. Ich denke, Leser suchen meist keine Unterweisung in Dingen, die ihnen fremd sind. Auf diesen Text bezogen: Der Leser wünscht sich kein Jagd-Manual. Wer das sucht, macht einen Jagdschein.

Also alles in allem, versuche ich das zu reduzieren, obwohl es mir schwer fällt, denn ich mag das sehr. Aber ich schreibe die Texte ja nicht für mich.

Und dann die Formulierungen. Ich tendiere jetzt dazu, Geschichten in der Ich-Perspektive ein wenig schlichter zu formulieren. Einige Sätze dieser Jagdgeschichte sind schon sehr geschliffen. Da fragt man sich manchmal, weshalb die Figur sich so ausdrücken kann und ob das überhaupt in ihre Vita passt.

Schön, dass Du was zur Geschichte geschrieben hast.

Gruß Achillus

 

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