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Die Kuh im Apfelbaum
Tobi ist vom Regen aufgewacht. Die Tropfen prasseln an die Fensterscheibe, als würde jemand Erbsen dagegen werfen. Auch die Möwen machen so viel Lärm, dass Tobi sich im Bett aufsetzt und die Augen weit öffnet. Aber richtig gut sehen kann er trotzdem nicht. Alles ist grau und langweilig. Genau wie gestern. Und vorgestern. Und am Tag davor hat es sogar gedonnert und dicke Hagelkörner, groß wie Kaugummikugeln, sind ins Beet gekracht und haben Erdbeermatsch angerichtet. Dabei sind doch Sommerferien! Mama muss nicht zur Arbeit gehen und der Kindergarten ist abgeschlossen.
Tobi klettert aus dem Bett und geht zum Fenster. Die Mülltonnen sind vom Regen blitzsauber gespült und die Blumen, die die alte Frau Sander neben das Erdbeerbeet gepflanzt hat, lassen die Köpfe hängen. Sonst ist nichts los.
„Miste“, seufzt Tobi. Ferien hat er sich anders vorgestellt.
Tobi sieht sich im Zimmer um und entdeckt Berti. Richtig! Auf der Luftmatratze schläft sein bester Freund. Das hat Tobi völlig vergessen. Er kneift Berti ein bisschen in die Nase. Der brummt und dreht sich um.
„Mmmmm“, sagt Tobi, beißt sich auf die Unterlippe. Schließlich setzt sich Tobi an den Tisch, auf dem Papier und Buntstifte liegen, und denkt an Opa. Der hat nämlich bei einem Preisausschreiben mitgemacht und eine Reise gewonnen. Es war ganz einfach, hat Opa gesagt. Er hat sich zwei gleiche Fotos mit einer Landschaft angesehen und auf einem davon fehlten Kühe. Das war alles. Deswegen ist er jetzt mit Oma in den Bergen. Da wo die Luft so gut ist. Tobi atmet tief ein. Diese Luft hier mag Tobi auch sehr gerne. Sie riecht nach Wasser. Tobi denkt auch an die alte Frau Sander. Und an den Grummelmeier, der eigentlich Gronemeier heißt, aber der antwortet immer grummelig, wenn Tobi und Mama ihn grüßen. Tobi denkt auch an Doktor Blasewitsch, der jeden Tag um vier Uhr Trompete spielt und sogar an den neuen Nachbarn denkt Tobi, der in die Wohnung von Vader Schnaps eingezogen ist, weil Vader Schnaps gestorben ist und nun auf dem Friedhof wohnt. Bei Mama wohnt wenigstens Tobi. Und Tobi hat Berti. Das alles denkt Tobi. Aber jetzt rüttelt Tobi den Langschläfer erst mal wach. Sie müssen nämlich ein Preisausschreiben malen.
„Was ist ein Preisausschreiben“, fragt Berti und gähnt.
„Man guckt, was anders ist, und gewinnt eine Reise.“
„Wo guckt man?“
„Na, auf Bilder.“
„Was denn für Bilder?“
„Die malen wir doch jetzt“, sagt Tobi.
Tobi malt eine Kuh.
„Die sieht aus wie eine Maus“, bemerkt Berti und bekommt eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Er holt Mu, die auf dem Regal sitzt. „Guck mal! So sieht eine Kuh aus.“
Tobi malt eine neue Kuh.
„Komisch. Die sieht jetzt wie ein Pferd aus“, sagt Berti und wundert sich.
„So wird das nix“, sagt Tobi und Bertis Bauch grummelt. Berti hat Hunger und keine Lust zu malen.
„Was kann man gewinnen? Und wer spielt denn mit?“ Berti stellt sehr gute Fragen.
„Alle, die allein im Haus wohnen, spielen mit. Also die alte Frau Sander, der Grummelmeier, Doktor Blasewitsch und der Neue.“ Eine Reise in die Berge kann Tobi nicht versprechen. Aber er hat eine großartige Idee! Es gibt Kaffee und Kuchen zu gewinnen!
Das gefällt Berti sehr gut. Jetzt knurrt sein Magen lauter.
„Welchen Kuchen?“, fragt Berti und er zieht eine Augenbraue hoch.
„Den backen wir jetzt!“, ruft Tobi und zieht Berti am Schlafanzugärmel in die Küche.
„Psst“, sagt Tobi und legt einen Zeigefinger an seine Lippen, „Mama hat Ferien und darf lange schlafen.“
Die Kirchturmuhr in der Nachbarschaft schlägt sechsmal, als Tobi den Backofen vorheizt. Gut, dass er Opa oft beim Backen geholfen hat. Backen kann Opa besser als Oma. Die macht dafür den allerbesten Schmorbraten der Welt. Vom zarten, jungen Schmor, sagt Opa.
„Eier, Butter, Zucker, Mehl.“ Tobi schüttet mit einem Schwung alles zusammen in die Schüssel, dass es nur so staubt. „Jetzt schneit es auch noch!“, ruft er freudig. Er rührt und rührt und rührt und sein Arm tut davon schon mächtig weh.
„Achtung: Milch!“, ruft Berti und gibt einen Milchwasserfall in die Schüssel, der bis auf ihre Füße schwappt. Endlich ist alles vermischt und Berti kostet. Er schaut zur Decke hinauf und findet, dass etwas fehlt. Tobi findet das auch und guckt in den Kühlschrank.
„Was haben wir denn da? Erdbeermarmelade, Mayonnaise, ein Glas mit salzigen Pflaumen, pfui igittigitt, Ketchup …“
„Wir könnten Käse rein streuen. Dann haben wir Käsekuchen!“ Bertis Bauch knurrt zwar nicht, aber er ist ganz bestimmt hungrig. Tobi nimmt das Brett mit der Glashaube und sie zupfen den gesamten Käse in Stücke und Tobi rührt ihn unter den Teig. Berti liebt Früchte im Käsekuchen und gibt noch ein halbes Glas Erdbeermarmelade dazu. Ach was, das ganze Glas. Um an die Kuchenform zu gelangen, holt Tobi einen Stuhl. Er stellt sich auf Zehenspitzen, damit er die Kastenform im Schrank erreicht. Leider liegen alle anderen Kuchenformen obendrauf und fallen im hohen Bogen auf den Boden, dass es nur so scheppert. Wie versteinert stehen die beiden Freunde, als Mama verschlafen am Türrahmen lehnt. Ihre Haare sind hell und selbst zerzaust ganz wunderschön, findet Tobi.
„Niemand verletzt?“, fragt Mama und kratzt sich am Kopf.
„Nix passiert“, beeilt sich Tobi zu sagen und Berti sammelt schnell die Kuchenformen wieder auf.
„Ihr seid aber früh wach. Was macht ihr denn?“ Mama gähnt.
„Nichts Besonderes“, antworten die Jungen gleichzeitig.
„Backt ihr einen Kuchen?“, fragt Mama.
„Einen Preisausschreibenüberraschungskäsekuchen“, ruft Tobi.
Tobi will Mu im Hof in den Apfelbaum setzen. Denn das ist das Rätsel: Was ist anders im Hof als sonst? Der Neue wird es schwer haben, meint Berti, aber Tobi denkt, eine Kuh gehört so oder so nicht in einen Apfelbaum. Das könnte der Neue schon wissen. Tobi hat der Kuh vorsichtshalber eine rote Schleife um den Schwanz gebunden, weil die alte Frau Sander nicht mehr so gut sehen kann. Tobi klettert hoch hinauf in den Apfelbaum. Die Äste sind schon ganz dünn und Berti ganz klein geworden.
„Das reicht!“, ruft Berti, „Komm wieder runter!“ Und Tobi klettert hinunter und freut sich über all die vielen kleinen grünen Äpfel, an denen er sich vorbei hangelt. Die Jungen gehen zurück ins Haus. Sie müssen schließlich alle Zettel durch die Briefschlitze stecken, die sie geschrieben haben.
Tobi steckt den letzten Zettel durch die Postklappe in die Tür von Doktor Blasewitsch.
„So, nun haben alle den Preisausschreibenfragezettel“, sagt Tobi und ist froh. „Nix wie hoch zum Kuchen!“ In Windeseile laufen sie in die vierte Etage. Tobi wohnt mit Mama unterm Dach. Berti schnauft ordentlich, als sie in die Küche kommen. Auf dem Küchentisch steht die Kuchenform. Mama war wohl ungeduldig und hat sie schon aus dem Ofen geholt. Tobi schnüffelt am Kuchen und ist zufrieden. So muss Kuchen duften! Er dreht die Form herum und heraus plumpst … ein harter, dunkelbrauner Klotz, flach wie eine Tafel Schokolade. Berti reißt entsetzt die Augen auf! Das hat er nicht erwartet! Der sieht ja gar nicht aus wie Kuchen! Tobi holt ein Messer und versucht eine Scheibe davon abzuschneiden.
„Verflixt ist das hart!“
„Lass mich mal“, sagt Berti, greift das Messer, holt aus und sticht mit einem Ruck in den Kuchen. Nichts passiert. Die Jungen sehen sich erstaunt an. Tobi geht zur Schublade und holt den Fleischklopfer heraus. Damit haut er mit einem Rumms auf den Kuchenklotz wie Opa den Lukas, wenn er mit Tobi zur Kirmes geht. Nun liegen mindestens tausend Kuchenteile auf dem Tisch und auf dem Boden auch. Zögernd nehmen die Jungen sich jeder ein Stück.
„Gar nicht mal so lecker“, nuschelt Berti und Krümel sprühen aus seinem Mund.
„Voll scheußlich“, sagt Tobi und schluckt angewidert das winzige Bröckchen hinunter.
Da kommt Mama zur Tür herein. In den Händen hält sie einen Korb mit Erdbeeren.
„Frühstück“, sagt sie und bereitet Erdbeeren und Zwieback mit Milch zu. Dann fegt sie die Krümel vom Tisch und auch vom Boden auf und alle drei essen zufrieden ihre Schalen leer.
Der Himmel ist inzwischen hellgrau geworden. Die dicken, dunklen Regenwolken haben sich mürrisch verzogen und der Regen fällt nun in dünnen Fäden herab. Schließlich fällt er gar nicht mehr. Niemand hat beim Preisausschreiben mitgemacht.
„Vielleicht ist es zu schwer“, gibt Berti zu bedenken und zieht die Schultern zu den Ohren.
„Das ist doch babyeierleicht! Es hat noch niemals eine Kuh im Apfelbaum gesessen!“ Tobi rollt mit den Augen. Das stimmt wohl. Berti hat aber keine andere Erklärung. „Komm!“, sagt Tobi energisch und stapft die Treppen hinunter in den Hof. Berti stapft hinterher.
Tobi stellt sich vor den Apfelbaum und schaut hinauf zu den Fenstern, die Hände stemmt er auf die Hüften. Berti macht dasselbe.
„Vielleicht schlafen alle noch. Erwachsene schlafen eben viel“, gibt Berti erneut zu bedenken.
„Pfff“, sagt Tobi.
Tobi klettert auf die große Papiermülltonne, legt die Hände um seinen Mund herum und ruft: „Sehr geehrte Damen und geehrte Herren alleine im Haus! Es ist Zeit für ein Preisausschreiben! Lest die Zettel, die in eurem Flur liegen und macht mit! Ihr könnt einen tollen Preis gewinnen!“ Das alles sagt er drei Mal hintereinander.
„Aber wir haben doch gar keinen Kuchen“, flüstert Berti zu Tobi hinauf. Niemand rührt sich hinter den Fenstern. Es ist jetzt ruhig und still. Nicht einmal die Möwen meckern. Nur einmal fällt ein kleiner Apfel hinunter auf die Steine. Plopp.
„Verdampft noch mal“, schimpft Tobi und stampft mit einem Fuß auf die Mülltonne.
„Komm auch rauf“, befiehlt Tobi und Berti klettert auf die gelbe Tonne daneben. Beide trampeln nun laut auf den Tonnen herum, dass es ordentlichen Krach gibt. „Kennst du ein Lied, das wir dazu singen können?“, fragt Tobi seinen Freund.
„Ein Mülltonnenaufwecklied?“
„Ja“, sagt Tobi.
„Nein“, sagt Berti.
So trampeln sie einfach weiter und hin und wieder fallen die grünen Äpfel im Takt dazu vom Baum. Plippplopp.
Dann öffnet sich der Himmel ein klein wenig und einige Sonnenstrahlen fallen auf die beiden Jungs, die so eifrig auf den Mülltonnen tanzen. Und ein Fenster öffnet sich auch.
„Seid ihr jetzt völlig übergeschnappt?!“ Der Grummelmeier hängt mit dem gesamten Oberkörper heraus, fuchtelt mit einem Holzlöffel herum und Berti fürchtet, er würde gleich wie die Äpfel auf die Steine plumpsen. Im ersten Stock geht das nächste Fenster auf und der Neue guckt heraus. Seine Haare sind zerzaust wie die von Tobis Mama heute früh und er lächelt. Berti ist beruhigt.
„Das klappt ja prima. Komm Berti, wir tanzen weiter!“ Und die Jungen trampeln wie verrückt. Einer auf der blauen Papier-, der andere auf der gelben Plastiktonne. Sie haben jetzt viel Spaß und springen sogar waghalsig. Die alte Frau Sander im Erdgeschoss ruckelt aufgeregt an ihrem Fenstergriff und schließlich ruft sie laut durch das offene Fenster: „Ich hab’s! Ich weiß es! Es ist die Kuh im Apfelbaum! Die Kuh mit der roten Schleife. Die hat noch nie dort oben gesessen! Ich hab’ gewonnen! Hurra!“ Die alte Frau Sander hat also die Preisausschreibenkarte in ihrem Flur gefunden. Und Doktor Blasewitsch zückt seine Trompete. „Das soll doch jetzt aber kein Regentanz werden, hoffe ich!“ Und dann spielt er laut in den Hof hinein, obwohl es nicht mal mittags ist.
Tobi ruft so laut er kann: „An alle, die die Kuh im Apfelbaum auch sehen: Bei Tobi und Mama Turner gibt es dafür heute um vier Uhr Kaffee und Kuchen. Ihr sollt kommen. Das ist nämlich der Preis!“
Pünktlich um vier Uhr stehen Doktor Blasewitsch, Grummelmeier, die alte Frau Sander und der Neue vor Tobis Wohnungstür. Alle fünf strahlen um die Wette. Nein, der Grummelmeier grummelt. Doktor Blasewitsch hat seine Trompete mitgebracht. Grummelmeier zwei abgeknickte Blumen, die alte Frau Sander eine Glasschale mit einem Berg geschlagener Sahne und der Neue hat nichts mitgebracht. Auf der Terrasse ist der Tisch gedeckt. Es sieht aus, als hätte jemand Geburtstag. Das Geschirr steht auf einer Tischdecke und in der Mitte ein Erdbeerkuchen. Den hat Mama gebacken, als die Jungen mit ihrem Tanz auf den Mülltonnen die Sonne herausgelockt haben. Sie nimmt Herrn Grummelmeier die Blumen aus der Hand und stellt sie in eine Vase neben den Kuchen.
„Sie gestatten“, sagt Doktor Blasewitsch. Dann macht er sich sehr lang und spielt seine Trompete, dass sie über alle Dächer der Stadt zu hören ist. Denn es ist schließlich vier Uhr. Tobi und Berti stopfen sich währenddessen mit Kuchen und Sahne voll.
„Das haben wir gut gemacht“, sagt Berti wohl, aber so genau kann Tobi das bei dem Krach nicht verstehen.