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Die nackte Wahrheit, als Satire getarnt

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31.01.2002
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Die nackte Wahrheit, als Satire getarnt

Coole und hippe Menschen aus Prenzlauer Berg waren heute bei uns zu Besuch. Sie kamen den weiten Weg, quer durch die Stadt, bis zu uns nach Dahlem. Danach sagte mein Mann – nennen wir ihn Rasmus, darüber wird er sich bestimmt freuen: "Ich brauche eine neue, coole Brille."

Um zu verstehen, dass es sich hierbei um eine Begegnung fast internationalen Charakters handelte, muss man die Berliner Bezirke kennen. Das gehört einfach zur Allgemeinbildung. Muss ich jetzt doch mal sagen. Aber ich will gnädig sein. Ausnahmsweise. Also gut aufpassen und merken:
Prenzlauer Berg liegt im Osten und ist hipp und cool. Über Prenzlauer Berg wird im Fernsehen berichtet. Prenzlauer Berg liegt dicht bei Mitte. Dort gibt es auch die ganz coolen, hippen Läden und Start-ups. Web, Werbung, Musik, Mode, Kunst, Fotografie, Bars, Tanzschuppen und so weiter – die ganze Gegend ist eine einzige Szene.
Dahlem dagegen liegt im Westen und ist reich und spießig, gespickt mit reichen, spießigen Ökos. Aber hauptsächlich wohnen in Dahlem viele erfolgreiche, politisch völlig unkorrekte Menschen, die ihre sauerverdiente Kohle in absurde Mieten und Z3-Leasing-Verträge stecken und dich bei MeyerBeck rüde anrempeln. Dahlem bewohnen auch die Menschen, die unheimlich viel Geld damit verdienen, dass Prenzlauer Berg so hipp und cool bleibt wie es ist. Wie das aber geht, verrate ich nicht, bin ja nicht blöd. Sonst ist eigentlich nichts Tolles an Dahlem, außer dass ich da wohne.

Ich komme aus Berlin. Das hat einen großen Vorteil. Erstens kann ich schnell widersprechen und zweitens habe ich immer Recht. Das sind schon zwei Vorteile. Ein weiterer Vorteil ist, dass mich als Kind auf dem Ponyhof in Senden bei Münster anfangs keiner leiden konnte, weil ich aus Berlin kam. Das führte dazu, dass ich mir eine so große Klappe zulegte, mit der ich dann alle anderen Kinder bei lebendigem Leibe verschlang. So verschaffte ich mir Respekt.
Auf "Ost oder West?" – die dumme Frage dummer westdeutscher Kinder – antwortete ich immer: "Ost." Und wer den Witz verstand, wurde mein Freund.

Als echte Berlinerin bin ich von Geburt an cool. Ich kann einfach nichts dagegen tun. Jeden Morgen spüre ich das. Ich stehe auf, gehe auf meinen sonnigen Dahlemer Balkon, strecke die Arme aus und rufe: "Mein Gott, bin ich cool!"
Image-Fragen – wie zum Beispiel in welchem Bezirk die wirklich coolen und hippen Leute wohnen, in welche Szene-Lokale man gehen muss, ob gerade Rote-Kreuz-T-Shirts oder Nietengürtel in sind oder ob ich mir schon die neueste Video-Installation samt Ullrichs "Mit dem Rücken zur Kunst" reingezogen habe - sind für mich irrelevant. Das sind Fragen für Zugereiste, mal ehrlich. Die müssen sich alle im Prenzlauer Berg einnisten, auf Partys rumtreiben, wie MTV-Moderatoren aussehen, damit sie keiner als die Dorftrottel entlarvt, die sie in Wahrheit sind.

Mein Mann ist auch ein Zugereister. Ich wollte unbedingt einen eigenen Zugereisten, schon als ich ganz klein war.
"Mit denen kannste machen, was du willst", steckte mir meine Mutter. Sie hatte leider einen Berliner abbekommen.
"War Fasching", sagte sie immer wieder zur Entschuldigung, aber sie wusste, das war unverzeihlich.
Aber dann, nachdem sie ein Jahr lang die Messer wetzten, einander mit leeren Revolvern bedrohten und sich gegenseitig heimlich abgeschnittene Zehnägel in die Zigaretten steckten, tauschte meine Mutter meinen Vater gegen einen Jura-Studenten aus Essen ein. Das war dann vielleicht ein Leben!

Als Zugereister hat mein Mann jedoch ein Image-Problem. Sobald wir auf hippe, coole andere Zugereiste treffen, beschäftigt ihn die Frage, wie hipp und cool wir eigentlich sind.
"Wie kommst du denn nach Dahlem?" fragte der hippe und coole Typ aus Prenzlauer Berg.
Und mein Mann sagte: "Damals war ja kaum eine Wohnung frei, und wir haben halt die genommen, und jetzt sind wir ganz froh hier, so im Grünen und so, war irgendwie Zufall."
"Na ja, ich bin ja erst zwei Jahre hier", räumte der hippe und coole Zugereiste ein.
Ich lächelte. Ein Berlin-Anfänger. Er war auch wirklich besonders cool, trug die obligate FDJ-blaue Trainingsjacke von 1975 mit zwei Streifen, weiße Jeans mit Schlag und hatte diese niedliche Wuschel-Frisur, so süß, gerade aus dem Bett gekrochen.
Seine Freundin hieß Lea, aus Göttingen, Sozialpädagogik im 9. Semester, und sah aus wie eine Kopie von Charlotte Roche, plus Puma-Trainings-Tasche, quer über die Brust, versteht sich. Aber sie sagte nicht viel, insofern konnte ich nicht feststellen, wie hipp und cool sie tatsächlich war.
"Und du, wo kommst du her?" fragte mich der Anfänger.
"Ich komm aus Berlin", sagte ich. Wie gut kannte ich die Reaktion, die folgte. Denn sobald ich die Maske gespielter Toleranz fallen lasse und mich zu erkennen gebe, bekommen sie alle Angst, die Zugereisten. Zu Recht. Denn ich bin die Inkarnation des Bösen. Ich habe die Mauer und ein altsprachliches Gymnasium überlebt, ich habe die Schlachten am 1. Mai erfunden und mit anderen coolen Berlinern den Eingang meiner Schule nachts zugemauert (aber das ist eine andere Geschichte). Ich habe in einer Punk-Band gespielt, als die Zugereisten sich noch die Pullover in die Bundfaltenhosen steckten und Level42, Toto und Opus hörten. Ich habe Häuser besetzt, mir die Haare grün, rosa, blau, orange gefärbt, als Westdeutschland noch Farrah-Fawcett-Fönwelle trug, Hanna Granate mit Tomaten beworfen, die Chillipeppers Backstage nur mit Socken gesehen, neben Techno, Trance auch House erfunden und mich zum ersten Video-DJ ernannt. Und das war alles ganz selbstverständlich. Ohne dass ich mich anstrengen musste. Denn ich bin aus Berlin.

"Bezeichne mich nicht als Zugereisten!" sagt mein Mann.
"Glotz mir nicht über die Schulter", sage ich und tippe unbeeindruckt weiter. Aber er hat Recht. Nach elf Jahren in dieser Stadt und nach acht Jahren an meiner Seite hätte er eigentlich eine Beförderung verdient.
"Isch bin ein Börlinnar", sagt er plötzlich und erinnert mich frappant an - na an wen wohl?
"Meinetwegen", sage ich und frage mich, ob ich ihn jetzt umtauschen muss.

[Beitrag editiert von: Endorphina am 31.03.2002 um 01:05]

 

komisch, warum schreibt keiner eine kritik?! ich fand die gechichte wirklich gut, nur wollte ich nicht als erster was sagen, da ich mich in berlin und was eure macken angeht, kaum auskenne.

trotzdem fand ich die Kg witzig und vor allem der stil hat mir seehr gut gefallen. lustig wars auch ziemlich, aber wie gesagt, eineiges verstand ich ganz einfach nicht, deswegen wollte ich auch ncht kritisieren...aber wenns so lange keine antwort gibt, dann springe ich gerne ein.

achja, ist zwar gut, aber mE macht selbst der titel aus deiner KG noch keine satire ;)

liebe grüße,
franzl

 

Hallo Endorphina,
die Geschichte liest sich sehr gut, aber ich habe trotzdem meine Probleme damit und mit der kritik gezögert.
1. wie bei franzl, so enteht auch bei mir als Nicht-Berliner das Gefühl diverse Aussagen nicht richtig einordnen zu können. (.. Ist das nun so, oder ist das satirisch gemeint?)
2. Ich mag eigentlich Berliner, aber aufgrund der Darstellungsart (übertrieben selbstbewußt, selbstherrlich, arrogant)entwickele ich eine Antipathie gegen die Protagonistin und das widerum ist der Satire nicht zuträglich.
Ich weiß ja, dass Berliner ne freche Schnauze haben, aba dat wat die schreebt jeht ehnem janz schön uffe Senkel.
Aber das ist eine sehr subjektive Empfindung, vielleicht weichen meine von denen andere Leser ab.

Gruß vom querkopp

 

Ick hab mir dette mal uffe Zunge zerjehen lassen und finde det nich schlecht kleene...diesa dünkel , wa ???

Nee, im Ernst ich konnte mirs bildlich vorstellen wie die armen zugereisten versuchen zu konkurrieren...*HEHEHE* :D :D

Lord

 

Ja, ich weiß, is eigentlich keine richtige Satire, im streng genommenen Sinne, obwohl ich eigentlich gar keine Ahnung habe, wie es um die Definition von Satire bestellt ist. Dachte mir nur so, als ich den Text las: is irgendwie böse, aber ernst kann man das ja auch nicht nehmen.

Wären vielleicht die Kategorien Seltsam oder Humor passender?

Und Recht haste, muss mir noch mal einen vaanünftigen Titel überlegen.

Freut mich, dass ich euch unterhalten konnte! :)

Viele Grüße,
Endorphina

 

Hallo Endorphina,

bezüglich der Frage, was Satire ist, habe ich in Hendek's Geschichte: "Der Deutsche Paß" mal etwas ausführlicher eine Definition dargestellt. Hieraus zitiere ich mal kurz:

"An keine bestimmte literarische Form gebundene Gattung, die in geistreicher Sprache, Torheiten und Laster verhöhnt, mißbilligende Kritik übt und oft in Gestalt von Roman, Gedicht oder auch Drama auftritt."(Knaurs Lexikon der Weltliteratur 1992)

"Dichtungsgattung, die spöttisch-witzig Torheiten und Laster der Menschen geißelt." (Volks-Brockhaus 1964)

Noch gründlicher, weil auch wesentlich deutlicher und differenzierter ist diese Definition von Lisa Westermann "Was ist Satire" gefunden unter www.uni-muenster.de/Soziologie/Seminare/Zensur/texte/satire.htm

"Zum Kern der Satire gehört der Angriff. Ursache sind die -- nach Meinung des jeweiligen Autors -- anklagenswerten Mißstände dieser Welt. Mittels Satire können Personen oder Zustände angeprangert, kann an ihnen Kritik geübt werden. Dieser Realitätsbezug ist für die Satire charakteristisch. Gleichzeitig kann sie auch ein Idealbild beinhalten, eine Utopie, wie es sein sollte. Dabei arbeitet die Satire mit Verfremdung. Sie gibt die Objekte ihrer Kritik durch Verzerrung und Übertreibung mit beißender Ironie oder Spott der Lächerlichkeit preis. Um Fehler und Mängel des Angegriffenen deutlich zu machen, schafft der Satiriker ungewohnte Sichtweisen, verbindet was eigentlich nicht zusammengehört oder unterzieht sein Opfer einer ungewöhnlichen Behandlung.Durch diese indirekte Darstellung, bei der das Gemeinte immer dahinterliegt, entsteht Distanz zum Gegenstand, die Komik von Satire, was sie von schlichter Kritik unterscheidet. Gleichzeitig hebt sie sich durch die Schärfe ihres Angriffs auch von bloßer Komik ab."

Gruß
lakita

[Beitrag editiert von: lakita am 06.04.2002 um 19:09]

 

Ich stehe auf, gehe auf meinen sonnigen Dahlemer Balkon, strecke die Arme aus und rufe: "Mein Gott, bin ich cool!"

Hi Endorphina!!!

Hab da echt lachen müssen, ich als Schwabe meiner Heimat :D

Ich find den Text klasse, echt witzig! Kann man sich echt gut vorstellen was ihr da oben alles treibt ;) ... Ich weiß jetzt auch, FALLS ich jemals nach Berlin kommen werde, werde ich auf vorsichtigem Fuße euer heilig Boden betreten... Süß! echt! hihi

Grialse
Korina

[Beitrag editiert von: Korina am 10.04.2002 um 15:25]

 

Du schreibst mir aus der SEELE!

Liebe und nun zufriedene Grüße von einer zugereisten Ex-Münsteranerin (ich reite aber nicht, ehrlich!!!), die fast im Prenzlberg wohnt, aber dann doch hintern Mauerpark auf Wedding-Seite gerutscht ist und Hip-Sein furchtbar anstrengend findet :))

 

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