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Die nackte Wahrheit, als Satire getarnt
Coole und hippe Menschen aus Prenzlauer Berg waren heute bei uns zu Besuch. Sie kamen den weiten Weg, quer durch die Stadt, bis zu uns nach Dahlem. Danach sagte mein Mann – nennen wir ihn Rasmus, darüber wird er sich bestimmt freuen: "Ich brauche eine neue, coole Brille."
Um zu verstehen, dass es sich hierbei um eine Begegnung fast internationalen Charakters handelte, muss man die Berliner Bezirke kennen. Das gehört einfach zur Allgemeinbildung. Muss ich jetzt doch mal sagen. Aber ich will gnädig sein. Ausnahmsweise. Also gut aufpassen und merken:
Prenzlauer Berg liegt im Osten und ist hipp und cool. Über Prenzlauer Berg wird im Fernsehen berichtet. Prenzlauer Berg liegt dicht bei Mitte. Dort gibt es auch die ganz coolen, hippen Läden und Start-ups. Web, Werbung, Musik, Mode, Kunst, Fotografie, Bars, Tanzschuppen und so weiter – die ganze Gegend ist eine einzige Szene.
Dahlem dagegen liegt im Westen und ist reich und spießig, gespickt mit reichen, spießigen Ökos. Aber hauptsächlich wohnen in Dahlem viele erfolgreiche, politisch völlig unkorrekte Menschen, die ihre sauerverdiente Kohle in absurde Mieten und Z3-Leasing-Verträge stecken und dich bei MeyerBeck rüde anrempeln. Dahlem bewohnen auch die Menschen, die unheimlich viel Geld damit verdienen, dass Prenzlauer Berg so hipp und cool bleibt wie es ist. Wie das aber geht, verrate ich nicht, bin ja nicht blöd. Sonst ist eigentlich nichts Tolles an Dahlem, außer dass ich da wohne.
Ich komme aus Berlin. Das hat einen großen Vorteil. Erstens kann ich schnell widersprechen und zweitens habe ich immer Recht. Das sind schon zwei Vorteile. Ein weiterer Vorteil ist, dass mich als Kind auf dem Ponyhof in Senden bei Münster anfangs keiner leiden konnte, weil ich aus Berlin kam. Das führte dazu, dass ich mir eine so große Klappe zulegte, mit der ich dann alle anderen Kinder bei lebendigem Leibe verschlang. So verschaffte ich mir Respekt.
Auf "Ost oder West?" – die dumme Frage dummer westdeutscher Kinder – antwortete ich immer: "Ost." Und wer den Witz verstand, wurde mein Freund.
Als echte Berlinerin bin ich von Geburt an cool. Ich kann einfach nichts dagegen tun. Jeden Morgen spüre ich das. Ich stehe auf, gehe auf meinen sonnigen Dahlemer Balkon, strecke die Arme aus und rufe: "Mein Gott, bin ich cool!"
Image-Fragen – wie zum Beispiel in welchem Bezirk die wirklich coolen und hippen Leute wohnen, in welche Szene-Lokale man gehen muss, ob gerade Rote-Kreuz-T-Shirts oder Nietengürtel in sind oder ob ich mir schon die neueste Video-Installation samt Ullrichs "Mit dem Rücken zur Kunst" reingezogen habe - sind für mich irrelevant. Das sind Fragen für Zugereiste, mal ehrlich. Die müssen sich alle im Prenzlauer Berg einnisten, auf Partys rumtreiben, wie MTV-Moderatoren aussehen, damit sie keiner als die Dorftrottel entlarvt, die sie in Wahrheit sind.
Mein Mann ist auch ein Zugereister. Ich wollte unbedingt einen eigenen Zugereisten, schon als ich ganz klein war.
"Mit denen kannste machen, was du willst", steckte mir meine Mutter. Sie hatte leider einen Berliner abbekommen.
"War Fasching", sagte sie immer wieder zur Entschuldigung, aber sie wusste, das war unverzeihlich.
Aber dann, nachdem sie ein Jahr lang die Messer wetzten, einander mit leeren Revolvern bedrohten und sich gegenseitig heimlich abgeschnittene Zehnägel in die Zigaretten steckten, tauschte meine Mutter meinen Vater gegen einen Jura-Studenten aus Essen ein. Das war dann vielleicht ein Leben!
Als Zugereister hat mein Mann jedoch ein Image-Problem. Sobald wir auf hippe, coole andere Zugereiste treffen, beschäftigt ihn die Frage, wie hipp und cool wir eigentlich sind.
"Wie kommst du denn nach Dahlem?" fragte der hippe und coole Typ aus Prenzlauer Berg.
Und mein Mann sagte: "Damals war ja kaum eine Wohnung frei, und wir haben halt die genommen, und jetzt sind wir ganz froh hier, so im Grünen und so, war irgendwie Zufall."
"Na ja, ich bin ja erst zwei Jahre hier", räumte der hippe und coole Zugereiste ein.
Ich lächelte. Ein Berlin-Anfänger. Er war auch wirklich besonders cool, trug die obligate FDJ-blaue Trainingsjacke von 1975 mit zwei Streifen, weiße Jeans mit Schlag und hatte diese niedliche Wuschel-Frisur, so süß, gerade aus dem Bett gekrochen.
Seine Freundin hieß Lea, aus Göttingen, Sozialpädagogik im 9. Semester, und sah aus wie eine Kopie von Charlotte Roche, plus Puma-Trainings-Tasche, quer über die Brust, versteht sich. Aber sie sagte nicht viel, insofern konnte ich nicht feststellen, wie hipp und cool sie tatsächlich war.
"Und du, wo kommst du her?" fragte mich der Anfänger.
"Ich komm aus Berlin", sagte ich. Wie gut kannte ich die Reaktion, die folgte. Denn sobald ich die Maske gespielter Toleranz fallen lasse und mich zu erkennen gebe, bekommen sie alle Angst, die Zugereisten. Zu Recht. Denn ich bin die Inkarnation des Bösen. Ich habe die Mauer und ein altsprachliches Gymnasium überlebt, ich habe die Schlachten am 1. Mai erfunden und mit anderen coolen Berlinern den Eingang meiner Schule nachts zugemauert (aber das ist eine andere Geschichte). Ich habe in einer Punk-Band gespielt, als die Zugereisten sich noch die Pullover in die Bundfaltenhosen steckten und Level42, Toto und Opus hörten. Ich habe Häuser besetzt, mir die Haare grün, rosa, blau, orange gefärbt, als Westdeutschland noch Farrah-Fawcett-Fönwelle trug, Hanna Granate mit Tomaten beworfen, die Chillipeppers Backstage nur mit Socken gesehen, neben Techno, Trance auch House erfunden und mich zum ersten Video-DJ ernannt. Und das war alles ganz selbstverständlich. Ohne dass ich mich anstrengen musste. Denn ich bin aus Berlin.
"Bezeichne mich nicht als Zugereisten!" sagt mein Mann.
"Glotz mir nicht über die Schulter", sage ich und tippe unbeeindruckt weiter. Aber er hat Recht. Nach elf Jahren in dieser Stadt und nach acht Jahren an meiner Seite hätte er eigentlich eine Beförderung verdient.
"Isch bin ein Börlinnar", sagt er plötzlich und erinnert mich frappant an - na an wen wohl?
"Meinetwegen", sage ich und frage mich, ob ich ihn jetzt umtauschen muss.
[Beitrag editiert von: Endorphina am 31.03.2002 um 01:05]