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Die Stunde des Bären

Seniors
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08.07.2012
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Die Stunde des Bären

Arne Hagner stand am Fenster und starrte durch die regennassen Scheiben auf den Hof.
»Seit wann?«, fragte er. Im Lautsprecher des Telefons knackte es, dann hörte er Waller sagen: »Schon ’ne ganze Weile. Besser, du beeilst dich!«
Er legte auf, schob das Telefon in die Hosentasche. Im Hof trommelte der Regen auf die Dachpappe der heruntergekommenen Garagen. Hagner betrachtete die im Schein einer Straßenlaterne schimmernden Wasserlachen, die schmutzigen Fassaden, das Graffiti an der Brandmauer gegenüber. Wedding sucks.
Sein Sakko hing über der Stuhllehne. Er zog es an, klappte den Laptop zu. Holte Waffe und Magazin aus dem Wandtresor, lud die Pistole und steckte sie in das Gürtelholster. Ein Reißen in der linken Schulter, als er vor dem Kleiderschrank stand und nach seinem Mantel griff. Dieser Idiot gestern im Red Crane. Die Typen glaubten nicht, dass ein Mann, der dreißig Jahre älter war, ihnen die Fresse polieren konnte.
Hagner zog den Mantel an, schloss die Tür des Schranks und nahm seine Lederhandschuhe vom Schreibtisch.
Das Knacken im Telefon vorhin. Zwanzig Jahre waren viel Zeit, um sich Feinde zu machen. Schwierig, da den Überblick zu behalten. Schwierig insbesondere, weil Paranoia einem in diesem Job die Haut retten konnte.
Er löschte das Licht, verließ das Büro, trat in den Hof. Ein Geruch von Katzenpisse und faulendem Laub. Er ging an umgekippten Müllcontainern vorbei. Im Durchgang, der auf die Straße führte, hallte der Klang seiner Schritte wider. Während er durch die Sprengelstraße zu seinem Wagen lief, drehte er sich ein paar Mal um und sah über die Schulter.
Der Feind. Das war der Mann dort hinten, der an der Straßenecke stand und auf sein Handy schaute. Der Feind war der Kerl, dem er seit einer Woche in der U-Bahnstation begegnete. Irgendwann in den letzten Jahren hatte Hagner begonnen, den Feind hinter dem Feind zu sehen. Zeit, mit all dem Schluss zu machen.
Er blieb vor seinem schwarzen Kombi stehen, hielt inne. Das waren nicht die Neunziger. Heute knackte es nicht mehr in der Leitung, wenn ein Anschluss abgehört wurde. Seine Instinkte waren Intuitionen einer Generation, die ausgedient hatte.
Hagner startete und der Audi setzte sich schwerfällig in Bewegung. Vor den Scheinwerfern sprühte der Herbstregen. Die Leuchtziffern auf dem Borddisplay sprangen um, zweiundzwanzig Uhr. Im RC stand jetzt Jenny hinter dem Tresen. »Keine Drinks für die Security«, hatte sie vor zwei Wochen gesagt und ihm einen Wodka Soda rübergeschoben. »Ex-Bulle, hab’ ich gehört.« Hagner hatte in den Drink gestarrt und geschwiegen. Ex-Soldat, Ex-Bulle, Ex-Ehemann. Das Präfix beschrieb sein Leben.
Die fleckigen Häuserwände des Sparrplatz-Quartiers zogen vorbei. Lynarstraße Ecke Tegler stand Edim, wie gewöhnlich.
Hagner ließ den Wagen in einer Einfahrt ausrollen, stellte den Motor ab und stieg aus. Er schlug den Mantelkragen hoch, ging langsam über die Straße, rüber zu Edim. Etwas weiter die Lynar runter, drückte sich eine Gestalt in das Halbdunkel eines Hauseingangs.
»N’abend, Arne!« Edim hatte die Kapuze ins Gesicht gezogen. Mit hochgezogenen Schultern stand er unter einem Balkonvorsprung im Nieselregen.
»Draußen, bei dem Wetter!«
»Muss ja.«
Hagner nickte, zog ein paar zerknitterte Scheine aus der Manteltasche und reichte sie Edim.
»Wie läuft’s mit dem Typen vom Amt?«
»Der is okay.« Edim nahm das Geld und drückte Hagner ein grünes Plastikpäckchen in die Hand. »Bin einmal in der Woche da. Wir quatschen, was so läuft bei mir. Macht keinen Stress, der Mann.«
»Hm.«
»Gut an der Sache is«, sagte Edim und scharrte mit dem Schuh auf dem Pflaster, »dass ich jetzt bisschen ruhiger bin. Häufiger zu Haus. Bei Ela und dem Kleinen.«
»Gut«, sagte Hagner. »Das ist gut.«
Edim zuckte die Schultern. »Die Jungs kotzen. Weil ich nicht mehr so oft mit ihnen rumziehe. Aber Ela is froh.«
Die beiden schwiegen einen Moment lang.
»Da hinten lungert ein Typ im Hauseingang«, sagte Hagner dann. »Dein Backup?«
»Schön wär’s.« Edim schniefte. »Heißt Mizu, der Scheißkerl. Is einer von Onkel Angelos Leuten.«
»Onkel Angelo will den Kiez übernehmen?«
Edim nickte. »Verkauft ’ne Menge billiges Zeug, der Penner.«
Hagner grüßte zum Abschied. Er schlug den Weg zu seinem Wagen ein, doch dann bog er ab, ging ein Stück die Straße runter. Kurz bevor er Mizu erreichte, öffnete er seinen Mantel und zog die Waffe. Mizu starrte ihn an. Der erste Schlag traf ihn über der linken Augenbraue. Hagner hatte ihm den Verschluss der Waffe gegen die Schläfe geknallt und nun stieß er noch einmal mit der Mündung des Laufs zu. Er rammte sie gegen das Brustbein, unter Mizus Steppmantel knackte es. Er prallte gegen den Hauseingang und kippte um.
»Sag Angelo einen Gruß von Hagner. Verpisst euch aus meinem Kiez.«
Hagner steckte die Waffe zurück. Einen Moment lang betrachtete er Mizu, dann drehte er sich um und ging zu seinem Wagen. Abgasgeruch. Stadtregen. Herbstfäulnis.

Hagner steuerte den Wagen durch die Lynarstraße, dann die Müller entlang und weiter in die Chausseestraße. Vor seinen Augen flimmerten grüne, gelbe und rote Reflexionen von Rücklichtern und Leuchtreklamen auf dem nassen Asphalt. Beim Red Crane war nicht viel los. Er fuhr den Kombi durch die Hofeinfahrt und stellte ihn neben dem Chrysler Touring von Yanzhou ab. Ihr gehörte das Bordell.
Er holte ein Päckchen Zigaretten aus dem Mantel, steckte sich eine Kippe an und klopfte an die Stahltür des Hintereingangs. Die Tür wurde von Basara geöffnet. Er nickte. Hagner ging durch einen von blassem LED-Licht beleuchteten Korridor und betrat die Lounge. Vier oder fünf Mädchen saßen im rötlichen Dämmer und unterhielten sich mit Gästen. Ansonsten das übliche Programm. Ambient Jazz, das Panel wabernder Nachtclublichter, ein Softcore-Movie auf dem Großbildmonitor an der Wand, das niemand zu beachten schien.
»Kein Privatleben, wie?«, sagte Jenny und stellte ihm einen Ascher hin, als er sich auf einen Hocker an der Bar setzte.
»Ich schau nur kurz rein«, sagte Hagner und bestellte einen Drink.
Jenny warf ihm einen Blick zu, drehte sich um und nahm ein Glas aus dem Regal.
»Yanzhou ist oben, falls du sie sprechen willst«, sagte sie, während sie Wodka eingoss.
»Vielleicht später«, sagte er und zog an seiner Zigarette.
Jenny schob ihm den Wodka über den Tresen. Hagner trank, stand auf, machte ein paar Schritte durch den Raum, zog den Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. »Noch einen«, sagte er, als er sich wieder an die Bar setzte. Er drückte die Zigarette aus und sah Jenny an.
»N’en guten Tag gehabt?«, sagte sie und goss ihm den zweiten Drink ein. Hagner winkte ab, sah sich um. In einem düsteren Winkel des Clubs saßen zwei Mädchen auf dem Sofa und sprachen mit einem betrunkenen Freier in Business-Klamotten. Der Mann hatte den Hemdkragen geöffnet, die Krawatte gelockert und sah fertig aus.
Jenny beobachtete Hagner. Sie öffnete den Mund, doch dann schwieg sie. Hagner leerte das Glas, stand auf und durchquerte die Lounge. Er trat an den Tisch zu den Mädchen. Sie schauten auf, unterbrachen das Gespräch, nur der Business-Typ redete weiter. Hagner betrachtete die beiden Mädchen. »Ich zahle für zwei Stunden«, sagte er zu der einen. Sie war brünett und trug einen ausgefransten Pixie Cut. »Scheiße«, meldete sich der Business-Typ. »Wir unterhalten uns gerade. Was quatschst’n du hier rein?«
»Wie heißt du?«, fragte Hagner die Dunkelhaarige.
»Dana«, sagte sie, lächelte und stand auf. Der Business-Typ schwieg.
In diesem Moment trat Jenny von hinten an Hagner heran. Sie fasste ihn am Ellbogen und sagte leise: »Kann ich dich kurz sprechen?«
Hagner drehte sich um und ging mit Jenny zurück zur Bar.
»Was’n mit dir los«, sagte sie. »Wenn Yanzhou hört, dass du unsere Mädchen vögelst, wird Basara dir den Schädel einschlagen.«
»Bin privat hier. Als Gast.«
Jenny schüttelte den Kopf. »Die Security rührt die Girls nicht an, das weißt du.«
Hagner nickte, drehte sich um und schaute zurück. Dana hatte sich gesetzt und sprach wieder mit dem Business-Typen.
»Ich werd gehen«, sagte Hagner.
»Willste jetzt fahren?«
Er nickte. »Is nicht weit.«
»Ich mach dir einen Kaffee. Setz dich mal da rüber.«
Hagner ging durch die Lounge und ließ sich in der Nähe eines großen Aquariums in den Clubsessel einer Sitzgruppe fallen. Er rieb sich Augen und Stirn, als Jenny etwas später einen Espresso auf den Kaffeetisch stellte und sich zu ihm setzte.
»Bist ein bisschen von der Rolle, oder?«
Hagner zuckte die Schultern. »War ein komischer Tag.«
»Vielleicht wird das Ende gut.«
»Na, das Ende kenn ich schon.«
»Ach ja?«
Hagner beugte sich vor, nahm den Löffel und rührte in seinem Espresso.
»Geht um meine Frau. Ex-Frau.«
Er trank, stellte die Tasse ab und ließ sich zurücksinken.
»Sie sitzt beim Waller in der Dorotheenstraße und schießt sich mit Bourbon ab.«
»Und du fährst sie nach Haus?«
Hagner nickte.
Jenny drehte sich um, schaute zur Bar und winkte Reni, einem der Callgirls, die am Tresen stand. »Bin gleich wieder da.« Hagner beobachtete, wie Jenny zur Bar ging und mit Reni sprach. Sie trat hinter den Tresen und stellte Gläser und eine Flasche Martini auf ein Tablett. Hagner steckte sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. Sein Blick schweifte durch den Raum, glitt über die Gesichter der Mädchen und der Gäste, verfolgte die Schwaden des Zigarettenrauchs, die rötlich angestrahlt zur Decke aufstiegen. Im Aquarium, das neben ihm auf einem Sockel stand, perlten Luftblasen zwischen Wasserpflanzen aus einer Muschel. Hagner betrachtete das Wogen der Pflanzen, betrachtete die unter der Wasseroberfläche schwebenden Fische. Ihm fiel das Gezappel eines orangefarbenen Salmlers auf. Die Schwimmblase des Fischs war verletzt. Mit zuckenden Bewegungen arbeitete er sich einige Sekunden lang nach oben, um dann entkräftet auf den Kiesgrund zurückzusinken. In merkwürdiger Schräglage verharrte der Salmler ein paar Augenblicke wie in Totenstarre und kämpfte sich dann erneut mühsam aufwärts zu den anderen Fischen des kleinen Schwarms. Dann begann der Zyklus von Neuem. Hagner rauchte und beobachtete das Auf und Ab des winzigen Fisches eine Weile lang.
Jenny setzte sich wieder zu ihm. »Danke noch mal für gestern«, sagte sie.
»Hm?«
»Manche Typen kapieren nicht, dass ich nur hinter der Bar stehe.«
Hagner sah sie an und nickte. Er drückte seine Zigarette aus. »Der wollte nicht lockerlassen, wie?«
Jenny schüttelte den Kopf. »Hatte mich schon den ganzen Abend auf dem Kieker. Quatschte ’ne Menge blödes Zeug.«
Die beiden schwiegen eine Weile. »Ich finde ja, dass du irgendwie nicht ganz zu diesem Laden passt«, sagte Jenny schließlich.
»Und warum nicht?«
Jenny strich sich durchs Haar. »Na, weil …« Sie hielt inne. »Also erst mal wegen deinem Alter. Ich mein, der Job is was für junge Kerle, oder?«
Hagner zuckte die Schultern.
»Und außerdem glaub ich«, fuhr sie fort, »dass du mehr draufhast, als besoffenen Wichsern den Arm zu brechen.«
»Is nur ein Nebenjob«, sagte Hagner. Jenny nickte.
»Und du«, sagte Hagner. »Du bist noch jung. Was machst du so in deinem Nicht-Puff-Leben?«
»Ich studiere Mathematik an der FU«, sagte Jenny und sah Hagner an. Hagner zog die Brauen hoch. Jenny lachte. »Scheiße, nein. Ich jobbe bei Edeka und manchmal helfe ich einer Freundin auf dem Flohmarkt.«
Hagner lachte kurz und nickte. »Verstehe.«
Jenny schaute auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Elf durch«, sagte sie. »Ich hasse diese Stunde. Zu früh, um den Tag zu beenden. Aber zu spät, um noch irgendwas Vernünftiges draus zu machen.«
»Kenn ich gut«, sagte Hagner. »Is ’ne merkwürdige Stunde.«
»Für dich auch?«
»Is ’ne Ewigkeit her«, sagte Hagner. »Ich war damals zwanzig oder so.« Er hielt einen Moment lang inne. Dann sagte er: »Ein Freund, den ich von der Uni kannte, hatte mich eingeladen, mit ihm ein paar Wochen in seiner Jagdhütte zu verbringen.«
»Was hast du studiert?«
»Maschinenbau«, sagte Hagner. »Habe aber nie was draus gemacht. Nach dem Studium bin ich zum Militär gegangen.«
Jenny nickte. Sie schaute kurz zur Bar, dann richtete sie ihren Blick wieder auf Hagner.
»Sergej, so hieß mein Uni-Freund, lud mich also auf seine Hütte ein. In der Nähe von Tomsk. Absolute Wildnis. Russische Taiga. Wir gingen zusammen jagen und es wurde auch eine Menge gesoffen.«
»Was jagt man denn so in Russland?«
»Nichts Besonderes, eigentlich. Hirsche, Elche, Schwarzwild. Aber die Bedingungen sind extrem. Eben Sibirien.«
»Verstehe.«
»Eines Nachts, es war so kurz nach elf, da rumpelte es furchtbar in einem Schuppen.«
Jenny sah Hagner an. Ihre grünen Augen leuchteten im Dämmer der Lounge.
»Wir schnappten unsere Waffen und gingen raus. Wie gesagt, es war ’ne Menge Wodka im Spiel.« Hagner schloss die Augen, als riefe er sich die Situation in Erinnerung. »Ich riss die Tür auf und wäre fast auf den Arsch gefallen. Ein Bär, ein riesiges Viech, hatte ein paar Bretter aus der Hinterwand gerissen. Er saß in dem Schuppen und soff aus einer Büchse Motoröl.«
»Oh, Shit!«
Hagner nickte und sah Jenny an. »Ja, Bären lieben das Zeug. Wir haben uns schnell aus dem Staub gemacht, zurück in die Hütte. Ich hatte die ganze Nacht Schiss, dass das Monster die Tür aufbricht.«
Jenny lachte und berührte kurz Hagners Arm.
»Am nächsten Morgen war der Bär weg. Sergej sagte, elf bis zwölf sei jetzt offiziell meine Bärenstunde. Eine Tageszeit schlimmer Überraschungen.«
Hagner holte sein Päckchen Zigaretten hervor. Er steckte sich eine an, rauchte und sagte: »Is komisch. Mein ganzes Leben lang sind in der letzten Stunde des Tages merkwürdige Sachen passiert.«
»Vielleicht passiert auch mal was Gutes«, sagte Jenny.
»Zum Beispiel?«
Jenny nahm Hagner die Zigarette aus den Fingern, rauchte, gab sie wieder zurück. »Ich mache heute früher Schluss. Sage Yanzhou, dass es mir nicht gut geht. Is nicht viel los gerade. Basara kann die Bar machen. Oder eins der Mädchen.«
»Und dann?«
»Dann gehen wir zu mir und vögeln.« Jenny sah Hagner an.
»Gute Idee«, sagte er.
»Bin gleich wieder da.« Jenny stand auf und ging rüber zu Bar. Hagner beobachtete, wie sie Basara rief und kurz mit ihm redete. Danach kam sie zurück und sagte: »Ich gehe kurz hoch zu Yanzhou, sag ihr Bescheid.«
Hagner nickte und betrachtete Jennys Hintern, als sie durch die Lounge ging und dann die Treppen hochstieg.
Er drückte seine Zigarette aus, stand auf und durchquerte den Raum. Er nahm seinen Mantel, zog ihn an und verließ den Club.

Im Autoradio lief Ambientrunner, ein Sender, der Elektrosounds ohne Beats in den Stadtäther schickte. Aquatische Klänge, fernes Stimmgewirr, manchmal ein Rauschen, wie im Inneren eines Bunkers. Hagner steuerte den Audi durch die Friedrichstraße. Ein Passant überquerte die Straße. Hagner trat auf die Bremse, beobachtete die vornübergebeugte Gestalt durch die regennasse Frontscheibe seines Wagens. Lautlos glitten die Wischblätter über das rötlich graue Straßenbild. Sie zogen Schlieren durch die Szene, in denen die Gestalt zu verschwimmen schien.
Hagner stellte den Wagen in der Nähe von Wallers Kneipe ab. Er schlug den Mantelkragen hoch, sah sich kurz um. Er betrat die Kneipe grüßte Waller mit einem Nicken. Zigarettenrauch schwebte unter den gelben Lampenschirmen. Nur wenige Gäste, gedämpfte Stimmen. Über den TV-Monitor, der an der Wand hing, flimmerte die Aufzeichnung eines Bundesliga-Spiels. Waller wischte mit einem Tuch den Tresen und wies mit einer Bewegung des Kinns in den rückwärtigen Teil des Raumes. Hagner ging an ein paar Tischen vorbei. In einer anderen Nacht hätte Hagner in diesem Moment möglicherweise kehrtgemacht. Vielleicht wäre er aus der Kneipe marschiert mit dem Entschluss, das alles endgültig hinter sich zu lassen, niemals zurückzukehren.
»Hallo Sally«, sagte er.
Während sie den Raum durchquerten, Sally mit leerem Blick, auf Hagner gestützt, wandte er sich zu Waller um. »Wie spät ist es?«, fragte er.
»Gleich zwölf«, sagte der Wirt.
Hinter ihnen schlug die Kneipentür ins Schloss. Als sie Hagners Wagen erreichten, öffnete sich ein paar Meter von ihnen entfernt mit leisem Knirschen die Rolltür eines Transporters.
»Hagner!«, rief eine Stimme aus dem Inneren des Vans. »Ein Gruß von Onkel Angelo.«
Der Feuerstoß einer Schrotflinte zuckte grell auf. Die Garbe riss Hagner und Sally zu Boden. Der Klang von Schritten hallte durch die Dorotheenstraße, der Transporter rollte aus der Parklücke, die Seitentür des Vans wurde zugezogen. Der Van beschleunigte und fuhr in östlicher Richtung davon.

 

Hallo Katla, vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich habe mich sehr gefreut, dass Du geschrieben hast. Ich kann Deine Sicht auf die Geschichte vollkommen nachvollziehen. Beim Schreiben war mir klar, dass Hagner am Ende eine Stunde des Bären erlebt, also eine böse Überraschung. Ich war mir zwischenzeitlich nicht ganz sicher, wie fatal diese Stunde werden würde. Nach und nach erschien mir dann Hagners Tod als zwingend.

Nicht, weil die Ereignisse eine Eskalationsspirale durchlaufen hätten, sondern weil es einen Endpunkt unter ein Leben der verpassten Chancen/ Alternativen setzt. Ich habe Hagner so gesehen, dass er an mehreren Stellen in seinem Leben einen anderen Weg hätte einschlagen können:

Er hat Maschinenbau studiert, ging aber zum Militär. Nach dem Gespräch mit Edim geht er zurück zu seinem Wagen, biegt dann aber zu Mizu ab, um ihn niederzuschlagen. Er willigt ein, mit Jenny die Nacht zu verbringen, haut dann aber aus dem RC ab.

Die Stunde des Bären ist letztlich eine gedankliche Konstruktion. Sie hat keine objektive Realität, paradoxerweise wird sie für ihn aber zur Wirklichkeit, weil er dieser gedanklichen Konstruktion anhängt.

Der Tod dieser Figur macht für mich schon Sinn. Aber ich sehe eben auch die Einwände von Habentus und Lakita, die sagen, dass dieses drastische Finale vielleicht ein Glaubwürdigkeitsproblem haben könnte.

Deine Gedanken zur Blickführung, kartografischen Verortung haben mir gut gefallen. Hagner nimmt die Welt tatsächlich sehr eng und reduziert wahr. Danke auch für die Hinweise zum Apostroph!

Gruß Achillus

 

Spät kömmt er, aber er kommt, selbst wenn Deine Frage

Hallo Friedel, danke für die Ergänzung. Ich habe das Zeichen bei …dem Wetter! geändert. Was denkst Du über den Apostroph bei is (statt ist)? Sieht doof aus bei: Is’ ’ne ganze Weile her.

Recht hastu,

lieber @Achillus,

aber selbst wenn @Katla schon geantwortet hat, darf ich den Wortkriegern und -amazonen einen Auszug aus der Antwort der Berliner Morgenpost, zitiert durchs Wörterbuch der deutschen Sprache nicht vorenthalten:

»Wer gar versucht, den Genitiv oder den Plural etwa bei »Handy’s«, »Hobby’s«, »Brecht’s Dramen« oder »Bismarck’s Politik« mit Apostroph zu bilden, der hat etwas benutzt, was man weniger höflich, aber treffend als »Deppenapostroph« zu bezeichnen pflegt.

Berliner Morgenpost, 31.05.2022«

zitiert nach dem Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) unter
Apostroph – Schreibung, Definition, Bedeutung, Etymologie, Synonyme, Beispiele | DWDS

Friedel

 

Hey Friedel, danke, dass Du Dich nochmal gemeldet hast. Dieser Deppenapostroph ist wohl eine Verwechslung mit dem Englischen. Ich glaube, da kommt das vor. Danke auch für den Link.

Wünsche Dir eine schöne Restwoche, Friedel.

Gruß Achillus

 

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