- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 57
Ein Ganzes
Ein Ganzes
Da war dieses Puzzlespiel vor mir. Es sollte ein duftendes Lavendelfeld in der Provence ergeben. Ich sah die Photographie deutlich vor mir. Beides lag da: das fertige, perfekte und nicht komponierte Bild und die hundert Puzzlestücke, die ich zusammenfügen musste, um schließlich ein nur halb so schönes Bild zu erhalten.
Es klappte alles wunderbar; relativ schnell konnte ich die einzelnen, sich minimal unterscheidenden Teile zusammenfügen. Der Glanz einer Pflanze setzte sich langsam zu einer Quelle gleichaussehender Geschwister zusammen. Eine Fliege kontrollierte ab und an meine Arbeit und schien zufrieden zu sein. Nun hatte ich fast das Bild vervollständigt. Das einfachste lag vor mir: ich musste das hundertste Stück in seine Welt einfügen. Mich schon auf einen Traubensaft freuend versuchte ich es hineinzudrücken. Es blieb an meinem Finger kleben und ich drückte es noch einmal ins Ganze. Doch es ließ sich nicht in die für es gebildete Lücke pressen. Nun untersuchte ich die runden Ausbeulungen, die nicht besonders auffielen. Sie waren sogar ganz richtig geformt und mussten in die Lücke passen; aber es wollte mir nicht gelingen. Immer wieder widersetzte es sich mir und rutschte nicht an seinen Platz. Ich legte das Stück neben das fast fertige Puzzlespiel und schaute mir das Bild intensiv an. Alles schien mir richtig zu sein, perfekt zu passen. Die Puzzleteile glichen sich zwar sehr, aber ich hatte keinen Fehler gemacht. Dann betrachtete ich die Lücke langsam, so als ob ich jeden Punkt untersuchen wollte. Ich tastete sie sogar ab und suchte nach Unebenheiten. Manchmal schien mir etwas aufzufallen; einige Male dachte ich wirklich etwas gefunden zu haben. Doch das lag wohl eher an meinen langsam müde werdenden Augen. Ich nahm noch einmal das lose Puzzlestück in die Hand, legte es aber schnell wieder zurück und legte mich auf meinen Rücken, die Decke anstarrend. Weiß war sie und verlor man sich in ihr, so erschien das Weiß unendlich.. Ich betrachtete die Verfärbungen, die kleinen Anhaltspunkte, dass Spinnen sie oft bekrabbelten. Dann verwandelte sie sich in ein riesiges Puzzelspiel, und das besondere war, dass es wirklich nur auf die Formen der Puzzlestücke ankam. Jedes Stück trug nichts neues zum Bild bei, vergrößerte es nur.
Ich richtete mich auf, schüttelte den Kopf und rieb mir die Augen, so dass sich das Bild der Decke verlor. Auf die Hände gestützt sah ich das Puzzle vor mir, sah, dass es wie ein Lavendelfeld aussah, brachte es aber trotzdem ganz durcheinander, löste die Puzzleteile heftig voneinander. Ich schmiss das Problemstück in die nun gleiche Menge und mischte sie noch ein wenig. Und dann versuchte ich es noch einmal: ich vergaß meine Augen, versuchte nicht ein Bild aufzubauen, sondern Formen anzupassen und ineinander gleiten zu lassen. Sicherlich war es schwierig, doch eigentlich nur gewöhnungsbedürftig. Es ging langsamer voran, aber ich kam voran. Das Fühlen und Abtasten hatte seinen eigenen Geschmack, machte auch irgendwie Spaß. Erstaunlich war, dass ich mich ganz in der Arbeit verlor, ganz das Sehen vergaß. Ich sah zwar das Puzzle, die zusammengesetzten Puzzlestücke, nahm es aber nicht als Ganzes wahr, sah kein Bild. Es lagen einfach Formen da, die ineinander passten und zusammen wuchsen. Schließlich bemerkte ich, dass es nun wieder daran war, ein letztes Stück einzufügen, um eine ineinanderfließende begrenzte Fläche, ein Quadrat zu erhalten. Es passte nicht hinein, wollte nicht ergänzen. Ich realisierte, dass es dasselbe Stück war. Keinen Schritt weiter war ich also gekommen. Vor mir dasselbe unvollständige Bild und ein widerspenstiges Puzzleteil, das sich über das Wort Teil mokierte. Wütend nahm ich das Miststück in die Hand und versuchte es förmlich in das Bild zu hämmern. Wie irr sprang es mir ein jedes Mal entgegen. Endgültig von Sinnen stand ich auf, um mir eine Schere zu holen. Mit einem siegessicheren Grinsen näherte ich mich dem Puzzlestück und wollte es gnadenlos klein schneiden. Dann aber fiel mir ein, dass ich besser daran täte, das Miststück so zu formen, dass es hineinpasste. Würde ich das Bild aufhängen, so fiele es doch kaum auf, dass ein Teil eines Teiles des Ganzen fehlte. So sah ich mir das Stück genau an, drehte es und spielte damit. Es ließ alles still über sich ergehen und ich hatte das Gefühl, dass es fast reuevoll um Gnade flehte. Doch auch wenn es nun gefügig angedockt hätte, es musste eine Strafe geben: ich entschied mich für eine Ausbeulung, schnitt sie ab und drückte das Stück ins Bild. Es passte! Perfekt lag das Bild da, musste nur noch eingerahmt werden. Nun war es ein Ganzes, vollständig. Wem fällt die kleine Unvollkommenheit auf? Die Zwangsanpassung eines winzigen Teiles?
Ich hatte ein Lavendelfeld aus der Provence, das ich stolz über meinen Schreibtisch hängen würde.