Erinnerung an die Wurst
Erinnerung an die Wurst
Es passierte im Dienst.
Ich erinnerte mich an die Wurst.
„Verdammt“, dachte ich, „warum muss mir ausgerechnet jetzt diese Wurst einfallen!“ Normalerweise bin ich im Dienst immer super konzentriert. Vor allem heute war es sehr wichtig. Seit ich vor ungefähr einem halben Jahr zur Drogenfahndung wechselte waren mir nur kleine Fische ins Netz gegangen, doch heute entdeckten mein Partner und ich in einem alten Industriegebiet eine Drogenküche. So etwas würde sich natürlich spitze machen, auf meinem Resumé.
Wir hatten den Wagen etwas entfernt geparkt und schlichen uns mit gezückten Dienstwaffen an das Gebäude heran, als der erste Schuss fiel. Als ich hinter mich schaute lag mein Partner schon auf dem Boden und umklammerte mit verkrampften Gesichtsausdruck sein rechtes Bein. Schnell warf ich mich zur Seite und ging hinter einer alten Öltrommel in Deckung. Für so eine Situation haben wir immer einen Polizeispiegel dabei um um die Ecke zu sehen, den trug aber mein Partner bei sich, und der lag jetzt einige Meter entfernt von mir und umklammerte immer noch sein Bein. Ich wusste das aus irgendeinem der Fenster geschossen wurde, aber nur nicht aus welchem. Vorsichtig streckte ich meinen Kopf hinter der Öltrommel hervor, und dann passierte eines nach dem anderen. Erst erinnerte ich mich an die Wurst...
Vor ungefähr 15 Jahren, als ich noch studierte, aß ich oft mit der gleichen Gruppe in der Mensa zu Mittag. Einer in dieser Gruppe, der Ben hieß, erzählte oft was er nach dem Studium alles tun werde: Filme drehen, Opern inszenieren und Romane schreiben. Eines Tages sagte er einfach aus dem Blauen heraus: „Ich werde bald meinen Magnum Opus schreiben. Er wird als Standard-Klassiker in die Weltliteratur eingehen. Ich nenne ihn Erinnerung an die Wurst.“ So verblüfft waren wir natürlich nicht, denn so etwas sagte er ja schließlich oft, aber es fragte dann doch jemand worum es denn in dieser Geschichte ginge.
„Es fängt an mit einem jungen Mann, der in einem Café zum Frühstück eine fürchterliche Wurst serviert bekommt. Die Wurst ist in ihrer Ekelhaftigkeit wirklich phänomenal, deshalb nimmt er sie mit um sie seiner Freundin zu zeigen, die natürlich auch ganz begeistert ist, von ihr. Später wirft er die Wurst weg und vergisst sie. Die restlichen 700 Seiten des Romans erzählen die gesamte Lebensgeschichte dieses Mannes, bis zum letzten Kapitel, in dem er sich in der Wüste verirrt und verdurstet. Kurz vor seinem Tod erinnert er sich an die Wurst und ist über sein Leben enttäuscht.“
„Und was ist der Sinn dieser ganzen Story?“, fragte einer.
„Der Leser kann die Enttäuschung des Mannes dadurch am besten nachvollziehen.“
„Ich weiß nicht wie ich‘s sagen soll, aber die Geschichte ist einfach nur Scheiße“, sagte ich.
„Pah!“, sagte Ben, „Du wirst schon noch sehen.“
Daraufhin wurde die Erinnerung an die Wurst zu Bens Running-Gag.
„Was machst du eigentlich diesen Sommer?“, fragte ich ihn einmal.
„Ich fahre in die Mongolei.“
„Echt? Warum denn dorthin?“
„Ist doch klar. Recherche für Erinnerung an die Wurst. Unser Protagonist ist nämlich Archäologe und will in der Mongolei das Grab von Dschingis Khan finden. Letztendlich verirrt er sich ja auch in der Wüste Gobi, wo er sich dann an die-“
„Wurst erinnert. Schon klar.“
Was letztendlich aus Ben wurde weis ich nicht. Ich glaube sogar er wurde Getränkelieferant. Jedenfalls erinnerte ich mich genau in dem Augenblick als ich meinen Kopf hinter der Öltrommel hervorstreckte an die Wurst aus dem Titel seines vermeintlichen Magnum Opus.
In meinem Job musst du blitzschnell handeln können - eine Millisekunde kann alles entscheiden. Wenn du einmal kurz nicht aufpasst, kann schon alles vorbei sein. Erst erinnerte ich mich an die Wurst, dann schlug die Kugel in meine rechte Schläfe ein.
Irgendwie war ich enttäuscht.