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Gipfelglühen
Draußen schien die Sonne zum ersten mal seit langer Zeit und die Luft war vom Lachen der Kinder erfüllt, doch Maria lag, wie so oft in den letzten Wochen, kraftlos in ihrem Bett.
Den Grund ihrer Müdigkeit, ihrer Kraftlosigkeit, konnte kein Arzt feststellen. Eindeutig war jedoch, dass sich ihr Zustand täglich verschlechterte. Dieses einst so lustige, wilde Mädchen schien all ihre Energie, ihren Lebensmut verloren zu haben. Viele ihrer Freunde kamen sie gar nicht mehr besuchen. Einige aus Angst vor dem traurigen Anblick, andere aus Angst vor der Krankheit. Ein Freund war ihr jedoch geblieben. Nicolai der Leierkastenmann, den sie vor einem Jahr auf einem Fest kennen gelernt hatte. Nicolai, der liebe Nicolai, wie innig er sich um dieses kleine Wesen kümmerte und sich um sie sorgte. Auch heute Abend saß er an ihrem Bett und erzählte ihr von so vielen erlebten Dingen, von Menschen, die er einst getroffen hatte und wie so oft von den Bergen.
„Die Berge, wie wundervoll sie wohl sein müssen“, dachte Maria, die gespannt seinen Schilderungen lauschte.
Als er geendet hatte packte er seine Drehorgel aus und begann alte, längst verklungene Lieder zu spielen. Und dann vergaß Maria ihre Müdigkeit und sang, die ihr so bekannten Melodien fröhlich mit. Nicolai blickte das Kind an, das er aus ihm unbekannten Gründen so lieb gewonnen hatte. Und wie er sie so ansah, musste er lächeln. „Deine Wangen glühen, wenn du lachst, wie die Gipfel der Berge bei Sonnenuntergang“
So verliefen die nächsten Tage und Wochen immer gleich, mit dem einzigen Unterschied, dass die Momente in denen Maria lachte immer kürzer und seltener wurden, und die meisten Menschen schon so weit waren, dass sie den Tod dieses Kindes verkraften würden.
Auch Nicolai, obwohl er ein so zuversichtlicher Mensch war, hatte keine große Hoffnung mehr darauf, dass Maria wieder genesen würde.
Und als er eines Abends an ihrem Bett saß, schaute sie ihn ernst an, und sagte: „Mein lieber Nicolai, wie oft hast du mir von der Schönheit der Berge erzählt und das Verlangen in mir geweckt, sie selbst sehen zu können! Ich werde wohl nicht mehr hinaufwandern können, und doch wünsche ich mir nichts sehnlicher, als das Gipfelglühen zu sehen.“
Nachdenklich starrte Nicolai ins Leere. Er wusste, dass Maria keinesfalls mehr die Berge hinaufsteigen könnte, und doch wollte er ihr ihren Wunsch nicht verwehren. Er unterhielt sich mit Marias Mutter und am nächsten Tag wurden bereist die Vorbereitungen zur Abreise getroffen. Es gab schmerzliche Verabschiedungen von der Familie und von Freunden, da allen bewusst war, dass dies ein „Lebewohl“ und kein „Aufwiedersehen“ sein würde.
Und so reisten die beiden Freunde ab. Erst ein Stück mit der Bahn und dann noch eine Weile auf der Pferdekutsche. Es war anstrengend für Maria und endlich rief Nicolai: “Siehst du, das ist meine Heimat“
Es begann schon zu dämmern und Maria trieb Nicolai voran.
„Kind, mein liebes Kind, du brauchst dich nicht zu eilen wir sind doch schon fast angekommen. Von dort vorne auf dem Schuppendach hat man den schönsten Blick weit und breit!“
Ein wenig enttäuscht sah Maria ihn an. Doch dann besann sie sich.
“Es sind zwar nicht die Berge, aber das ist wohl nicht schlimm.“
Auf dem Dach angekommen setze sich Maria erschöpft nieder und Nicolai packte seine Drehorgel aus. Er sang laut und schön und wie Maria so auf die Berge schaute und die wunderschöne Musik hörte, vergaß sie, dass sie nur auf einem Schuppendach saß und dass sie so krank war. Und ihre Wagen leuchteten mit den Gipfeln der Berge um die Wette.