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Gut erzogene Mädchen
In die Ruhe unserer Wohnung surrte die krank wirkende Klingel. Erschrocken richtete ich mich auf. Es war Sonntag Mittag. Die Sonne schien auf das gegenüber liegende Haus und der Himmel reizte meine müden Augen mit seinem strahlenden Blau. Ich hatte mein Bett noch nicht gemacht und mein ausgebeultes Nachthemd hing miefend auf meinen Schultern.
Meine Eltern hatten am Morgen leise die Tür zu meinem Zimmer aufgeschoben, liebevoll meinen Namen gerufen und verkündet, dass ich nachkommen könnte, wenn ich wach sei. Aber das wollte ich nicht. Der Luxus die ganze Zweieinhalbzimmerwohnung für mich allein zu haben, war allzu verlockend. Ich könnte durch die Wohnung tanzen, fernsehen, Schnittchenteller mit ins Bett nehmen und all die Sachen machen, die ich sonst nicht konnte. Auch das schöne Wetter hielt mich nicht davon ab, meinen Tag in der Wohnung zu verbringen. Es war ein zu seltenes Glück.
Es klingelte wieder, als wüsste jemand ganz genau, dass ich da war. Ich hasste es Besuch zu bekommen. Wenn ich zu Hause war, hieß das für meine Freundinnen, dass ich praktisch nicht erreichbar war. Ich erzählte ihnen, dass meine Eltern es nicht mögen würden, wenn ich Besuch bekäme und sie glaubten es.
Der Mantel, den ich zur Seite schob, um durch den Spion zu sehen, schepperte mit seinen metallenen Knöpfen verräterisch an der Tür. Ich fröstelte. Als ich das Gesicht des Mannes sah, von der Optik länglich verzerrt, aber freundlich, war ich beruhigt, dass es nicht meine Eltern waren oder Freunde. Ich öffnete die Tür und schämte mich etwas für meine Heimlichkeit. Der Fremde entschuldigte sich für die Störung und zeigte mir einen Schlüsselbund, den er im Hausflur gefunden hatte.
„Ich dachte, vielleicht vermisst ihn jemand. Es sind ziemlich viele Schlüssel dran.“, sagte er.
Dann fragte er, ob meine Eltern da wären und ich schüttelte den Kopf. „Die sind im Garten.“
„Kannst du mal nachsehen, ob bei dir ein Schlüsselbund fehlt?“
Ich wunderte mich, weil er sich solche Mühe gab, den Besitzer des Schlüssels wiederzufinden, ging aber in die Küche und suchte alle Schlüssel zusammen, die wir hatten. Es fehlte nichts, nur der Schlüssel zum Garten.
Als ich zurückkam stand der Mann im Flur. Er war ziemlich groß und trug einen dunkelgrünen Parker. Die Tür war noch offen. Ich hörte wie er sagte, dass er gern notieren würde in welche Schule ich ging. Er sagte es ganz natürlich, als wäre es normal, das wissen zu wollen und ich wäre die einzige, die das komisch fände.
„Das sag ich nicht.“, antwortete ich nach einer Weile.
„Warum?“
Ich wusste nicht warum, das heißt, ich wusste es irgendwie, konnte es ihm aber nicht erklären. In meinen Gedanken sah ich ihn auf meinem Schulhof im grünen Parker stehen, in der Ecke, wo die Großen immer rauchten. Ich wollte ihn nicht da sehen.
„Das kannst du mir doch ruhig sagen.“, meinte er und guckte auf mich herunter.
Ich wollte, dass er geht und so sagte ich ihm den Namen meiner Schule.
„Hast du nicht was zum Schreiben?“, fragte er.
In meiner Verzweiflung brachte ich ihm Zettel und Stift und schließlich, als er eine Unterlage verlangte, meinen Stuhl aus dem Kinderzimmer. Ich wusste, ich brauchte das nicht tun, ich hätte ihn einfach bitten könnte zu gehen, aber ich war ein Kind von gerade mal elf Jahren und er war ein Erwachsener. Ich wagte es einfach nicht, einen Erwachsenen vor die Tür zu setzen.
Benimm dich! Es sind Erwachsene hier. Hör auf den Onkel und setz dich gerade hin. Man wiederspricht keinem Erwachsenen.
Gefangen in meinem Gehorsam schleppte ich den Stuhl wieder in mein Zimmer. Ich stellte ihn ab und spürte hinter mir den Körper des Fremden. Ich merkte, wie er sich umsah in meinem Zimmer und wagte nicht mich umzudrehen.
„Schönes Zimmer hast du.“, sagte er ganz belanglos.
Ich nickte und hielt mich an der Stuhllehne fest.
„Sag mal, wie viel wiegst du eigentlich?“
Es hatte nicht genügt, ihm meine Schule zu verraten. Er stand immer noch da und überschritt eine Grenze nach der anderen. Mir war, als wäre ich nicht anwesend und würde nur aus Versehen einer Geschichte beiwohnen, die nicht für mich bestimmt war. Ich hatte Mühe aus diesem Gefühl heraus zu reagieren, aber es war sonst niemand da, der es für mich tun konnte.
„Ich weiß nicht.“, log ich.
„Darf ich dich mal auf den Arm nehmen?“, fragte er, „nur um zu sehen, wie viel du wiegst.“
Ich sagte nein, diesmal ohne mich vor einer Antwort zu drücken. Ich schaffte es sogar einen zweifelnden Ausdruck auf mein Gesicht, das bis dahin unterwürfig gelächelt hatte, zu bringen. Aber das war auch alles.
Seine Hand griff nach meiner Hüfte und hob mich ohne Anstrengung hoch. Wie ein Baby hielt er mich auf dem Arm, aber ich war kein Baby mehr. Mein Körper gefror in dieser unnatürlichen Haltung. Er wirft mich durch das Fenster, dachte ich panisch, als er mich dazu auch noch leicht hin und her wiegte. Und da wehrte ich mich, strampelte mit den Beinen und ruderte mit den Armen und rief: „Ich will nicht! Nein!“
Er ließ mich wieder runter. Beschämt stand ich vor ihm und suchte nach Abstand. Er versuchte mich zu beruhigen, sagte, dass es doch nicht schlimm war und dass ich wirklich ganz leicht bin.
Ich setzte mich auf mein Bett. Jetzt würde er gehen, dachte ich, jetzt hat er doch gehabt, was er wollte. Aber er schien noch immer nicht zufrieden zu sein und kniete sich vor mein Bett.
„Was hast du denn für eine Schlüpferfarbe?“
Ich war entsetzt über diese Frage. Ich wollte ihn fragen, ob er blöd wäre, wie ich es den Jungen aus meiner Klasse sagte, wenn sie mich ärgerten. Aber er war kein Junge aus meiner Klasse. Er war ein Erwachsener und denen sagt man nicht, dass sie blöd sind. Ich grinste ihn ängstlich an und erklärte ihm, dass ich so was nicht erzähle.
„Wenn du es mir nicht sagst, muss ich nachsehen.“
Ich war in der Klemme, aber ich wusste die Farbe selbst nicht und auch wenn ich sie gewusst hätte, wollte ich es ihm auf keinen Fall sagen. Aber ich wollte auch nicht, dass er unter mein Nachthemd sieht.
„Willst du, dass ich nachsehen?“
„Nein.“
„Hör mal, ich frage das nur, weil mein Professor wissen will, wie die durchschnittliche Schlüpferfarbe bei Mädchen und Jungen ist. Das ist nur eine Studie.“
Das war der größte Blödsinn, den ich je gehört hatte, doch ich wagte nicht einen fremden Mann blöd zu nennen. Ich sagte nur, dass ich nicht glaube, dass ein Professor so etwas wissen will.
Er sah nach. Es ging ganz schnell. Er hob nur das Nachthemd ein wenig und lugte drunter. Viel zu schnell für meinen Geist, der unentwegt glaubte, nichts mit dieser Sache zu tun zu haben. Beleidigt saß ich jetzt ganz am Rand des Bettes, die Beine angezogen, das Nachthemd über die Knie gestülpt.
„Das war doch nicht schlimm, oder?“, fragte er.
„Ich wollte es aber nicht!“, gab ich patzig zurück und fühlte mich schon ziemlich rebellisch dem Mann gegenüber.
„Ich hatte dir ja die Möglichkeit gegeben, es mir freiwillig zu sagen.“
Ich schwieg und er redete über seine Studie und die anderen Ergebnisse, die er erzielt hatte. Er hockte vor meinem Bett und bewegte seine Lippen. Er ließ mich keinen Augenblick aus den Augen und mir blieb nichts, als zwischen uns auf den grünen Teppichboden zu starren. Ich hörte nicht mehr zu, entband mich dem seltsamen Gespräch völlig.
Ich weiß nicht mehr, warum er sich auf mich legen wollte, aber es war etwas Absurdes, so absurd, wie die Schule, mein Gewicht und die Schlüpferfarbe. Dann spürte ich ihn auf mir, seinen Parker, seinen ruhigen Atem, die Hände, die meine Arme ins Kissen drückten, Beine die auf meinen Beinen lagen und seine Schuhe, die sich in die weißen Laken gruben...
Straßenschuhe, schoss es mir durch den Kopf, man darf nicht mit Straßenschuhen ins saubere Bett! Niemand, auch kein Erwachsener, darf so etwas machen. Wütend bäumte ich mich auf, trommelte mit meinen Fäusten auf seine Brust, strampelte mit aller Kraft und riss ihm in der Rage einen Knopf von der Jacke.
Erschrocken starrte ich den Knopf in meiner Hand an. Dann hörte ich die Tür ins Schloss fallen und seine Schritte im Flur und sah den abgefallenen Dreck seiner Schuhe in meinem Bett.