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Jack
Eine Ewigkeit hatte die Sonne nicht mehr den Weg durch die Wolken geschafft. Der graue Himmel legte sich wie ein Schatten auf die Welt, die unter ihm lag. Die Wege waren durchweicht vom Regen der letzten Tage und Wochen und die Zeit schien tatsächlich manchmal still zu stehen.
Dieser Novembertag war, wie schon so viele der Tage des Jahres trist und kalt. Den winzigen Moment, als der Regen aufhörte, nutzte Jack und ging vor die Tür. Wie allen anderen fehlte ihm die Luft zum Atmen und die Sonne. Am Ende der Straße bog er auf den kleinen Weg zum Weiher. Seine Schuhe versanken auf dem matschigen Pfad und er überlegte schon, ob er zurückgehen sollte, als wieder einmal die nicht enden wollende innere Unruhe ihn antrieb seinen Weg fortzusetzen.
Als er auf das trübe, dunkle Wasser des Weihers blickte, fragte er sich, ob alle Farbe aus der Welt entwichen sei und Grau, das einzige war, was übrig bleiben würde. Das gleiche Grau, das auch auf seiner Seele lag.
Jack befestigte mit klammen Fingern einen Regenwurm an der mitgebrachten Angelrute und warf sie aus. Vielleicht gab es noch eine hungrige Forelle für sein Abendessen. Natürlich hätte er sich einfach einen Fisch im Supermarkt kaufen können, Geld war kein Problem, aber er hoffte auf den winzigen Moment der Spannung, wenn ein Fisch anbiss und ihn aus seiner trüben Stimmung reißen würde. Als sich dann tatsächlich der Schwimmer bewegte, untertauchte und nur noch wie ein Schatten durch die Wasseroberfläche schimmerte, zog er die Schnur an und er merkte sofort, dass er etwas Großes an der Angel hatte. Der Fisch zog und wehrte sich, gegen den Haken in seiner Schnauze und eine Weile sah es so aus, als hätte er eine Chance Jack zu entkommen, aber der Haken saß fest in seinem Fleisch und nach einer Weile gab er die Gegenwehr auf. Jack nahm den Kescher hob den Fisch an Land und blickte erstaunt auf einen goldschimmernden Karpfen mit braunen Augen. „Ein Karpfen, wie ungewöhnlich für diese Jahreszeit“, dachte Jack.
Der Karpfen starte Jack an, japste nach Luft und hielt aber ganz still, als Jack den Haken aus dem Maul entfernte. Jack nahm das bereit gelegte Messer und wollte den Fisch gerade töten, als ihm eine Wunde auf der linken Wange des Fisches auffiel. Es sah aus, als wenn etwas an ihm genagt hatte. Ob das Tier gesund war? Gesund genug um es zu essen? Er würde sich gut auf dem Weihnachtsbuffet machen.
„Du siehst so unglücklich aus. Vielleicht kann ich dir helfen.“ Eine Stimme unterbrach Jacks Gedanken und die Stille am Weiher. Er drehte sich um, doch er konnte niemanden erblicken. Oh Gott dachte Jack, nun ist es schon so weit, dass ich meine eigenen Gedanken höre und wandte sich wieder dem Fisch zu. Doch das Tier zappelte nicht um sein Leben, sondern blickte ihm direkt in die Augen. Jack merkte, wie all das Grau seiner Seele in ihm Aufstieg und einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge hinterließ. Er schloss für eine Sekunde die Augen und hob dann wieder das Messer.
„Du wirst Dich nicht besser fühlen, wenn Du mich tötest. Die Leere wird bleiben. Sie wird für immer bleiben, wenn Du nicht etwas änderst, wenn Du Dich nicht änderst.“
Jack war verblüfft. „Wie meinst Du das?“, fragte Jack und vergaß tatsächlich für einen Moment, dass er mit einem Fisch sprach. „Du weißt genau, wie ich das meine.“, sagte der Karpfen. „Du rast durch Dein Leben ohne zu Rasten, Du suchst ohne zu finden und vergisst, dass das Einzige was zählt, das Leben selbst ist und das nagt an Dir noch mehr, als die Würmer an mir. Sieh auf meine Wange. Sieh sie Dir genau an. So sieht Deine Seele aus.“
Seele dachte Jack, was weißt Du schon von meiner Seele. Aber die Worte des Fisches trafen ihn mehr, als er zugeben wollte. Er warf einen letzten Blick auf das Tier und ließ das Messer fallen, denn der Appetit auf Karpfen war ihm gründlich vergangen. Er nahm den Fisch in beide Hände und warf ihn ohne weiteres Zögern zurück ins Wasser. Das laute Platschen dröhnte in seinen Ohren, als der Fisch auf dem Wasser aufschlug und dann schließlich mit einem einzigen Schlag seiner Rückflosse in dem Grau verschwand.
Jack schüttelte den Kopf, es war total verrückt, er war verrückt. Auf einmal hatte er es sehr eilig den Weiher zu verlassen, denn für ihn klang es so als würde der Wind der über den Weiher strich ein Lachen zu ihm herübertragen. Das Lachen eines Fisches.
Jack erwachte mit einem Kater. Einem Kater von der Flasche Rotwein, die er gestern Abend getrunken hatte und noch während er mit sich kämpfte, ob er diesen Tag überhaupt beginnen wollte, stieg der Geruch von frischem Kaffee in seine Nase und er öffnete träge die schweren Lider. Er blickte direkt in die braunen Augen seiner Frau, Augen so braun, wie die des Karpfens. Sie saß auf dem Bettrand, reichte ihm einen Becher Kaffee und strich ihm sanft über die Wange. „Ich glaube Du hast schlecht geträumt“, sagte sie und gab ihn einen zärtlichen Kuss. Und als er wieder in ihre Augen sah, in diese braunen Augen, sah der Tag auf einmal nicht mehr so grau aus und er meinte einen winzigen Sonnenstrahl durch den Vorhang zu sehen.
Die Wochen vergingen und als sie das Weihnachtsfest feierten, empfand Jack tatsächlich etwas mehr Frieden, als die Jahre vorher. Seine Frau bereitete das große Festessen für die ganze Familie vor und als die Gäste vollzählig waren, ging Jack in die Küche, um seiner Frau beim Auftragen zu helfen. „Ich habe eine Überraschung für Dich, ich habe dein Lieblingsessen gekocht.“, sagte sie und deutete auf den Tisch. Dort lag auf einer großen silbernen Platte, ein gekochter Karpfen. Ein Karpfen mit einer Wunde auf der linken Wange. Und als Jack nun in die Augen des Fisches blickte, waren sie grau. So grau, wie seine Seele gewesen war.