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Käfer auf dem Stein

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31.01.2021
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Käfer auf dem Stein

Ich sehe sie, als ich um die Ecke biege. Im Wohnzimmer ist es dunkel, nur fahles Licht kriecht durch die Ritzen der Jalousien. In meine Nase rauscht der Geruch von Essig Essenz, die immer so scharf in der Nase zieht, dass man sich fragt, wer das aushält und isst. Sie liegt bäuchlings auf dem Glastisch, wie ein Käfer auf einem Stein, dessen Beine den Boden nicht mehr berühren. Die Glieder zucken nervös, als wolle sie mit dem Tisch davon schwimmen. Die Pfütze vor ihr schimmert silbern im Licht.

Das müssen etwa vier Promille sein. Normalos kommen da gar nicht hin.

„Mach die scheiß Fenster zu, sonst hört uns noch einer! Die Nachbarn hier hören alles!“

Sie will das alles so. Seit ich 14 war. Früher saß ich oft neben ihr, wenn es genug war. Sie grunzte und schnarchte dann immer viel, leckte ihre Lippen und murmelte Geschichten von früher. Als Großvater Großmutter wegen einer anderen verlassen hatte, Kinder mit ihr hatte und sie nicht mehr besuchte. Als alle Frauen neidisch auf sie waren, weil sie so schön war.

Ich muss etwas empfinden, etwas anstellen: Schreien oder weinen, sie anklagen oder mir die Schuld geben. Doch ich tue gar nichts von alledem. Stattdessen hole ich eine Rolle Zewa und schließe die Fenster. Ich wische über ihren Mund, gehe neben ihr in die Hocke und rüttele sachte an ihrer Schulter.

„Fass mich nicht an!“

Der Körper ist kalt, das Keuchen tief und langsam.

„Ich muss den Notarzt rufen, das geht so nicht mehr“, sage ich.

„Einen Scheiß wirst Du! Wenn Du das machst, sind wir geschiedene Leute!“, sie dröhnt ihre Pfütze an.

Es ist der Bluttest im Krankenhaus. Davor haben sie alle Angst. Dann wissen es alle. Dann müssen sie selbst es auch wissen.

Ich rufe den Notdienst. Ja, sie ist im Delirium. Nein, das ist kein Scherz. Ja, bitte kommen Sie schnell. Ich kann das einfach so sagen, mit einer Hand in der Hosentasche. Der bittere Geschmack auf meiner Zunge lässt sich nicht wegschlucken. Ich hieve sie auf die Couch.

Der Schlüssel dreht sich im Türschloss und die Glastür dahinter kracht ins Schloss. Ich erkenne meinen Bruder schon an seinem Gang, langsam und bestimmend. Das Heben seiner Augenbrauen verrät ihn immer, wenn er etwas zum ersten Mal sieht.

„Wieviel ist das?“, sein Kinn zuckt in ihre Richtung.

„Vier, was weiß ich. Nichts zum Messen da.“

„Wieder Spülmittel gesoffen wie beim letzten Mal?“ Er blättert in der Gartenzeitschrift. Zurzeit kann man sich an Herbstastern, Fetthennen und Goldmarien erfreuen. Fetthennen sind gegenüber Staunässe sehr empfindlich, brauchen aber Sonne.

„Glaube ich nicht. Die Kotze schmiert nicht und ist weiß, das Spülmittel ist grün. Ich habe den Notarzt gerufen.“

„Das wird dem alten Herrn nicht gefallen. Dann reden die Leute. Wie beim letzten Mal.“

„Ist jetzt auch schon egal“, sage ich.

„Gibt Ärger, das weiß ich. Deine Sache. Ich will nicht, dass meine Familie das mitkriegt. Ich bin raus.“

Zuerst kracht die Glas-, anschließend die Holztür.

„Ihr seid Arschlöcher, alles Arschlöcher!“

Ihr Nacken liegt auf der Sofalehne, der Kopf rollt nach links und rechts. Die Zunge blitzt wieder aus dem Mund. Alkohol macht durstig und die Lippen werden spröde.

„Die werden gleich da sein.“

Sie erscheint kurz etwas ruhiger, nachdem ich ihr meine Hand auf ihre Schulter lege.

„Das vergesse ich Dir nicht! Wenn Vater hier wäre, er würde dir eine scheuern! Und wenn du fragst, warum, dann gleich noch eine!“

Draußen auf der Terrasse schmiert das Blaulicht über mein Gesicht. Wir haben die Terrasse damals selbst gebaut, zusammen mit Onkel Manfred. Sie hat immer belegte Semmeln mit Wurstsalat statt Butter gemacht, dazu Bierschinken und Gewürzgurken. Wenn ich ordentlich geschippt hatte, dürfte ich mit Vater und Onkel Manfred ein Karamalz trinken und mir den salzigen Schweißgeschmack aus dem Mund spülen. Irgendwann dann nicht mehr. Es ging ihr zurzeit nicht gut. Sie war müde, müsse sich oft ausruhen. Vom Garten aus sah ich, dass die Rollläden im Schlafzimmer den ganzen Samstag unten waren.

Ich zünde mir eine Kippe an und zeige mit meinem Kopf auf das Haus.

„Sie ist drinnen. Kommen Sie mit mir mit.“

Sie haben sie auf der Trage festgeschnallt. Sie lässt sich nie freiwillig mitnehmen. Unsere Blicke treffen sich, als sie vorbei geschoben wird. Bei mir: Wie lange noch? Bei ihr: Bis du die da eines Tages nicht mehr rufen kannst.

Die Sanitäterin schließt behutsam die Doppeltür und nickt mir zu. Ich soll in etwa zwei Stunden nachkommen, muss noch was ausfüllen. Manchmal hat man dieses Glühen hinter den Augen, das nicht verschwinden will. Man muss dann eine Faust ballen und solange pressen, bis die Fingernägel in die Haut schneiden. Anschließend tief atmen und schlucken. Wenn es unten im Magen ist und mein linkes Augenlid zuckt, ist es verschwunden.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @Felpod

Du hast einen etwas ungünstigen Zeitpunkt für das Posten deiner ersten Geschichte erwischt. Zwar sind im Forum gerade so viele Leute aktiv wie schon lange nicht mehr, was allerdings an der Challenge liegt, die gerade ausgetragen wird. Ich hoffe, es trudelt hier doch noch der eine oder andere Kommentar ein, auch weil du zu den wenigen Neulingen im Forum gehörst, die zuerst fremde Geschichten kommentieren und danach erst eine eigene einstellen.

Ich gehe dreimal durch den Text, zunächst mit Blick auf die Orthografie, danach mit Schwerpunkt Stil und Erzähltechnik und schliesslich mit einem Augenmerk auf die inhaltlichen Aspekte.

Erster Durchgang

Essig Essenz
Essigessenz
Sie liegt bäuchlings auf dem Glastisch, wie ein Käfer auf einem Stein, dessen Beine den Boden nicht mehr berühren.
Grammatikalisch bezieht sich "dessen" auf "Stein".
Die Glieder zucken nervös, als wolle sie mit dem Tisch davon schwimmen.
Auch wenn viele Schreibende hier den Konj. I verwenden, ist bei Vergleichen m.E. nur der Konjunktiv II korrekt: "als wollte sie ..." (es ist ja irreal)
im Licht. Das müssen etwa vier Promille sein.
Keine Abstände zwischen den Absätzen, bzw. den eingeschobenen gesprochenen Sätzen. Es genügt, eine neue Zeile zu beginnen, dann zerfasert der Text optisch nicht.
Seit ich 14 war.
Früher galt die Regel, dass man Zahlen bis zwölf ausschreiben soll, mittlerweile gilt das meines Wissens auch für zweisilbige Zahlen. Ich würde auch z.B. dreiunddreissig ausschreiben, es sieht einfach schöner aus, wenn da keine Ziffern im Text rumstehen.
„Einen Scheiß wirst Du! Wenn Du das machst, sind wir geschiedene Leute!“, sie dröhnt ihre Pfütze an.
Das geht nicht. Entweder: "geschiedene Leute!", dröhnt sie ihre Pfütze an" oder "geschiedene Leute!" Sie dröhnt ihre Pfütze an. (Das zweite macht hier aber keinen Sinn)
„Wieviel ist das?“, sein Kinn zuckt in ihre Richtung.
"Wieviel ist das?" Sein Kinn ... (Hier geht die andere Variante nicht, weil ein Kinn nicht sprechen kann).
Wenn ich ordentlich geschippt hatte, dürfte ich mit Vater und Onkel Manfred ein Karamalz trinken
durfte
Sie war müde, müsse sich oft ausruhen.
musste

Zweiter Durchgang

Ich sehe sie, als ich um die Ecke biege. Im Wohnzimmer ist es dunkel, nur fahles Licht kriecht durch die Ritzen der Jalousien. In meine Nase rauscht der Geruch von Essig Essenz, die immer so scharf in der Nase zieht, dass man sich fragt, wer das aushält und isst. Sie liegt bäuchlings auf dem Glastisch, wie ein Käfer auf einem Stein, dessen Beine den Boden nicht mehr berühren.
Das wirkt auf mich unordentlich, sodass es mir schwerfällt, die Perspektive des Erzählers zu übernehmen. Er biegt um die Ecke und sieht die Mutter. Danach stellt er fest, dass es im Zimmer dunkel ist. Danach riecht er die Essigessenz und erst dann richtet sich seine Aufmerksamkeit auf das, was er sieht. Das erscheint mit nicht so organisch erzählt. Ich würde eher so beginnen: "Fahles Licht kriecht durch ... Der Geruch von Essigessenz ... Als ich mich zum Fenster drehe, sehe ich sie.
Das "Im Zimmer ist es dunkel" würde ich streichen, das wird durch das "nur fahles Licht" impliziert.

„Mach die scheiß Fenster zu, sonst hört uns noch einer! Die Nachbarn hier hören alles!“
Vier Promille und zwei elaborierte Erklärungen! Ich würde das kürzen: "Mach die Fenster zu." Den Rest kann man sich denken oder sich ausmalen, es ist ja nicht so wichtig, weshalb genau sie das will. Beziehungsweise wird das weiter unten noch angesprochen.
Das müssen etwa vier Promille sein. Normalos kommen da gar nicht hin.
Diese Einordnung ist m.E. unnötig. Ich kenne das gut. Schreibt man was Ungewöhnliches ("Vier Promille, ist man da nicht tot?") tendiert man dazu, das einzuordnen oder zu erklären. Meistens ist es aber besser, darauf zu vertrauen, dass einem die Leserschaft vertraut.
Als Großvater Großmutter wegen einer anderen verlassen hatte, Kinder mit ihr hatte und sie nicht mehr besuchte. Als alle Frauen neidisch auf sie waren, weil sie so schön war.
bei den vielen "sie" ist es nicht einfach, die richtigen Zurodnungen zu finden, beim ersten könnte z.B. die Grossmutter, die Mutter und auch die "andere" gemeint sein.
Ich muss etwas empfinden, etwas anstellen: Schreien oder weinen, sie anklagen oder mir die Schuld geben. Doch ich tue gar nichts von alledem.
Besser: "Ich sollte"
Ich wische über ihren Mund, gehe neben ihr in die Hocke und rüttele sachte an ihrer Schulter.
Die Reihenfolge lässt mich stutzen. Weshalb nicht neben ihr in die Hocke gehen und dann über den Mund wischen? Scheint mir organischer zu sein.
„Ich muss den Notarzt rufen, das geht so nicht mehr“, sage ich.
Würde ich streichen, generell würde ich die Dialoge knapper halten, weniger erklären.
„Einen Scheiß wirst Du! Wenn Du das machst, sind wir geschiedene Leute!“, sie dröhnt ihre Pfütze an.
Seltsame Formulierung gegenüber einem Sohn / einer Tochter (eher: der Sohn, weil die Mutter sagt, dass der Vater ihm eine scheuern würde). Wiederum zu elaboriert und erklärend.
Es ist der Bluttest im Krankenhaus. Davor haben sie alle Angst. Dann wissen es alle. Dann müssen sie selbst es auch wissen.
Hier kannst du auch streichen, entweder den letzten oder sogar die letzten beiden. Lass das die Lesenden selbst denken. Dann hättest du auch die Doppelung von "alle" weg.
Ich kann das einfach so sagen, mit einer Hand in der Hosentasche.
M.E. der beste Satz des Textes. Da schwingt Info mit, ohne dass sie ausbuchstabiert wird. Hier komme ich dem Erzähler näher.
Das Heben seiner Augenbrauen verrät ihn immer, wenn er etwas zum ersten Mal sieht.
Das hat mich stutzig gemacht. Sieht der Bruder seine Mutter wirklich zum ersten Mal betrunken?
Er blättert in der Gartenzeitschrift. Zurzeit kann man sich an Herbstastern, Fetthennen und Goldmarien erfreuen. Fetthennen sind gegenüber Staunässe sehr empfindlich, brauchen aber Sonne.
Perspektivenbruch. Solange der Erzähler nicht selbst in der Gartenzeitschrift blättert, kann er nicht wissen, was sein Bruder da liest.
„Glaube ich nicht. Die Kotze schmiert nicht und ist weiß, das Spülmittel ist grün. Ich habe den Notarzt gerufen.“
Auch hier würde ich verknappen. "Glaube nicht. Die Kotze ist weiß."
„Das wird dem alten Herrn nicht gefallen. Dann reden die Leute. Wie beim letzten Mal.
Ebenfalls weg, achte darauf, dass sich deine Protagonisten nicht gegenseitig Dinge erklären, die sie bereits wissen.
„Gibt Ärger, das weiß ich. Deine Sache. Ich will nicht, dass meine Familie das mitkriegt. Ich bin raus.“
Auch hier. Finde das auch seltsam, dass er zum Bruder "meine Familie" sagt. "Ich will nicht, dass Céline das mitkriegt" Ob das dann die Frau oder die Tochter ist, kann m.E. offen bleiben, das Motiv des Bruders wird dennoch klar.
Draußen auf der Terrasse schmiert das Blaulicht über mein Gesicht.
Auffälliger Gebrauch, an sich ganz interessant. Unglücklich ist, dass du das Verb oben bereits benutzt hast (die Kotze schmiert nicht). Passiert mir ständig, dass ich Wörter unbewusst wiederhole, da muss man gezielt dagegen angehen.
Vom Garten aus sah ich, dass die Rollläden im Schlafzimmer den ganzen Samstag unten waren.
Das fand ich seltsam. Er wohnte ja selbst dort, nehme ich an. Wenn seine Mutter den ganzen Tag drinnen ist, dann stellt er das ja eher nicht dadurch fest, dass er Rückschlüsse aus der Stellung der Rollläden zieht, oder?
Ich zünde mir eine Kippe an und zeige mit meinem Kopf auf das Haus.
mit dem Kopf. Ich weiss aber auch nicht, ob man mit dem Kopf zeigen kann. Ich würde vielleicht "weise mit dem Kopf in Richtung Haus" oder "drehe den Kopf zum Haus" schreiben.
Manchmal hat man dieses Glühen hinter den Augen, das nicht verschwinden will. Man muss dann eine Faust ballen und solange pressen, bis die Fingernägel in die Haut schneiden. Anschließend tief atmen und schlucken. Wenn es unten im Magen ist und mein linkes Augenlid zuckt, ist es verschwunden.
Zweitbeste Stelle. Der Wechsel von der allgemeinen Perspektive zu "meinem" Augenlid hat mich allerdings irritiert. Aber vielleicht ist das gut, ich weiss es nicht. Vom Allgemeinen hin zum konkreten Erzähler, ja kann man machen.
Sie erscheint kurz etwas ruhiger, nachdem ich ihr meine Hand auf ihre Schulter lege.
die

Dritter Durchgang

Zunächst zwei Details:

Essig Essenz, die immer so scharf in der Nase zieht, dass man sich fragt, wer das aushält und isst.
Hä? Essigessenz ist ja flüssig und trinken tut die auch niemand.
„Wieder Spülmittel gesoffen wie beim letzten Mal?“
Meine kleine Recherche (Glücklicherweise kenne ich mich da nicht aus) hat ergeben, dass es das gibt, ich verstehe aber nicht, warum man das tut. Da ist ja nur sehr wenig Alkohol drin, oder?

So. Ich finde es stets ein bisschen anmassend, wenn jemand die Botschaft rüberbringt: Schreib doch über was anderes. Will ich auch nicht sagen. Aber "Kind, das dem betrunkenen Elternteil die Kotze vom Mund wischt" hat meiner Wahrnehmung nach dem Jugendlichen, der auf der Klippe steht und nicht weiss, ob er springen soll, inzwischen den Rang abgelaufen, was die Beliebtheit von Themen anbelangt. Ich formuliere das bewusst zynisch, auch um den Gap zu verdeutlichen, der zwischen der Dramatik der Realität und der Dramatik einer Geschichte liegt. Was in der Wirklichkeit schrecklich ist, kann in Geschichten schrecklich langweilen, einfach, weil es schon so oft erzählt wurde.
Das bedeutet nicht, dass man darüber nicht schreiben darf, aber die Anforderungen sind m.E. nicht gerade gering, wenn man es tut.
Ich finde gute Ansätze und Elemente in deinem Erzählen, doch der Text hat mich nicht so recht bewegen können. Das liegt einerseits an den etwas zu erklärenden Passagen (siehe oben), andererseits aber auch am Plot. Der verläuft mir zu reibungslos, der Protagonist verhält sich plus minus korrekt. Spannender wäre z.B., mitzuerleben, wie er gegen die Regung ankämpft, das Zimmer einfach wieder zu verlassen. Vielleicht willst du aber gar nicht so einen inneren Konflikt erzählen, sondern einfach nur, wie es ist. Dafür bleibt mir der Erzähler aber zu weit weg, ich spüre den zu wenig. Die beiden Passagen, die ich zitiert und als die besten bezeichnet habe, sind m.E. deshalb gelungen, weil ich hier näher an den Erzähler herankomme. Mich interessiert nicht die Kotze, das Sozialpornografische, sondern was in einem Menschen vorgeht, der sich in dieser Situation befindet. Das muss nicht bedeuten, dass du seitenweise über dessen Gefühle schreibst. Das kann auch heissen, dass du dem Erzähler einen speziellen Blick verleihst, der Erzähler sieht, hört und riecht Details, die man als Leser vielleicht nicht erwarten würde, Details, die abseits des Ekligen und Grausigen angesiedelt sind, die vielleicht zeigen, wie die Beziehung zwischen den beiden früher gewesen ist, weshalb er sie noch immer liebt, und sich um sie sorgt, nebst dem Verantwortungsgefühl, das er offenbar besitzt. Halt noch mehr Tiefe. Insofern ist der Text wohl auch einfach zu kurz für meinen Geschmack. Dadurch wirken die Effekte (vier Promille, Kotze, Spülmittel, Blaulichter) zu grell und das Subtile ("Ich kann das einfach so sagen, mit einer Hand in der Hosentasche") kommt zu kurz. Was in meinen Augen für fast alle Texte gilt, gilt bei einem Text zu diesem Thema in besonderem Masse: Er kann nicht dadurch überzeugen, was erzählt wird, sondern nur dadurch, wie es erzählt wird.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hi @Peeperkorn,
besten Dank, dass Du dich mit meinem Text so intensiv auseinander gesetzt hast. So ein detailliertes Feedback hätte ich bei einem Neuling nicht erwartet.

Deinen orthografischen und stilistischen Anmerkungen stimme ich größtenteils zu und würde diese so umsetzen. Insbesondere die Reihenfolge der Beschreibungen, die sich so nicht ereignen können, war hier hilfreich für mich.

Hier noch ein paar Informationen zu deinem dritten Durchgang. Diese sollen eher der Diskussionsanregung (bei Interesse) als der Rechtfertigung meiner Wenigkeit dienen:

Innerer Konflikt. Nach dem Durchlesen kommst Du zu dem Schluss, der Protagonist hätte sich richtig verhalten und alles ist glatt verlaufen. Da würde ich Dir widersprechen. Er hat sich - im Gegensatz zu seinem Bruder - um die medizinische Versorgung gekümmert, okay. Wenn man ehrlich ist, reicht das denn? Er sollte doch vielmehr versuchen, seine Mutter von ihrer Sucht wegzubringen. Das kann er allerdings nicht, weil seine Mutter eine erwachsene Frau ist und Erwachsene sich nur schwer ändern lassen, wenn es ihre Entscheidung ist, so zu leben. Er kann dann schlussendlich nur dabei zusehen und weiß, dass das nicht mehr lange gut gehen wird. Sein Bruder hat diesen Konflikt nicht. Daher ist sein Konflikt nicht der "Fluchtreflex", den er unterdrücken muss, wie Du ihn erwähnst, sondern seine Ohnmacht gegenüber der Situation. Daher die Sätze

Ich kann das einfach so sagen, mit einer Hand in der Hosentasche.
und
Bei mir: Wie lange noch? Bei ihr: Bis du die da eines Tages nicht mehr rufen kannst.
Recht komplexer innerer Konflikt für einen ersten Text, keine Frage. Der "Wegrennreflex" erschien mir allerdings zu flach und auch wenig realistisch in diesem Szenario.

Äußerer Konflikt: Der soll hier der Widerstand seiner Mutter und seines Bruders sein, einen Arzt zu rufen. Sein Bruder scheint ja nach außen so, als ob er die Sucht der Mutter toliert und mit den Konsequenzen leben kann. Hier fällt mir allerdings auf, dass dieser schon noch ein wenig zackiger ausfallen kann, um das deutlicher heraus zu arbeiten. Ein Streit zwischen den beiden würde sich gut eignen, um hier einen Schwerpunkt hinein zu bekommen.

Metapher Erbrochenes und Spülmittel: Ich hatte beim Durcharbeiten den Verdacht, dass dies reißerisch und effekthascherisch wirkt. Hier hängt allerdings ein ziemlicher Rattenschwanz an psychischen Effekten eines Alkoholikers dran, die ich hier als bekannt voraus gesetzt habe.
Alkoholiker verstecken ihren "Stoff" gerne, damit sie stets eine verbale "Fluchtmöglichkeit" haben zu behaupten, sie hätten kein Problem. Ähnlich dem Motto: Niemand kann den Alkohol finden, deswegen kann ich kein Trinker sein. Das ist natürlich albern, aber die Gedankenwelt eines Süchtigen ist wohl nicht mehr mit der eines gesunden Menschen zu vergleichen. Sehr häufig wird der Schrank unter der Spüle als Versteck verwendet - da schaut niemand nach. Im Delirium ab 3 Promille bemerken Alkoholiker nicht mehr, was sie trinken. Man geht dann zu seinem Spülschrank und greift "aus Versehen" zum Spülmittel und bemerkt weder an Geschmack noch Konsistenz, dass es Spülmittel ist. Dies löst einen Würgereflex und das Erbrochene ist grün.
Ein "Laie" auf diesem Gebiet weiß das wohl alles nicht, daher wirkt diese Metapher nicht richtig und es entsteht daher der Eindruck, es soll ein Schwerpunkt auf "ekligen" Beschreibungen liegen, damit das zur Szene passt oder einen das irgendwie von alleine mitreißen soll. Bin mir selbst allerdings nicht vollständig im Klaren darüber, wie geläufig dieses Wissen so insgeamt ist. Der Abschnitt mit den Blumen:

Er blättert in der Gartenzeitschrift ...empfindlich, brauchen aber Sonne.
diente übrigens unter anderem zur Abschwächung dieses Effekts, da mir schon aufgefallen ist, dass das alles insgesamt ein zu hohes Gewicht bekommt. Durch den Perspektivenbruch habe ich mir allerdings selbst in Knie geschossen.

Zu viele Erläuterungen: Chapeau, das ist richtig. In Bezug auf die Metapher im vorherigen Punkt habe ich das allerdings an einer entscheidenden Stelle unterlassen, an anderen überzogen.

Zu kurz: Da bin ich mir ehrlich gesagt unsicher, ob das gut tut. Das hier sind etwa zwei DIN A4 Seiten. Würde ihn vielleicht noch auf maximal drei erweitern. Ansonsten habe ich jetzt den Verdacht, dass dieser Text dann etwas zerläuft.

So. Ich finde es stets ein bisschen anmassend, wenn jemand die Botschaft rüberbringt: Schreib doch über was anderes. Will ich auch nicht sagen.

Das ist nicht anmaßend. Werde ich auch versuchen.

Viele Grüße
Felpod

 

Hey @Felpod

Danke dir für die ausführliche Antwort.

Diese sollen eher der Diskussionsanregung (bei Interesse) als der Rechtfertigung meiner Wenigkeit dienen
Beides fände ich legitim. Gerne gehe ich auf das Angebot ein, der erste Kommentar ist ja häufig auch ein bisschen ein Stochern, weil man nicht weiss, wo die Intentionen des Autors, der Autorin gelegen haben.
Nach dem Durchlesen kommst Du zu dem Schluss, der Protagonist hätte sich richtig verhalten und alles ist glatt verlaufen. Da würde ich Dir widersprechen. Er hat sich - im Gegensatz zu seinem Bruder - um die medizinische Versorgung gekümmert, okay. Wenn man ehrlich ist, reicht das denn? Er sollte doch vielmehr versuchen, seine Mutter von ihrer Sucht wegzubringen.
Na ja, ich hab geschrieben, plus minus richtig verhalten. Das Minus wäre dann das, was du du im letzten Satz schreibst. Aber kann man das wirklich erwarten? Das ist mir schon auch durch den Kopf, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass der Text diese Frage konkret aufwirft. Und mit glatt meinte ich nicht das Ergebnis, sondern den Prozess.
Er sollte doch vielmehr versuchen, seine Mutter von ihrer Sucht wegzubringen. Das kann er allerdings nicht, weil seine Mutter eine erwachsene Frau ist und Erwachsene sich nur schwer ändern lassen, wenn es ihre Entscheidung ist, so zu leben. Er kann dann schlussendlich nur dabei zusehen und weiß, dass das nicht mehr lange gut gehen wird. Sein Bruder hat diesen Konflikt nicht. Daher ist sein Konflikt nicht der "Fluchtreflex", den er unterdrücken muss, wie Du ihn erwähnst, sondern seine Ohnmacht gegenüber der Situation.
Ja, Ohnmacht. Das finde ich gut, wenn diese das Zentrum des Textes darstellen soll, den Schwerpunkt. Ich würde das halt nicht einen inneren Konflikt nennen, weil für mich zu einem Konflikt mindestens zwei mögliche Handlungsweisen gehören, die in Frage kommen. Ohnmacht muss demgegenüber ertragen werden. Aber das ist Haare gespalten, insofern braucht ein Text für mich auch nicht unbedingt einen Konflikt. Das meinte ich mit der Formulierung: "Zeigen, wie es ist." Ich denke einfach, dass diese Ohnmacht noch intensiver herausgearbeitet werden könnte.
Recht komplexer innerer Konflikt für einen ersten Text, keine Frage. Der "Wegrennreflex" erschien mir allerdings zu flach und auch wenig realistisch in diesem Szenario.
Ja, das war keine gute Idee von mir.
Ich hatte beim Durcharbeiten den Verdacht, dass dies reißerisch und effekthascherisch wirkt. Hier hängt allerdings ein ziemlicher Rattenschwanz an psychischen Effekten eines Alkoholikers dran, die ich hier als bekannt voraus gesetzt habe.
Ne, das Element an sich fand ich nicht effekthascherisch, das finde ich gut. Mich hat nur die Gewichtung nicht so recht überzeugt. Daher auch der Vorschlag, den Text noch etwas zu erweitern. Der muss nicht auf die doppelte Menge wachsen, aber wenn wie gesagt der innere Zustand des Erzählers etwas mehr Raum bekäme, fände ich das gut. Manchmal braucht es da nur zwei, drei Sätze, um eine solche Umgewichtung zu gestalten. Aber ist natürlich nur eine Idee, ist ja nicht mein Text. :)

Danke dir für die Erläuterung bezüglich Spülmittel. Puh, ich weiss echt nicht, ob du das als Allgemeinwissen voraussetzen kannst, aber ich lebe auch in heiler Welt, was das anbelangt. Eine Möglichkeit wäre, dass du den Bruder nicht sagen lässt: "Hat sie wieder Spülmittel getrunken?", sondern "Hat sie wieder Spülmittel erwischt?" oder so etwas Ähnliches.

Ich denke, es lohnt sich, am Text zu arbeiten, da blitzt schon was durch, finde ich, und hätte ansonsten auch nicht so ausführlich kommentiert. Hab viel Schwung beim Überarbeiten und / oder für deine weiteren Texte!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Felpod

Ich habe deine Geschichte mehrmals durchgelesen, hielt mich aber mit meinem Kommentar zurück, da ich jemand mit mehr Erfahrung Vorrang lassen wollte.
Für mich ist die Welt der Literatur noch Neuland, also repräsentieren die
Kritikpunkte wohl eher meine persönliche Meinung.

Mich hat dein Schreibstil beim erstmaligen Durchlesen ein bisschen verwirrt, welche - wie von @Peeperkorn angemerkt - durch die ungewöhnliche Reihenfolge der Beschreibungen zustande kommt.
Erst als ich die Geschichte das zweite Mal durchgelesen habe, ergab alles plötzlich Sinn.

„Mach die scheiß Fenster zu, sonst hört uns noch einer! Die Nachbarn hier hören alles!“
Das ist eine ziemlich klare Ausdrucksweise, für jemanden, der vier Promille intus hat. Vielleicht kannst du diese Tatsache etwas glaubwürdiger vermitteln, indem du so schreibst, wie ein betrunkener spricht.

Das Heben seiner Augenbrauen verrät ihn immer, wenn er etwas zum ersten Mal sieht.
Sieht er sie wirklich zum ersten Mal betrunken? Später in der Geschichte erklärst du ja, dass es schon öfters vorgekommen ist.

Draußen auf der Terrasse schmiert das Blaulicht über mein Gesicht.
Hier bin ich nicht sicher, ob man das so ausdrücken kann. Kann Licht wirklich "schmieren"? Ich denke, ein anderes Verb würde da besser passen.

Bei mir: Wie lange noch? Bei ihr: Bis du die da eines Tages nicht mehr rufen kannst.
Ich weiss leider bis jetzt noch nicht genau, was du damit sagen willst. Sind das die Gedanken des Protas, oder die Gedanken der Grossmutter und des Protas?
Eine andere Schreibweise würde da wahrscheinlicher mehr Sinn machen.

Manchmal hat man dieses Glühen hinter den Augen, das nicht verschwinden will. Man muss dann eine Faust ballen und solange pressen, bis die Fingernägel in die Haut schneiden. Anschließend tief atmen und schlucken. Wenn es unten im Magen ist und mein linkes Augenlid zuckt, ist es verschwunden.
Ich finde, du hast deine Geschichte super beendet. Hier konnte ich eine Nähe zum Protagonisten spüren, sowie ein gewisses Mass an Mitleid und Verzweiflung.

Was ich im Allgemeinen schade finde, ist, dass die Beschreibung der Dialoge ein bisschen knapp ausgefallen ist. Wie wird es gesagt und was denkt sich der Prota dabei?
Für mich ist das ein wenig trocken angekommen. Aber das muss nicht unbedingt schlecht sein. So lässt du dem Leser auch eine gewisse Freiheit.

Ich habe deine Geschichte gerne gelesen. Obwohl es ein schwieriges Thema ist, hast du eine traurige und düstere Atmosphäre geschaffen, die mich am Ende doch ein wenig erreicht hat.

Gruss
Craooo

 

Hallo Felpod,
wurde ja nun schon alles ausführlich interpretiert und ich will mich auch nicht lange aufhalten. Ich lese gerne neue Texte, die "ungeschminkt" und "roh" daherkommen, noch nicht durch Grammatik und Ausdrucksform etc. glattgebügelt sind. Natürlich ist das Thema ausgelutscht, aber eben nicht von Dir - es wird nicht schwächer, auch wenn es schon von allen Seiten beleuchtet wurde - es trägt Deine "Handschrift", Deine Art, sich auszudrücken und ich finde, Du machst das schon ganz gut - zumindest hab ich´s gern gelesen und mach weiter so.
Beste Grüße
Detlev

 

Hallo @craooo,

Sieht er sie wirklich zum ersten Mal betrunken? Später in der Geschichte erklärst du ja, dass es schon öfters vorgekommen ist.
Sollte in diesem Szenario tatsächlich so sein. Er wusste von dem Problem, mied aber Kontakt zu seiner Mutter. Bei Alkoholsucht wird immer versucht, das Problem klein zu halten und es existieren Abstufungen davon. Man sagt gerne, "sie trinkt halt mal einen, aber das ist noch nicht gefährlich". Insofern hat er seine Mutter schon betrunken gesehen, aber nicht diesen Pegel. Seine Aussage, dass er lediglich daran interessiert ist, dass seine Frau und Kinder nichts davon mitbekommen sollen, passt hierzu. Allerdings wirkt das von außen recht unglaubwürdig.

Das ist eine ziemlich klare Ausdrucksweise, für jemanden, der vier Promille intus hat. Vielleicht kannst du diese Tatsache etwas glaubwürdiger vermitteln, indem du so schreibst, wie ein betrunkener spricht.

Ich hatte darüber nachgedacht, allerdings schien mir das zu "comic-haft". Heißt aber nicht, dass das zwangsläufig immer so sein muss. Sachlich ist das natürlich richtig und wirkt hier schief. Die Ausdrucksfähigkeit muss bei diesem Pegel abfallen.

Bei mir: Wie lange noch? Bei ihr: Bis du die da eines Tages nicht mehr rufen kannst.
Ich weiss leider bis jetzt noch nicht genau, was du damit sagen willst. Sind das die Gedanken des Protas, oder die Gedanken der Grossmutter und des Protas?
Eine andere Schreibweise würde da wahrscheinlicher mehr Sinn machen.

Die Sanitäter schieben seine Mutter hier auf einer Trage an ihm vorbei. Er hält Blickkontakt und interpretiert ihren Augenausdruck. Zusammen mit der vorherigen Sätzen denke ich allerdings schon, dass das insgesamt funktioniert. Es ist ja allgemein üblich, direkte Gedankengänge/innere Monologe kursiv zu formatieren, ich sehe das zumindestens in Roman sehr häufig.
Aber kann man das wirklich erwarten?
Bei einer fremden Person wahrscheinlich nicht, da hast Du recht. Bei der eigenen Mutter... sollte einem schon mal durch den Kopf gehen. Alkoholismus führt ja zwangsläufig zu einem früheren und qualvollem Ableben. Man wird sich spätestens dann fragen, ob man wirklich alles getan hat, um das mit seinem Gewissen zu vereinbaren.
Ich würde das halt nicht einen inneren Konflikt nennen, weil für mich zu einem Konflikt mindestens zwei mögliche Handlungsweisen gehören, die in Frage kommen.
Interessanter Punkt, von dem Winkel her hatte ich das noch gar nicht betrachtet.

@Detlev: Besten Dank für deine Einschätzung und Ermutigung.

Die orthografischen Dinge habe ich hier im Front End schon einmal geändert. Den Rest würde ich über und zwischen den Feiertagen einmal überarbeiten. Vielleicht wird hier doch ein halber Schuh daraus.

Gruß
Felpod

 

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