Hey @Felpod
Du hast einen etwas ungünstigen Zeitpunkt für das Posten deiner ersten Geschichte erwischt. Zwar sind im Forum gerade so viele Leute aktiv wie schon lange nicht mehr, was allerdings an der Challenge liegt, die gerade ausgetragen wird. Ich hoffe, es trudelt hier doch noch der eine oder andere Kommentar ein, auch weil du zu den wenigen Neulingen im Forum gehörst, die zuerst fremde Geschichten kommentieren und danach erst eine eigene einstellen.
Ich gehe dreimal durch den Text, zunächst mit Blick auf die Orthografie, danach mit Schwerpunkt Stil und Erzähltechnik und schliesslich mit einem Augenmerk auf die inhaltlichen Aspekte.
Erster Durchgang
Essigessenz
Sie liegt bäuchlings auf dem Glastisch, wie ein Käfer auf einem Stein, dessen Beine den Boden nicht mehr berühren.
Grammatikalisch bezieht sich "dessen" auf "Stein".
Die Glieder zucken nervös, als wolle sie mit dem Tisch davon schwimmen.
Auch wenn viele Schreibende hier den Konj. I verwenden, ist bei Vergleichen m.E. nur der Konjunktiv II korrekt: "als wollte sie ..." (es ist ja irreal)
im Licht. Das müssen etwa vier Promille sein.
Keine Abstände zwischen den Absätzen, bzw. den eingeschobenen gesprochenen Sätzen. Es genügt, eine neue Zeile zu beginnen, dann zerfasert der Text optisch nicht.
Früher galt die Regel, dass man Zahlen bis zwölf ausschreiben soll, mittlerweile gilt das meines Wissens auch für zweisilbige Zahlen. Ich würde auch z.B. dreiunddreissig ausschreiben, es sieht einfach schöner aus, wenn da keine Ziffern im Text rumstehen.
„Einen Scheiß wirst Du! Wenn Du das machst, sind wir geschiedene Leute!“, sie dröhnt ihre Pfütze an.
Das geht nicht. Entweder: "geschiedene Leute!", dröhnt sie ihre Pfütze an" oder "geschiedene Leute!" Sie dröhnt ihre Pfütze an. (Das zweite macht hier aber keinen Sinn)
„Wieviel ist das?“, sein Kinn zuckt in ihre Richtung.
"Wieviel ist das?" Sein Kinn ... (Hier geht die andere Variante nicht, weil ein Kinn nicht sprechen kann).
Wenn ich ordentlich geschippt hatte, dürfte ich mit Vater und Onkel Manfred ein Karamalz trinken
durfte
Sie war müde, müsse sich oft ausruhen.
musste
Zweiter Durchgang
Ich sehe sie, als ich um die Ecke biege. Im Wohnzimmer ist es dunkel, nur fahles Licht kriecht durch die Ritzen der Jalousien. In meine Nase rauscht der Geruch von Essig Essenz, die immer so scharf in der Nase zieht, dass man sich fragt, wer das aushält und isst. Sie liegt bäuchlings auf dem Glastisch, wie ein Käfer auf einem Stein, dessen Beine den Boden nicht mehr berühren.
Das wirkt auf mich unordentlich, sodass es mir schwerfällt, die Perspektive des Erzählers zu übernehmen. Er biegt um die Ecke und sieht die Mutter. Danach stellt er fest, dass es im Zimmer dunkel ist. Danach riecht er die Essigessenz und erst dann richtet sich seine Aufmerksamkeit auf das, was er sieht. Das erscheint mit nicht so organisch erzählt. Ich würde eher so beginnen: "Fahles Licht kriecht durch ... Der Geruch von Essigessenz ... Als ich mich zum Fenster drehe, sehe ich sie.
Das "Im Zimmer ist es dunkel" würde ich streichen, das wird durch das "nur fahles Licht" impliziert.
„Mach die scheiß Fenster zu, sonst hört uns noch einer! Die Nachbarn hier hören alles!“
Vier Promille und zwei elaborierte Erklärungen! Ich würde das kürzen: "Mach die Fenster zu." Den Rest kann man sich denken oder sich ausmalen, es ist ja nicht so wichtig, weshalb genau sie das will. Beziehungsweise wird das weiter unten noch angesprochen.
Das müssen etwa vier Promille sein. Normalos kommen da gar nicht hin.
Diese Einordnung ist m.E. unnötig. Ich kenne das gut. Schreibt man was Ungewöhnliches ("Vier Promille, ist man da nicht tot?") tendiert man dazu, das einzuordnen oder zu erklären. Meistens ist es aber besser, darauf zu vertrauen, dass einem die Leserschaft vertraut.
Als Großvater Großmutter wegen einer anderen verlassen hatte, Kinder mit ihr hatte und sie nicht mehr besuchte. Als alle Frauen neidisch auf sie waren, weil sie so schön war.
bei den vielen "sie" ist es nicht einfach, die richtigen Zurodnungen zu finden, beim ersten könnte z.B. die Grossmutter, die Mutter und auch die "andere" gemeint sein.
Ich muss etwas empfinden, etwas anstellen: Schreien oder weinen, sie anklagen oder mir die Schuld geben. Doch ich tue gar nichts von alledem.
Besser: "Ich sollte"
Ich wische über ihren Mund, gehe neben ihr in die Hocke und rüttele sachte an ihrer Schulter.
Die Reihenfolge lässt mich stutzen. Weshalb nicht neben ihr in die Hocke gehen und dann über den Mund wischen? Scheint mir organischer zu sein.
„Ich muss den Notarzt rufen, das geht so nicht mehr“, sage ich.
Würde ich streichen, generell würde ich die Dialoge knapper halten, weniger erklären.
„Einen Scheiß wirst Du! Wenn Du das machst, sind wir geschiedene Leute!“, sie dröhnt ihre Pfütze an.
Seltsame Formulierung gegenüber einem Sohn / einer Tochter (eher: der Sohn, weil die Mutter sagt, dass der Vater ihm eine scheuern würde). Wiederum zu elaboriert und erklärend.
Es ist der Bluttest im Krankenhaus. Davor haben sie alle Angst. Dann wissen es alle. Dann müssen sie selbst es auch wissen.
Hier kannst du auch streichen, entweder den letzten oder sogar die letzten beiden. Lass das die Lesenden selbst denken. Dann hättest du auch die Doppelung von "alle" weg.
Ich kann das einfach so sagen, mit einer Hand in der Hosentasche.
M.E. der beste Satz des Textes. Da schwingt Info mit, ohne dass sie ausbuchstabiert wird. Hier komme ich dem Erzähler näher.
Das Heben seiner Augenbrauen verrät ihn immer, wenn er etwas zum ersten Mal sieht.
Das hat mich stutzig gemacht. Sieht der Bruder seine Mutter wirklich zum ersten Mal betrunken?
Er blättert in der Gartenzeitschrift. Zurzeit kann man sich an Herbstastern, Fetthennen und Goldmarien erfreuen. Fetthennen sind gegenüber Staunässe sehr empfindlich, brauchen aber Sonne.
Perspektivenbruch. Solange der Erzähler nicht selbst in der Gartenzeitschrift blättert, kann er nicht wissen, was sein Bruder da liest.
„Glaube ich nicht. Die Kotze schmiert nicht und ist weiß, das Spülmittel ist grün. Ich habe den Notarzt gerufen.“
Auch hier würde ich verknappen. "Glaube nicht. Die Kotze ist weiß."
„Das wird dem alten Herrn nicht gefallen. Dann reden die Leute. Wie beim letzten Mal.“
Ebenfalls weg, achte darauf, dass sich deine Protagonisten nicht gegenseitig Dinge erklären, die sie bereits wissen.
„Gibt Ärger, das weiß ich. Deine Sache. Ich will nicht, dass meine Familie das mitkriegt. Ich bin raus.“
Auch hier. Finde das auch seltsam, dass er zum Bruder "meine Familie" sagt. "Ich will nicht, dass Céline das mitkriegt" Ob das dann die Frau oder die Tochter ist, kann m.E. offen bleiben, das Motiv des Bruders wird dennoch klar.
Draußen auf der Terrasse schmiert das Blaulicht über mein Gesicht.
Auffälliger Gebrauch, an sich ganz interessant. Unglücklich ist, dass du das Verb oben bereits benutzt hast (die Kotze schmiert nicht). Passiert mir ständig, dass ich Wörter unbewusst wiederhole, da muss man gezielt dagegen angehen.
Vom Garten aus sah ich, dass die Rollläden im Schlafzimmer den ganzen Samstag unten waren.
Das fand ich seltsam. Er wohnte ja selbst dort, nehme ich an. Wenn seine Mutter den ganzen Tag drinnen ist, dann stellt er das ja eher nicht dadurch fest, dass er Rückschlüsse aus der Stellung der Rollläden zieht, oder?
Ich zünde mir eine Kippe an und zeige mit meinem Kopf auf das Haus.
mit dem Kopf. Ich weiss aber auch nicht, ob man mit dem Kopf zeigen kann. Ich würde vielleicht "weise mit dem Kopf in Richtung Haus" oder "drehe den Kopf zum Haus" schreiben.
Manchmal hat man dieses Glühen hinter den Augen, das nicht verschwinden will. Man muss dann eine Faust ballen und solange pressen, bis die Fingernägel in die Haut schneiden. Anschließend tief atmen und schlucken. Wenn es unten im Magen ist und mein linkes Augenlid zuckt, ist es verschwunden.
Zweitbeste Stelle. Der Wechsel von der allgemeinen Perspektive zu "meinem" Augenlid hat mich allerdings irritiert. Aber vielleicht ist das gut, ich weiss es nicht. Vom Allgemeinen hin zum konkreten Erzähler, ja kann man machen.
Sie erscheint kurz etwas ruhiger, nachdem ich ihr meine Hand auf ihre Schulter lege.
die
Dritter Durchgang
Zunächst zwei Details:
Essig Essenz, die immer so scharf in der Nase zieht, dass man sich fragt, wer das aushält und isst.
Hä? Essigessenz ist ja flüssig und trinken tut die auch niemand.
„Wieder Spülmittel gesoffen wie beim letzten Mal?“
Meine kleine Recherche (Glücklicherweise kenne ich mich da nicht aus) hat ergeben, dass es das gibt, ich verstehe aber nicht, warum man das tut. Da ist ja nur sehr wenig Alkohol drin, oder?
So. Ich finde es stets ein bisschen anmassend, wenn jemand die Botschaft rüberbringt: Schreib doch über was anderes. Will ich auch nicht sagen. Aber "Kind, das dem betrunkenen Elternteil die Kotze vom Mund wischt" hat meiner Wahrnehmung nach dem Jugendlichen, der auf der Klippe steht und nicht weiss, ob er springen soll, inzwischen den Rang abgelaufen, was die Beliebtheit von Themen anbelangt. Ich formuliere das bewusst zynisch, auch um den Gap zu verdeutlichen, der zwischen der Dramatik der Realität und der Dramatik einer Geschichte liegt. Was in der Wirklichkeit schrecklich ist, kann in Geschichten schrecklich langweilen, einfach, weil es schon so oft erzählt wurde.
Das bedeutet nicht, dass man darüber nicht schreiben darf, aber die Anforderungen sind m.E. nicht gerade gering, wenn man es tut.
Ich finde gute Ansätze und Elemente in deinem Erzählen, doch der Text hat mich nicht so recht bewegen können. Das liegt einerseits an den etwas zu erklärenden Passagen (siehe oben), andererseits aber auch am Plot. Der verläuft mir zu reibungslos, der Protagonist verhält sich plus minus korrekt. Spannender wäre z.B., mitzuerleben, wie er gegen die Regung ankämpft, das Zimmer einfach wieder zu verlassen. Vielleicht willst du aber gar nicht so einen inneren Konflikt erzählen, sondern einfach nur, wie es ist. Dafür bleibt mir der Erzähler aber zu weit weg, ich spüre den zu wenig. Die beiden Passagen, die ich zitiert und als die besten bezeichnet habe, sind m.E. deshalb gelungen, weil ich hier näher an den Erzähler herankomme. Mich interessiert nicht die Kotze, das Sozialpornografische, sondern was in einem Menschen vorgeht, der sich in dieser Situation befindet. Das muss nicht bedeuten, dass du seitenweise über dessen Gefühle schreibst. Das kann auch heissen, dass du dem Erzähler einen speziellen Blick verleihst, der Erzähler sieht, hört und riecht Details, die man als Leser vielleicht nicht erwarten würde, Details, die abseits des Ekligen und Grausigen angesiedelt sind, die vielleicht zeigen, wie die Beziehung zwischen den beiden früher gewesen ist, weshalb er sie noch immer liebt, und sich um sie sorgt, nebst dem Verantwortungsgefühl, das er offenbar besitzt. Halt noch mehr Tiefe. Insofern ist der Text wohl auch einfach zu kurz für meinen Geschmack. Dadurch wirken die Effekte (vier Promille, Kotze, Spülmittel, Blaulichter) zu grell und das Subtile ("Ich kann das einfach so sagen, mit einer Hand in der Hosentasche") kommt zu kurz. Was in meinen Augen für fast alle Texte gilt, gilt bei einem Text zu diesem Thema in besonderem Masse: Er kann nicht dadurch überzeugen, was erzählt wird, sondern nur dadurch, wie es erzählt wird.
Lieber Gruss
Peeperkorn