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Kaffeekranz in der Nußbaumstraße
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Kaffeekranz in der Nußbaumstraße
Paul Lapinzki kommt die Nußbaumstraße heruntergeschlendert. Er führt seinen Langhaardackel Sabine aus, aber das ist völlig unwichtig. Auch sein Name interessiert nicht. Nur, daß er, wie gewohnt, die Nußbaumstraße herunter kommt, ist von Bedeutung. Denn ganz am Ende dieser bedeutenden Straße in der Stadt, deren Name nicht so wichtig ist, befindet sich ein kleines Café, in dem Evchen und Talmundia sitzen, zwei ältere Frauen mit Hobbies und ohne Ehemann. Hier sitzen sie nun, wie jeden Sonnabend und rühren schweigend in ihren Kaffeetassen, bis Talmundia das Schweigen bricht und einen schmatzenden Schluck von dem heißen Gebräu kostet.
Nachdem sie die Tasse wieder vorsichtig abgesetzt hat, fragt sie ihr Gegenüber:" Und was gibt's Neues, Evalein?"
"Nichts" meint die Angesprochene niedergeschlagen, obwohl sie ja nichts dafür kann, daß in dem kleinen anonymen Städtchen, dessen Name nicht von Belang ist, überhaupt nichts passiert.
Jedenfalls aus ihrer Sicht nichts.
Das in der Nacht zuvor ein Rave am Standrand standfand, kann sie nicht wissen, im Gegensatz zu den etwa hundert Anwohnern, die in der Nähe des Discoschuppens wohnten und kein Auge zugetan haben.
Sie weiß auch nicht, daß man Ulla Knack gestern verhaftet hat, weil sie in der Wohnung fremder Leute eingedrungen war. Sie hatte sich wohl in der Tür geirrt und hatte, angesichts der vielen Fremden, die dort völlig legal ein Familienjubiläum begingen, spontan zum KO-Gas gegriffen und so eine zehnköpfige Familie außer Gefecht gesetzt. Sie konnte jedoch nicht verhindern, daß sich der 70-jährige Jubilar mit gewagtem Hechtsprung durch das Fenster rettete. Leider lag jenes im zweiten Stock, so daß erst die Nachbarn und später ein Krankenwagen alarmiert wurden. Die anrückende Polizei konnte die zu allem entschlossene Rentnerin am Ende überrumpeln, weil die Spraydose alle war und Ulla nicht rechtzeitig nach dem Elektroschockgerät greifen konnte. Sie sitzt nun in der Ausnüchterungszelle. Aber wie gesagt, das ist nebensächlich, denn davon weiß Evchen ja nix, schließlich war sie nicht dabei.
Auch Talmundia rührt nachdenklich im Gedächtnis, um eine unterhaltende Anekdote zum besten geben zu können. Aber sie weiß keine. Doch sie ist sich dessen nicht bewußt und grübelt weiter.
Hätte sie Albert Francesco gekannt, könnte sie etwas erzählen. Jener hätte vor einer Woche beinahe den Lottojackpot geknackt, wenn er, mit dem richtigen Lottoschein in der Tasche, nicht auf dem Weg zur Lottoannahmestelle ausgerutscht wäre und sich dabei das Bein gebrochen hätte. Worauf jedoch ist er ausgerutscht? Auf einer Bananenschale? Nein, es ist etwas anderes, schlimmeres, brauneres... Womit wir wieder bei Paul Lapinzki sind, der mit seinem Langhaardackel Sabine Gassi geht.
Das ist jedoch völlig unwichtig für diese Geschichte.
Denn die beiden ältern Damen wissen von alledem nichts, weil sie laufend im Café‚ sitzen und nachdenken, was sie im Verlaufe der letzten Woche alles erlebt haben. Evchen seufzt und bestellt beim Ober noch ein Kännchen Kaffee und einen Eisbecher.
Die Sache mit Lilo und Loni, den beiden Zwillingsschwester, die sich gar nicht ähnlich sehen, dafür aber ihre beiden Söhne laufend verwechseln, hatte sie schließlich gestern schon am Telefon erzählt.
Der Ober bringt den Kaffee und das Eis. Als Talmudia das Eis erblickt, erhellt sich ihre Miene und sie setzt ihre Tasse impulsiv auf den Tisch, wie es so gar nicht ihre Art ist.
"Vorgestern ist mir ja was ganz tolles passiert!" sprudelt es nur so aus ihr heraus.
"Ehrlich? Was denn?", einerseits ist Evchen glücklich, daß das Schweigen ein Ende hat, anderseits wurmt es sie ein wenig, daß sie es nicht war, die es brach.
"Also paß auf!", beginnt Talmundia vielversprechend. "Kennst Du das neue Master-Kaufhaus?"
"Das in der Marschnerstraße?" fragt Evchen, um nix falsch zu verstehen.
"Nein", widerspricht ihre Freundin. "Das an der Ecke von der Petrusgasse und dem Veilchenweg."
"Dort ist doch aber nur der Schuhladen von Pescowitz."
"Nein", beharrt Talmundia bockig, "dort ist das Master. War ich vorgestern dort, oder Du?"
"Und wo ist dann der Laden vom Peskowitz?"
"In der Fischergasse", bemerkt ihr Gegenüber herablassend.
"Ja und was war also im Schuhladen vom Pescowitz. Erzähl doch mal!" fordert Eva, die sich erinnert, daß es um etwas anderes geht, als Straßennamen.
"Der Pescowitz hat damit nichts zu tun" erklärt sie Talmundia entschieden.
"Wieso nicht?" will Evchen wissen.
"Weil der sich in der Fischergasse befindet."
"Warum hast du dann mit Pescowitz angefangen?" fragt Eva ärgerlich.
"Wieso ich?", stellt die andere klar. "Du hast als erste vom Pescowitz in der Marschnerstraße angefangen, als ich über das Masters in der Petrusgasse reden wollte."
"Ich denke der Pescowitz ist in der Fischergasse und das Masters am Veilchenweg."
"Ja äh", Talmundia gerät ein wenig durcheinander "Genau so ist es auch..."
"Nun erzähl doch! Spann' mich nicht solange auf die Folter!" bittet Evalein mit pochendem Herzen, trinkt hastig einen Schluck vom fünften Kaffee und verbrüht sich die Zungenspitze.
"Nein!", überhört Talmundia das Flehen ihrer Freundin. "Erst müssen wir klären, wo das Marschner-Kaufhaus liegt."
"Na dann klär das!" meint Eva und winkt hektisch nach dem Ober. „Aber schnell, ich halt die Spannung nicht mehr aus.“
Wie sie solche Nachmittage liebt. Da fällt der Alltagstrott so richtig von einem ab, das Herz klappert, als sei man frisch verliebt und man erfährt spannende Dinge.
Der herbeigerufene Ober erklärt auf Anfrage, daß es kein Marschner-Kaufhaus gibt, sondern nur das Master-Kaufhaus, das ein gewisser Pescowitz vor einem Jahr übernommen hat. Neben einer Filiale am Hummelburgweg, verfüge er auch noch über eine Zweigstelle in der Fischergasse, die vorher Petrusgasse hieß. Somit verschwand also die Marschnerstraße, die seit neuestem Petrusstraße heißt, die damit sozusagen verlegt und verbreitert wurde. Allerdings ist Marschner noch nicht aus dem Spiel, da sich ein Bürgerinitiative mit dem Namen „Kulturgut Marschner“ gegründet hat, um das Andenken an den Dichter gerichtlich einzuklagen.
Den beiden Frauen schwimmt es vor Augen. Nachdem sich der Ober mit zufriedener Miene verzogen hat, fragt Eva mit lallender Stimme und glasigem Blick.
"Was war denn nun dort?"
"Wo?"
"Egal", flüstert Evchen. "Ich will bloß wissen, was passiert ist."
Talmundia nimmt noch einen Hieb aus der Tasse und treibt damit nicht nur ihren eigenen Blutdruck in die Höhe.
"Also im Masters oder war´s davor...auf jeden Fall vorgestern...du wirst es nicht glauben, meine Liebe...moment...also... ich... ich hab's vergessen", sie läßt die Arme kraftlos in den Schoß sinken.
So kam es, daß Eva mit einem Kreislaufkollaps ins Krankenhaus mußte und tags darauf sich die Leute im Café in der Nußbaumstraße etwas Interessantes zu erzählen hatten, über jene zwei sonderbaren Damen, die ihren Kaffee immer noch nicht bezahlt hatten.
Die Bezahlung der Rechnung könnte auch noch eine Weile auf sich warten lassen, denn zwei Tage später erschien Talmundia bei Eva im Krankenhaus, weil ihr wieder eingefallen war, was so weltbewegendes vor dem Marschner-Kaufhaus passierte.
"Ich hab' dort einen Eisverkäufer gesehen" erzählte sie der atemlosen Eva, nachdem sie entgegen der Warnung der Ärzte die Spannung ins unermeßliche gesteigert hatte.
"Warum ist denn das so weltbewegend?", kreischte Eva hysterisch und fingerte nervös an der Sauerstoffmaske. "Und sag´ mir auch, warum der Ort so wichtig ist."
"Na hast du dort schon mal einen Eisverkäufer gesehen?" fragte Talmundia mit einem unnachahmlichen Augenaufschlag.
Evchen kollabierte an Ort und Stelle. Talmundia bekam Hausverbot, so daß sich Evchen im Krankenhaus nach einer alternativen Beschäftigung umschauen mußte.
Und scheinbar hat sie bereits Ersatz gefunden. Ein Herr mit italienischem Akzent und verbundenem Bein erzählt beim Essen immer wieder die gleiche Geschichte, wie er beinahe Millionär geworden wäre, manchmal wird er von einem anderen Herren mit Kopfverband und Stützkorsett unterbrochen, der zu berichten weiß, wie er an seinem Geburtstag von einem Terrorkommando angegriffen wurde.
Nun, Evchen bekommt zwar keinen Kaffee mehr, aber hier im Krankenhaus, gibt es genug Dinge, die ihr Herz in Schwung halten...