Lieber 11. September
Lieber 11. September,
Warum?
Ich bin jetzt zehn Jahre alt und verstehe das nicht. Als an deinem Morgen die beiden Flugzeuge in dieses Hochhaus stürzten, war ich gerade in der Schule; ich glaube, wir hatten Sozialkunde, Welt-Handels-Organisation oder so. Ich habe da gar nichts mitgekriegt, aber als ich zu Hause ankam, waren alle ganz entsetzt. Papi saß vor dem Fernseher und Mami hing am Telefon. Meine Oma sagte, es würde sie alles an den zweiten Weltkrieg erinnern. Sie wohnte in Dresden damals. Die Straßen seien damals auch so weiß und grau gewesen - wegen dem Staub, sagte Oma. Mami erzählt am Telefon irgendwas von 5000 Toten. Das ist viel, finde ich. Ich erinnere mich an die Beerdigung von Onkel Heinz letzten Monat. Das war so traurig und wir waren vielleicht dreißig Menschen, alle so traurig, und es war meine Tante, die so sehr geheult hat, ich erinnere mich noch. Es war kein sehr schönes Erlebnis, keines, daß man zweimal erleben will, denke ich. Und das jetzt 5000 mal. Ich weiß gar nicht, was du dir dabei gedacht hast, 11. September.
Es war mein Geburtstag! An meinem Geburtstag mußt du sowas passieren lassen, sowas, wo man noch in Jahren drüber reden wird. Du wirst immer mit Terror in Verbindung gebracht werden, sagt mein Papa. Was soll ich denn sagen, wenn man mich nach meinem Geburtstag fragen wird? Wann bist du denn zehn geworden? Am 11. September 2001! Ah, am Tag der Terroranschläge. Toll. Und jetzt wirst du auch noch Wort des Jahres! Ich habe am Wort des Jahres Geburtstag. Warum kommst du jetzt so groß raus? Sterben nicht jeden Tag tausende Menschen? Ich habe mal eine Sendung gesehen über so afrikanische Stämme, die sich umbringen. In...hmm...im Partnerland von Rheinland-Pfalz, ich weiß den Namen gar nicht mehr. Siehst du, den Namen hab ich vergessen. Deinen und den von New York wird niemand vergessen, obwohl in dem Land in Afrika viel mehr Menschen gestorben sind! Ich finde dich gar nicht so besonders. Alle sind so entsetzt, aber es ist doch gar nichts besonderes. Im Sachunterricht in der Grundschule stand im Buch, daß jeden Tage ganz viele tausend Menschen an Hunger sterben. Und das ist auch nicht normal. Das ist manchmal auch Terror, wenn andere Menschen den Hungernden das Essen wegnehmen, oder? Mein Papa flucht auch immer über die Scheiß Palästinenser, die ihren Nachbarn ständig die Menschen umbringen, mit Bomben und so. Oder denke mal an die Leute, die, dort wo es kalt ist, erfrieren müssen, in Russland oder so. Was ist denn dann so besonders an dir, daß du meinen Geburtstag kaputt machen mußt?
Am Tag nach dir wollte ich in der Schule Geburtstag feiern, so mit Kuchen und so. Aber die anderen wollten nicht, weil ihre Eltern gesagt haben, es seien jetzt Tage der Trauer. Und mein Klassenlehrer wollte, daß wir aufstehen und eine Minute lang schweigen. Er hat uns zum Trauern gezwungen. Dabei war ich gar nicht traurig. Ich kannte die Menschen doch gar nicht! Ich werde doch auch nicht zum Trauern gezwungen, wenn die Menschen jeden Tag in Afrika verhungern. Wieso dann an meinem Geburtstag? Ich verstehe das nicht.
Mein Geschichtslehrer hat gesagt, die Amis würden jetzt auch so viele Menschen umbringen wollen, wie sie an dir verloren haben. Und im Fernseher sagen sie, daß die Amis Bomben schmeißen würden und Unschuldige treffen würden. Der Lehrer hat gesagt, daß wäre der Anti-Terror-Krieg. Warum ist das nicht Wort des Jahres? Weißt du was ich glaube? Ich glaube, daß das noch mehr Beerdigungen geben wird!
Lieber 11. September,
Danke!
Ich bin jetzt zehn Jahre alt und überglücklich. Als an deinem Morgen unsere beiden Flugzeuge in dieses Hochhaus des Kapitalismus stürzten, war ich gerade in der Schule; wir hatten Religion, der heilige Krieg war unser Thema! Ich habe alles im Radio verfolgen können, und als ich zu Hause ankam, waren alle ganz euphorisch. Papi saß vor dem Radio. Mein Opa sagte, so etwas hätte es noch nie gegeben. Endlich hätte der Islam einen Sieg über den Kapitalismus errungen. Es sei endlich Zeit gewesen, den Amerikanern ihre Hochnäsigkeit heimzuzahlen. Im Radio sagen sie was von 5000 Toten. Das ist viel, finde ich. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem mein bester Freund auf eine Mine getreten ist. Er war sofort tot. Die Mine sei aus Amerika, hat mein Papa gesagt. Die Scheiß Amerikaner hätten sie an Afghanen verkauft, um Geld zu verdienen, wie sie das immer tun. Das war so gemein und wir waren die besten Freunde gewesen und es war meine Tante, die so sehr geheult hat, ich erinnere mich noch. Es war ein einschneidendes Erlebnis für mich, daß man nicht zweimal erleben will, denke ich. Und das haben wir den Amerikanern jetzt endlich klar gemacht. Naja, so gesehen ist 5000 doch zu wenig. Es gibt hier mehr Amerikanische Minen. Viel mehr. Ich bin so froh, und so stolz, 11. September.
Es war mein Geburtstag! Meine Freunde beneiden mich alle um dich. Voller Stolz kann ich jetzt immer erzählen, daß ich am Tag des Heiligen Krieges Geburtstag habe! Man wird da jetzt immer drüber reden, sagt mein Papa. Und man wird dich immer hoch in Ehren halten! Was werde ich jetzt sagen, wenn man mich nach meinem Geburtstag fragen wird? Wann bist du denn zehn geworden? Am 11. September 2001! Ah, am Tag des Heiligen Krieges. Das macht mich glücklich. Es ist ja schon etwas besonderes, wenn die Gerechtigkeit mal siegt, und nicht der Kapitalismus, sagt mein Lehrer. Deshalb haben wir auch ganz groß gefeiert. Nicht nur zu Hause, sondern wir sind auch auf die Straße raus. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was da los war. Alle waren glücklich und haben gefeiert. Den ganzen Tag lang! Jetzt wird alles besser werden. Scheiß Kapitalismus. Mein Papa flucht auch immer über die Scheiß Israelis, die ihren Nachbarn das Wasser weggenommen haben und es nicht hergeben wollen. Die Kapitalisten würden das auch noch unterstützen, sagt er. Und das würden die immer so machen. Überall mischen die sich ein, da ist es doch gut, wenn die mal merken, wie sich die Nachbarn von den Israelis fühlen. Und die anderen Länder unserer Glaubensbrüder, wo die Kapitalisten immer Bomben werfen, weil sie das Öl wollen. Das geschieht ihnen ganz recht jetzt! Weißt du was ich hoffe? Ich hoffe, daß es noch mehr Tote geben wird!
Lieber 11. September
Rache!
Ich bin jetzt zehn Jahre alt, aber eines weiß ich schon ganz sicher: Die Terroristen werden sterben! Als an deinem Morgen diese Feiglinge sich in unser World Trade Center stürzten, habe ich meinen Papa verloren. Er war da Banker!
Es war mein Geburtstag! Das ganze Leben lang werde ich daran denken, daß mein Papa an meinem zehnten Geburtstag gestorben ist. Wegen diesen bastards! Er wollte mir was ganz tolles schenken hat er gesagt. Ich hasse dich! Weißt du was ich machen werde? Ich werde mich rächen und alle diese Islam-Schweine umbringen!
[Beitrag editiert von: falk am 16.12.2001 um 22:45]